Die Konvergenzrolle von KI: Verschmelzung von Entwicklungen

Seite 4: Politikrelevante KI: Entscheidungsvorbereitung oder Entscheidungsdruck?

Eine ganze Reihe an Literaturansätzen sieht das inzwischen ähnlich – und untersucht den Einfluss von KI auf politische Systeme im Spannungsfeld zwischen Autoritarismus und Demokratie. Dabei werden allerdings erhebliche Unterschiede in der Bewertung durch demokratische versus autoritäre Systeme sichtbar – einschließlich ihrer sich inzwischen immer weiter auseinanderentwickelnden jeweiligen Sozialwissenschaften.

Konkreter als Großbritannien und die OECD hinsichtlich zukünftiger Beziehung zwischen KI und traditioneller Politik wird zum Beispiel China. Chinas Regierung lässt sich nach offiziellen Angaben bereits seit 2018 von Künstlicher Intelligenz beraten – darunter interessanterweise auch in außenpolitischen Fragen, die auf den ersten Blick am wenigsten von KI beinflussbar sind:

China setzt in allen Lebensbereichen auf künstliche Intelligenz: beim Überwachen seiner Bürger, beim Städtemanagement – und jetzt auch in der Politik. Das chinesische Außenministerium lässt sich bei wichtigen Entscheidungen von einer Künstlichen Intelligenz beraten. Chinesische Wissenschaftler, die sich [2018] in der South China Morning Post (SCMP) äußerten, sind überzeugt, dass Künstliche Intelligenz (KI) die Politik verbessern kann. Die KI, die das chinesische Außenministerium in strategischen Fragen berate, sei zum Beispiel immun gegen Angst, Leidenschaft, Ehre oder den Wunsch, jemandem einen Gefallen zu tun. Sie treffe im Vergleich zum Menschen rationalere Entscheidungen.

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Und das bedeutet?

Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums sagte, sein Ministerium würde die Anwendungen "fast täglich erweitern" und die neue KI-Technik weiter "erkunden". In China würden derzeit gleich mehrere KI-Politik-Systeme entwickelt. Bei welchen Entscheidungen genau die KI-Systeme konsultiert werden, wird nicht verraten. Man verweist aber zum Beispiel auf die Neue Seidenstraße.

Das ist ein riesiges globales Infrastruktur-Projekt mit Straßen, Häfen und Handelsposten, das sich durch knapp 70 Länder erstreckt, in denen 65 Prozent der Weltbevölkerung leben. Dort investiert China derzeit hunderte Milliarden US-Dollar mit dem Ziel, im Welthandel nach vorne zu kommen und sich langfristig mit wichtigen Rohstoffen zu versorgen. Das chinesische Außenministerium hofft offenbar, mit Unterstützung von KI hier bessere Entscheidungen zu treffen.

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Wie das bereits heute für Chinas Regierung gehen soll, ist relativ deutlich:

[Das] Maschinenlern-System [für Politikberatung und Entscheidungsvorbereitung] studiert zunächst Millionen von Daten. Damit die KI lernt, besser zu entscheiden, wird sie mit einem Berg an Daten gefüttert. Sie hat Zugang zu verschiedenen Datenbanken der chinesischen Regierung:

  • Daten von Spionagesatelliten;
  • Daten über internationale politische Strategien;
  • Gerüchte, die chinesische Diplomaten auf Cocktail-Parties aufgeschnappt haben.

Wenn dann jemand im Außenministerium etwa die Entscheidung treffen muss, wie China in einem afrikanischen Staat am besten einen Hafen baut, der Rohstoffe nach China verschifft, dann spuckt die KI unter Umständen innerhalb weniger Sekunden mehrere mögliche Handlungsoptionen aus. Das letzte Wort haben bislang aber immer noch Menschen aus Fleisch und Blut. "Die KI ist eine Art strategischer Berater. Die letzte Entscheidung treffen immer noch Menschen"

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So Chinas Behörden. Die Frage ist nur, wie lange noch.

Denn: Je mehr Daten KI auf einer immer höherer Effizienzebene mit einem immer höheren Wahrscheinlichkeitsquotienten zu integrieren imstande ist, desto schwieriger wird es für "die Menschen" werden, der KI-Entscheidungsempfehlung" nicht zu folgen. Wenn zum Beispiel KI eine 90 Prozent Präferenz- und Erfolgsquote für eine bestimmte politische Entscheidung voraussagt, müssen Menschen besonders gut und umfassend argumentieren, warum sie diese Entscheidung dann nicht KI-gemäß treffen. Tendenz: zunehmend nicht-gleich zwischen Mensch und Maschine.

In Summe der Fakten ist es nicht unwahrscheinlich, dass eine fundierte – und also mit Erfolgsaussichten ausgestattete – Argumentation gegen KI in den kommenden Jahren unmöglich wird. Dies einfach deshalb, weil Datenmengen und Verarbeitungsqualität sich dem menschlichen Bewußtsein entziehen.

Oder vereinfacht gesagt: weil die KI mehr weiß als der Mensch. Dies vor allem im Faktenbereich, der für sachpolitische Entscheidungen ausschlaggebend ist. Das würde bedeuten, dass die Entscheidung prozessual faktisch an die KI übergeht, auch wenn formal nach "faktischer Entscheidungsvorbereitung" immer noch Menschen sie treffen.

Obwohl es bei alledem durchaus Einschränkungen gibt, ist die Zukunft aus Sicht der meisten Experten klar:

So einfach per Knopfdruck die Superlösung für alle Probleme ausspucken, kann auch eine KI nicht. Denn sie ist immer nur so gut, wie die Daten, mit der man sie gefüttert hat. Und diese Daten sind für manche Regionen der Welt lückenhaft oder nur schwer zu bekommen. Trotzdem sind Regierungen und Staaten, die sich eine gut gefütterte Datenbank und einen erfahrenen KI-Berater leisten können, gegenüber anderen Staaten, die das nicht können, klar im Vorteil. Vor allem dann, wenn es um Risikominimierung, Strategie, Entscheidungsfindung oder die Effizienz bei der Ausführung von Plänen geht.

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Wachsende Polivalenz. Oder: Das Zwielicht von "Dual-Use"-Strategien breitet sich aus

Der Aufstieg von KI zu immer unmittelbarerer politischer Valenz, so lautet die damit verbundene Prophezeiung, wird in mittelfristig vor uns liegenden Zeiträumen erfolgen. Dem kann angeblich niemand entkommen. Die Politisierung von KI – über Systeme wie Demokratie oder Autoritarismus hinweg – sei "nur eine Frage der Zeit". Sie sei nicht eine Angelegenheit der Wahl oder gar der politischen Entscheidung.

Diese Einstellung wird heute von vielen geteilt. Vor allem Xi Jinpings Reich erwartet, dass politische Steuerung immer mehr automatisiert und die Ethik der Umkehrbarkeit (Ethik der Reversibilität) immer stärker durch einen Fatalismus der Daten begrenzt werden wird. Denn Künstliche Intelligenz verändere "alles". Sie werde unweigerlich zum immer "intelligenteren" Kernprozess gesellschaftlicher und politisch-rationaler Logiken – unabhängig davon, ob diese sich nun in Demokratien oder Autokratien vollziehen.

Doch dabei KI könnte sich eher als Naturereignis denn als Angelegenheit von Politik im herkömmlichen Sinn erweisen. Die Kommunistische Partei Chinas jedenfalls stellt sich auf dieses angeblich Unvermeidliche ein – und nutzt es für die Zementierung ihrer eigenen Herrschaft.

Ähnlich ist auch die Erwartung vieler heutiger westlicher Politiker, Politikberater und -dienstleister. So auch jener, die nicht wie die inzwischen aufgelöste Privatfirma "Cambridge Analytica" damit bereits demokratische Prozesse im großen Stil manipuliert und verfälscht haben. Doch ist das "Naturereignis KI" wirklich die Zukunft der Politik?

Sicher ist: Im derzeitigen Übergang in eine "KI-Gesellschaft" herrschen "Dual-Use"-Strategien vor. Damit sind Ansätze gemeint, die die Ambivalenz von KI – nämlich die Möglichkeit zum politischen "Doppelgebrauch" ein und derselben Technologie sowohl für wie gegen Freiheit – nutzen, um sie für ihren eigenen Machtanspruch zu vereinnahmen.

Manche sprechen für KI sogar überhaupt von einem – konstitutiven, das heisst in dieser Technologie selbst angelegten – "dual-use"-Charakter. Das begründe geradezu ein prinzipielles "Dual-Use Dilemma" Künstlicher Intelligenz, und zwar noch vor jedem Anwendungsfall.

Unter den vielen Ambivalenzanwendungen Künstlicher Intelligenz kommen einige Felder besonders gut für "Dual-Use"-Ansätze in Frage. "Dual-Use"-Anwendungen von KI bestehen heute auf so unterschiedlichen Anwendungsgebieten wie:

  • Dem ersten KI-selbstgesteuerten chinesischen Drohnenträger Zhu Hai Yun. Sowohl der Träger wie die Drohnen, 2022 lanciert und von China "KI-Mutterschiff" getauft, sind KI-ausgerüstet. Sie haben nach offizieller Leseart die Aufgabe, im südchinesischen Meer für "Sicherheit" etwa bei Notfällen zu sorgen – natürlich im Sinn des chinesischen Regimes. Dass aus dem Drohnen-Träger im Handumdrehen eine gefährliche semi-autonome Waffe werden kann, ist "dual use" in Reinkultur.
  • Die Integration globaler Energienetze. So zum Beispiel die Schaffung eines globalen Stromnetzes unter chinesischer Vorherrschaft: der "Global Energy Interconnection" (GEI), eines persönlichen Lieblingsprojekts Xi Jinpings. Nach außen hin ein Menschheitszusammenschluß auf der Grundlage kybernetischer KI, ist das Projekt zugleich ein ideologiegeleitetes Macht- und Abhängigkeitscluster. Die effizientere Befriedigung von Energiebedürfnissen ist eine Voraussetzung von Produktion, Wohlstand und also auch sozialem Frieden, kann aber auch zur Waffe werden, wie der Ukraine-Konflikt gezeigt hat.

Auffallend ist, dass bei den meisten dieser sozialpolitisch relevanten Anwendungen Künstlicher Intelligenz mittels Datenintegration und -verarbeitung sehr verschiedenartige Nutzbarkeiten entstehen.

Sie reichen von Systeminnovationen wie etwa der Förderung grüner Entwicklung bis hin zu Weiterentwicklungen der globalen Spekulationswirtschaft und der Perfektion von Überwachung und Kontrolle.

Auf der anderen Seite ist die Frage, ob nicht jede Zukunftstechnologie grundsätzlich eine "dual-use"-Technologie ist. Dann wäre das heutige politische Zwielicht der KI nichts Besonderes.

Roland Benedikter ist Co-Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Bozen, Unesco Chair für Interdisziplinäre Antizipation und Global-Lokale Transformation und Mitglied des Zukunftskreises des BMBF für die deutsche Bundesregierung. Homepages bei Eurac Research: Roland Benedikter und Unesco Chair. Kontakt: roland.benedikter@eurac.edu.