Die Kinder fressen die islamische Revolution
Der Protest im Iran geht in eine neue Phase, doch ein Regimewechsel ist erst einmal nicht in Sicht. Was zur Revolution fehlt.
Die Berichte über mutige Frauen, die ihre Kopftücher verbrennen, und sich den Handlangern des iranischen Regimes entgegen stellen, sind weniger geworden. Stattdessen dominieren nun die Todesurteile, die Folter in den iranischen Gefängnissen die Berichte.
Die iranische Regierung, der Ajatollah, die religiös geprägten Gremien, die dafür sorgen sollen, dass sich an diesem Machtgefüge nie etwas ändert, scheinen derweil fest im Sattel zu sitzen.
Die "Revolution", die in westlichen sozialen Netzwerken in den vergangenen Monaten immer wieder in den Protesten erkannt wurde, ist ausgeblieben. Der Sturz des Regimes, der nach Ansicht der Kommentatoren, unmittelbar bevorstand; er kam bis heute nicht.
Es ist nicht leicht, die Lage im Land einzuschätzen. Denn als westlicher Journalist kann man nicht einfach in den Flieger steigen und sich die Dinge anschauen, so wie wir das heute gewohnt sind, wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert.
Falls man überhaupt hinein gelassen werden würde, hätte man einen Aufpasser neben sich, unterläge strikter Zensur, bekäme nur das zu sehen, was man sehen soll.
Die staatlichen Fernsehsender und Nachrichtenagenturen beschreiben täglich ein Land, in dem die Menschen voll und ganz hinter der Islamischen Revolution und deren Regime stehen und diejenigen, die auf die Straße gehen, um für ihre Freiheit zu demonstrieren, Aufrührer, sind "Terroristen", gegen die man hart vorgehen müsse.
Knallharte Kontraste
Es gab eine Zeit, unter Präsident Hassan Ruhani, dem Vorgänger des aktuellen Regierungschefs Ebrahim Raisi, in der man den Iran zumindest ein kleines bisschen frei bereisen konnte.
Wer sich dabei aus den Städten hinaus aufs Land und dann in die Peripherie an der Grenze zum Irak, zu Pakistan und Afghanistan begab, bekam knallharte Kontraste zu sehen: Auf der einen Seite eine westlich denkende Jugend in den Städten, die sich durch die Vorschriften der Islamischen Republik eingeschränkt fühlt.
Auf der anderen Seite eine extrem konservative Landbevölkerung, die voll und ganz hinter den Werten der Islamischen Revolution zu stehen schien, hinter dem Ajatollah. Es war auch vor allem diese Gesellschaftsgruppe, die 2021 Ebrahim Raisi zum Präsidenten wählte, einen ehemaligen Richter und Staatsanwalt, der in den 1980er-Jahren gut 5.000 Regime-Gegner zum Tode verurteilt haben soll.
Radikaler Konservatismus
Sein radikaler Konservatismus, seine erklärte Bereitschaft, den Fortbestand der Islamischen Republik mit extremer Gewalt durchzusetzen, brachte ihm, das sind die offiziellen Zahlen, 72,35 Prozent der Wählerstimmen ein, allerdings, und das muss man hier stets mitbetrachten, bei einer Wahlbeteiligung von nur 48,48 Prozent.
Weil der Wächterrat, der alle Kandidaturen genehmigen muss, keine ernstzunehmenden Gegenkandidaten durchließ, hatte es zuvor Aufrufe zum Wahlboykott gegeben. Unter dem Strich erhielt Raisi also nur 35,08 Prozent aller registrierten Wahlberechtigten; die offiziellen Zahlen sollte man mit einer ordentlichen Portion Skepsis betrachten.
Dennoch sind sie ein guter Indikator dafür, wie groß die Unterstützung für die Islamische Revolution in ihrer Reinform 2021 tatsächlich noch war.
Ein starres System und niederschwellige Formen des Protests
Seitdem hat sich aber einiges geändert. Es herrschen Inflation, zunehmende Armut und extreme Versorgungsprobleme außerhalb der Städte. Raisi und seine Regierung haben dem allen nichts entgegen zu setzen; es fehlt schlicht die Expertise.
Und die Bereitschaft zur Reform, denn die Strukturen der Verwaltung sind extrem starr, die Abläufe unglaubliche langsam. Die Massenproteste indes scheinen weniger geworden zu sein, der Protest allerdings nicht: Große Aufmärsche wurden durch niederschwellige Formen des Protests ersetzt, die um ein Vielfaches schwerer zu bekämpfen sind.
So gibt es eine Vielzahl von Berichten, die darauf hindeuten, dass sich Frauen in Teheran nun in großer Zahl ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zeigen. Kontakte im Land legen zudem Wert darauf, in Telefon- und Online-Gesprächen ihre Namen zu nennen, über Politik zu sprechen, obwohl immer die Gefahr besteht, dass die Gespräche abgehört werden.
Der Tenor stets: Man tue etwas Selbstverständliches, nehme ein Recht wahr, so wie man das auch zu Hause im Familienkreis mache, und wenn man dafür eingesperrt werde, dann sei das eben so.
In solchen Gesprächen wird aber auch immer wieder deutlich, was sich schon zu Beginn dieser Proteste abzeichnete: Dass diese Revolution, an diesem Punkt nicht umsetzbar ist.
Was zur Revolution fehlt
Denn es mangelt schlicht an Personal, Strukturen und Visionen. Die Protestbewegung selbst ist weitgehend unorganisiert. Konzepte für einen politischen Neuanfang gibt es nicht. Der allererste Blick fiele deshalb auf die aktuelle Führung: Sie könnte, in der Theorie, einfach auf die Forderungen eingehen, die Kopftuch-Pflicht abschaffen und auch weitere bürgerliche Freiheiten einräumen.
Dass das passiert, ist aber unwahrscheinlich. Ajatollah Ali Khamenei, der dem Ganzen letztlich seinen Segen geben müsste, Raisi, deren gesamtes Umfeld waren bei der Islamischen Revolution dabei, sind glühende Verfechter des Konzepts in seiner reinsten Form und politisch extrem unbeweglich.
Dabei stützen sie sich auf die Justiz, die ebenfalls in weiten Teilen aus Vertretern der alten Garde besteht, die Revolutionsgarden und die Basidsch-Milizen, die dieses Regime mit Waffengewalt stützen.
Personalwechsel an der Spitze?
Damit fällt der nächste Blick auf einen Personalwechsel an der Spitze. In diesem Szenario würden reformbereite Personen übernehmen und die geforderten Schritte umsetzen. Das Problem hier ist zunächst, dass es zwar einige Politiker mit Führungserfahrung gibt, die dafür in Frage kämen.
Doch sie müssten an Khamenei, am Wächterrat, an den Revolutionsgarden vorbeikommen und dann auch noch dazu in der Lage sein, ihre Agenda umzusetzen. Versucht haben es schon zwei davon, nämlich Mohammad Khatami und Hassan Ruhani, die beide sogenannte Reformer sind und auf Grund der Strukturen keine großen Veränderungen umsetzen konnten.
Hinzu kommt, dass es neben den großen Reformen auch das politische Tagesgeschäft gibt, und sich dort dann auch bei denjenigen die Geister scheiden, die gemeinsam für mehr Freiheiten eintreten. Ruhani war in den letzten Jahren seiner Amtszeit auf Grund seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik sehr unbeliebt.
Der dritte Blick fällt damit auf die Möglichkeit eines gewaltsamen Umsturzes. Regierung und Ajatollah würden gestürzt und durch eine neue Regierung ersetzt. Doch ein mehrheitsfähiges alternatives Regierungskonzept gibt es nicht; zudem stehen dabei immer die Revolutionsgarden und die Basidsch-Milizen im Wege: Hochgerüstet, sind die Revolutionsgarden auch noch Wirtschaftsmacht.
Die größten Industriebetriebe und Arbeitgeber werden von ihnen betrieben. Es erscheint kaum denkbar, dass ein solcher Putsch, an dem nicht die Revolutionsgarden selbst beteiligt wären, erfolgreich sein könnte.
Die Protestbewegung und das Militär
Gleichzeitig ist das Militär aber auch jener Teil des Gefüges, in dem sich Dissenz am Spürbarsten auswirken könnte.
Was das aktuelle Protestgeschehen von den überwiegend von Studierenden getragenen Demonstrationen in den vergangenen Jahrzehnten unterscheidet ist, dass es hier Menschen aus jeder Gesellschaftsschicht und Bevölkerungsgruppe sind, die für Freiheiten eintreten.
Es ist denkbar, dass die Protestbewegung über kurz oder lang deshalb auch ins Militär einsickert und dort Anhänger findet.
Zudem ist auch unklar, wie stark die Entscheidungen der Führung der Revolutionsgarden tatsächlich ideologisch geprägt sind, und wie groß ihre Unterstützung für das Regime tatsächlich ist. Ihre Daseinsberechtigung beziehen die Revolutionsgarden aus dem Schutz der Strukturen der Islamischen Republik, die wiederum letztlich nur durch den Schutz der Revolutionsgarden weiterhin existieren.
Die Führung der Revolutionsgarden
Gleichzeitig führen die Revolutionsgarden unter Führung von Generalleutnant Hossein Salami ein Eigenleben. Auf ihre Aktivitäten im Jemen, im Irak, in Syrien und anderswo scheint niemand sonst einen Einfluss zu haben und in den vergangenen Jahren gab es vermehrt Anzeichen dafür, dass Salami auch nach politischem Einfluss strebt.
Anders als sein Vorgänger Ali Dschafari ist er immer wieder auf Bildern von Sitzungen der Regierung zu sehen und wird in den staatlichen Medien mit knallharten Statements gegen die USA, Israel und den Westen im Allgemeinen zitiert. Zwar hat es im Iran nie einen Militärputsch gegeben. Aber es erscheint zumindest vorstellbar, dass die Revolutionsgarden es tun könnten.
Eine junge Garde?
Zumal es auch noch den biologischen Faktor gibt: Nahezu alle, die die Islamische Republik heute vom Ajatollah, über die Regierung, die Gremien wie den Wächterrat und die Justiz dominieren, sind bereits sehr alt und werden in den kommenden Jahren nahezu zwangsläufig entweder sterben oder aus Altersgründen abtreten müssen.
Eine zweite, jüngere Garde, die das System in gleicher Ausprägung am Laufen halten könnte, ist derzeit nicht erkennbar.
Schon seit Jahren läuft im Hintergrund die Suche nach einem neuen Ajatollah, der auf Khamenei folgen könnte. Denn um dieses Amt übernehmen zu können, ist der reinen Lehre nach die möglichst breite öffentliche Unterstützung erforderlich.
Doch genau hier zeigt sich, wie überholt, wie entrückt von der Gesellschaft diese Institution heute scheint: Jeder Kandidat, der für die Vertreter des aktuellen Regimes akzeptabel ist, wäre es wohl für große Teile der Öffentlichkeit nicht.
Eine Feinheit der iranischen Verfassung
Allerdings kommt hier eine Feinheit der iranischen Verfassung ins Spiel: Der reinen Lehre nach wird der Ajatollah vom Expertenrat gewählt, einem 88-köpfigen, vom Volk gewählten Gremium. Bei der letzten Wahl 2016 war die Zahl der potenziellen Kandidaten mit um die 800 extrem groß – was kein Zufall war.
Es ist eine der Taktiken der Reform-Bewegung, den Wächterrat mit so vielen Kandidaturen wie möglich zu überwältigen, in der Hoffnung, dass es schon ausreichend viele schaffen werden. Tatsächlich hielten nach der Wahl die Personen, die dem Reformer-Lager zugerechnet werden, eine Mehrheit im Expertenrat.
Doch direkt danach zeigten sich die Einschränkungen: Der Verfassung nach ist der Ajatollah dem Gremium untergeordnet, kann sogar von ihm des Amtes enthoben werden. Doch Khamenei machte schnell deutlich, dass er nicht vorhat, sich unterzuordnen. Expertenräte, die ihn kritisierten, wurden festgenommen oder zum Rücktritt gedrängt.
Für Probleme sorgen aber aus Reformersicht auch die hohen Anforderungen an das Amt des Expertenrats: Kandidieren darf nur, wer ausgewiesener Experte in islamischem Recht ist.
Und das sind so gut wie immer Leute, die weit über 60 Jahre alt sind. Im Ergebnis versterben viele während der achtjährigen Amtszeit, was zu Nachwahlen führt. Heute haben die Reformer deshalb keine Mehrheit mehr.