zurück zum Artikel

Die Lösung des Kaschmirkonflikts liegt in Gilgit-Baltistan

Foto: Gilbert Kolonko

Würden die Verantwortlichen das Berggebiet offiziell als Region Pakistans anerkennen, müssten sie auch Jammu Kaschmir als Teil Indiens akzeptieren

Noch Ende letzten Jahres saßen Premiere Minister Modi und sein Amtskollege Nawaz Scharif freundschaftlich beim Tee zusammen - viele witterten ein Ende der Eiszeit zwischen Indien und Pakistan. Heute stehen die beiden sich drohend und scheinbar unversöhnlich gegenüber. Es geht natürlich wieder um Kaschmir, wie seit knapp 70 Jahren.

Am 8. Juli töteten die indischen Sicherheitskräfte in der umstrittenen Bergregion Jammu Kaschmir den 22- jährigen Aufständischen Burhan Muzaffar Wani. Normal wäre das nur eine kleine Nachricht gewesen, denn selbst Pakistans Ex-General Musharraf hatte zugegeben, dass man das Einsickern von pakistanischen Militanten in den von Indien kontrollierten Teil Kaschmirs unterstützte.

Doch Wani gehörte zur neuen Generation des Widerstandes gegen die indischen Truppen. Geboren im indisch kontrollierten Kaschmir als Sohn eines Lehrers, verschwand er mit 15 in den Bergwäldern, nachdem die indischen Soldaten seinen Bruder verprügelt hatten. Jung und charismatisch nutze Wani mehr die sozialen Medien anstatt die Kalaschnikow im Kampf für ein unabhängiges Kaschmir. So wurde er zum Helden einer wütenden Generation.

Seit seinem Tod herrschen in Srinagar und Umgebung die schwersten Ausschreitungen seit sechs Jahren. Obwohl die indischen Sicherheitskräfte mit zum Teil scharfer Munition gegen die Demonstranten vorgehen, was mehr als 70 Todesopfern gefordert hat und eine Ausgangssperre verhängt wurde, reißen die Unruhen nicht ab.

Panama-Papiere und Wahlkampf

Als Nawaz Sharif Wani einen Märtyrer nannte und den Muslimen im indischen Kaschmir seine Unterstützung im Kampf gegen die Besatzer aussprach, hatte Sharif gewusst, dass es den Beziehungen zu Indien schweren Schaden zufügen würde. Doch der alte Politfuchs Sharif hatte seine Gründe: Die Enthüllungen um die Panama-Offshore-Papiere um seine Familie machen ihn daheim immer noch zu schaffen. Am 30. September hat sein größter politischer Widersacher Imran Khan wegen der Panama-Enthüllungen zum großen Marsch auf Raiwind aufgerufen, wo Sharif seinen Wohnsitz hat. 2018 wird in Pakistan gewählt, der Wahlkampf hat begonnen.

Obwohl Modi eigentlich genug damit zu tun hätte, die heimische Wirtschaft wie versprochen nach oben zu katapultieren, nahm er den Ball gerne auf, um von der Innenpolitik abzulenken - der wirtschaftliche Fortschritt kommt schleppender als versprochen. So beschuldigte er seinerseits Sharif, die Menschen in der pakistanischen Region Belutschistan zu unterdrücken und sprach den Belutschen die Unterstützung Indiens aus (auch im pakistanischen Belutschistan gibt es eine lokale Bewegung, die die Unabhängigkeit anstrebt).

Dazu verkündete Modi, dass auch die Menschen Gilgit-Baltistans die Unabhängigkeit wollen. Die nördlichste Region Pakistans ist beinahe unbemerkt Teil des Kaschmir Konflikts, und der Schlüssel zur Lösung des Problems. Doch fordern die Menschen Gilgit- Baltistans keine Abspaltung, sondern das Gegenteil. Sie wollen dass Pakistan sie endlich offiziell als Bürger des Landes anerkennt. Doch würden die Verantwortlichen Pakistans dies tun, würden sie auch Jammu Kaschmir als Teil Indiens anerkennen.

Letzte Woche buhlte Nawaz Sharif fünf Tage lang vergeblich auf der UN-Versammlung um Unterstützung in der Kaschmirfrage. Warum er etwas anderes außer den üblichen Floskeln erwartet hat: "Wir fordern beide Seiten auf…", bleibt sein Geheimnis. Kein Global Player wird sich den riesigen Markt Indien (1,25 Milliarden Kunden) verscherzen. Vor allem nicht für ein Land, das seit über 20 Jahren mit den Taliban und anderen extremistischen Gruppierungen in Verbindung gebracht wird - mal berechtigt, mal unberechtigt.

China und die neue Seidenstraße

Selbst China, das als letzter Freund Pakistans gilt, hält sich mit unterstützenden Worten zu Kaschmir zurück. Dazu hat man Pakistan schon mehrmals durch die Blume angedeutet, dass es sich nur in noch größerem Umfang in Pakistan engagieren wird, wenn es endlich mit Indien zu einer Lösung des Kaschmir Problems findet. Der Bau der neuen chinesischen Seidenstraße, die 1500 Kilometer durch Pakistan führt, hat für Peking vor allem eigene wirtschaftliche Interessen: Zugang zum arabischen Meer. Auch sie werden nicht unnötig das Tischtuch mit Indien zerreißen, sondern pragmatisch abwarten, wie sich ihr Verhältnis zu Indien entwickelt.

Da beide Streithähne über Atomwaffen verfügen, ist eine militärische Lösung beinahe ausgeschlossen. Das Wettrüsten geht trotzdem weiter. Doch sitzt das viel kleinere Pakistan dabei am kürzeren Hebel. Schon jetzt lähmen die hohen Militärausgaben jeden Versuch, Land und Gesellschaft zu modernisieren. Dagegen unterschrieb der größte Waffenkäufer der Erde, Indien, erst vor zwei Wochen einen Vertrag mit Frankreich im Wert von 7,8 Milliarden Euro über den Kauf von 36 Kampfflugzeugen.

Es spricht also nichts dafür, dass Pakistan Jammu Kaschmir erhalten wird - und auch eine Unabhängigkeit Kaschmirs ist völlig unrealistisch. Abgesehen davon, dass drei große Flüsse in Jammu Kaschmir entspringen, kann es sich Indien nicht leisten, dass ein unabhängiges Kaschmir in kürzester Zeit von radikalen Religiösen übernommen wird - schon allein wegen der vielen Buddhisten und Hindus, die dort leben.

Gilgit-Baltistan

Genauso unbeachtet und leise wie die Gilgit Scouts im Winter 1947 die Truppen des Fürsten HHari Singh besiegten und die Region, damals Northern Areas genannt, Pakistan übergaben, genauso still ist die Region Gilgit-Baltistan bis jetzt ein Teil des Kaschmirkonflikts. Die meisten der einfach Pakistaner im Süden, die schon in ihrer Kindheit zu Verfechtern Kaschmirs werden, haben keinen Schimmer von der Existenz Gilgit-Baltistans. Trotz ethnischer Konflikte - weil die pakistanischen Verantwortlichen die Ansiedlung von Sunniten aus dem Süden forcierte - gab es dort nie große Anti-Pakistan-Bewegungen. Im Gegenteil, die Menschen hier wollen endlich, das Pakistan ihre Region als Teil des Landes anerkennt.

Da hier mindestens 20 pakistanische Geheimdienste dafür sorgen, dass der Ärger in den eigenen vier Wänden bleibt, kann man die wahren Gefühle der Mehrheit nur in Gesprächen vor Ort erfahren: "Ich kann das Wort Kaschmir nicht mehr hören. Wir, ganz Pakistan haben für deren Wunschträume zu bezahlen. Wir haben nichts gegen Indien, wir hören doch die gleiche Musik, lieben Kricket, Tee und das gleiche Essen. Wenn unsere Regierung endlich ein freundschaftliches Verhältnis zu Indien aufbaut, können unsere Kaschmiris doch jederzeit ihre ‚Brüder‘ In Jammu Kaschmir besuchen. Die Inder können bei uns Urlaub machen und wir bei ihnen!", sagte ein 40-Jähriger in Gilgit zu mir - stellvertretend für viele andere, die ich auf etlichen Reisen in die Region gesprochen habe.

Gilgit-Baltistan (grün-blau gestreift) und Jammu Kaschmir (orange-blau gestreift). Karte: TP

Ganz so einfach ist es nicht. In dem Augenblick in dem Pakistan Gilgit-Baltistan als Teil des Landes anerkennen würde, würden die religiösen Militanten in Pakistan wissen, dass sie nicht mehr gebraucht werden. Ein letztes Aufbäumen mit Anschlägen in Indien und Pakistan wäre äußerst wahrscheinlich. Dass vorletzte Woche die "alte Garde" der Militanten bei einem Anschlag auf ein Armeelager in Jammu Kaschmir 18 indische Soldaten getötet hat (kurz vor der UN-Versammlung und höchst unpassend für Nawaz Sharif), zeigt deutlich, dass sich die Militanten in Pakistan auch in Sachen Kaschmir selbstständig gemacht haben.

Doch damit die Lösung angegangen werden kann, bräuchte es auf beiden Seiten ein Vertrauensverhältnis zwischen zwei starken Ministerpräsidenten, die zu kleinen Zugeständnissen bereit sind, die sich am Ende in eine Win-Win Situation für 1,5 Milliarden Menschen auszahlen würden. Auch für die Afghanen. Denn wenn die pakistanischen Generäle keinen Grund mehr haben, die "guten" Taliban in Afghanistan zu unterstützen, um den Einfluss Indiens zurückzudrängen, könnte man auch dort neu anfangen.

Doch selbst Imran Khan, die Hoffnung vieler junger Pakistaner (und auch in Indien sehr beliebt), setzt in Sachen Kaschmir einzig auf Populismus. Dass Pakistans Generäle weiterhin Indien als großen Feind präsentieren ist normaler Selbsterhaltungstrieb von Militärs. Dass sie verschweigen, dass diejenigen, die den größten Schaden in Pakistan anrichten, die pakistanischen Taliban, durch ihre verfehlte Strategie in Afghanistan entstanden sind, ebenfalls.

In Indien war man schon einen Schritt weiter. Selbst Premierminister Manmohan Singh hatte 2006 erklärt, dass nicht islamische Terroristen die größte Gefahr für Indien darstellen, sondern lokale maoistische Rebellen Gruppen in den ländlichen Gebieten Indiens. Dass der Grund für die Existenz der Rebellen mangelhafte Armutsbekämpfung ist, hatte man auch erkannt. Doch Indiens aktueller Premiere Modi setzt immer mehr auf hinduistischen Nationalismus. So wird der Kaschmirkonflikt im nächsten Jahr garantiert seinen 70. Geburtstag feiern - und zu den 50.000 Toten, die der Konflikt allein in Kaschmir bis jetzt gefordert hat, werden noch etliche mehr dazukommen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3348368