zurück zum Artikel

Die Lüge vom "Wohlstand für alle"

Warum die Ära der "Sozialen Marktwirtschaft" unwiderruflich vorbei ist und wie sich der Neoliberalismus entwickeln und uns in die nächste Krise stürzen konnte

Bei jeder Krise des Kapitalismus hören wir Rufe nach der sogenannten "Sozialen Marktwirtschaft". Politiker, Medien und Stammtische beschwören die gute alte Zeit des "Wirtschaftswunders" und fordern einen sozialen Kapitalismus. Bücher der letzten Jahre tragen Titel wie "Zurück zur sozialen Marktwirtschaft! Warum sich Ludwig Erhard im Grabe umdrehen würde" oder "Ehrliche Arbeit: Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier". Die neoliberale, von Wirtschaftsverbänden getragene Denkfabrik Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) hat die angeblichen Verheißungen sogar in ihren Namen integriert, um unter diesen Tarnmantel ihre knallharte, neoliberale, auf Profit und Privatisierungen getrimmte Propaganda unters Volk zu bringen.

Es gibt kein Zurück zur Sozialen Marktwirtschaft. Der versprochene "Wohlstand für alle", so der Slogan des Nazi-Schergen und späteren Wirtschaftsministers und dann Bundeskanzlers Ludwig Erhard, ist eine Fata Morgana. Da kann Erhard im Grab rotieren wie ein Dönerspies: Diese Epoche, manchmal auch Rheinischer Kapitalismus genannt, war kein mildtätiges Wohlfahrtsprogramm des Kapitals. Vielmehr lässt sich die Soziale Marktwirtschaft anhand soziohistorischer Fakten und Sachzwänge erklären, die - wie jede Epoche des Kapitalismus - einzig und allein auf den größtmöglichen Profit zielte. Was hat es mit dieser Epoche auf sich?

  1. Im Zweiten Weltkrieg haben über 55 Millionen Menschen ihr Leben verloren; die Shoa ist einer der schrecklichsten Massenmorde der Weltgeschichte. Nach 1945 lag Europa nicht nur moralisch in Trümmern, sondern auch wirtschaftlich. Die zerstörte Infrastruktur musste wieder aufgebaut werden, Straßen, Gebäude und Fabriken wurden errichtet. Europaweit, und vor allem in Deutschland, herrschte eine kurzfristige wirtschaftliche Hochkonjunktur.
  2. Die USA haben diese Hochkonjunktur entscheidend mitfinanziert, um ihrerseits Profit rauszuschlagen. Am 3. April 1948 hat der Kongress der Vereinigten Staaten das sogenannte "European Recovery Program" verabschiedet, bekannter unter dem Namen "Marshallplan". Die westeuropäischen Staaten erhielten zwischen 1948 und 1952 über 13 Milliarden US-Dollar (umgerechnet auf die heutige Kaufkraft fast 130 Milliarden US-Dollar). Der Marshallplan war kein Akt der Wohltätigkeit, sondern ein wirtschaftliches Kalkül, das in den 1950ern voll aufging: Die USA haben sich in Westeuropa einen neuen Markt geschaffen.
  3. Ein Jahr später, am 7. Oktober 1949, wurde die DDR als Satellitenstaat der Sowjetunion gegründet. Der Sozialismus im Osten setzte den Westen unter Druck, in den eigenen Ländern gewisse soziale Mindeststandards einzuführen. Diese Systemkonkurrenz führte dazu, dass im 1949 verabschiedeten Grundgesetz der BRD die Sozialstaatlichkeit hervorgehoben wurde. Längst vergessen ist zum Beispiel, dass damals sogar die CDU für die Verstaatlichung von Großkonzernen und Banken plädierte! Auf einem CDU-Wahlplakat des Landesverbands Berlin aus dem Jahr 1946 steht wörtlich: "Arbeiter der Stirn und der Faust! Wir stehen am Anfang einer Zeitenwende. Das bürgerlich-kapitalistische Zeitalter ist vorbei! Dem Sozialismus gehört die Zukunft! Doch wahrer Sozialismus heißt nicht Kollektivismus, verantwortungsbewußter Sozialismus nicht Vermassung. Arbeiter! Bist Du für eine sinnvoll gelenkte Planwirtschaft? […] Dann kämpfe mit uns für einen Sozialismus aus christlicher Verantwortung." Im Ahlener Programm, das die CDU am 3. Februar 1947 verabschiedet hat, heißt es unter anderem: "Bergbau. Monopolartigen Charakter haben die Kohlenbergwerke schlechthin wegen des von ihnen geförderten, für das gesamte Volk lebenswichtigen Urproduktes […] sie sind somit zu vergesellschaften. […] Auch bei der eisenschaffenden Großindustrie ist der Weg der Vergesellschaftung zu beschreiten." Die Besatzungsmacht USA schob solchen Bestrebungen ziemlich schnell einen Riegel vor. Zwar schafften es manche Krümel dieser Bestrebungen dennoch ins Grundgesetz - so etwa Artikel 14, Absatz 2 mit seiner Forderung "Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" -, doch sie waren und sind zahnlose Papiertiger.
  4. Kurz vor der Gründung der BRD kam es im Herbst 1948 zu den "Stuttgarter Vorfällen". Die Gewerkschaften und Betriebe riefen Generalstreiks aus, über 10 Millionen Beschäftigte legten die Arbeit nieder (die Streikbeteiligung lag bei rund 79 Prozent) und es kam zu schweren Unruhen. Auch Anfang der 1950er kam es immer wieder zu großen Streiks in der noch jungen BRD. Diese Streiks trugen entschieden dazu bei, dass die Marktwirtschaft "soziale" Elemente beinhaltete - zumindest auf dem Papier. (Das Bundearbeitsgericht erklärte Generalstreiks 1955 für rechtswidrig. Verantwortlich dafür war der ehemalige Präsident des Bundesarbeitsgerichts, Hans Carl Nipperdey, der sich während des NS-Faschismus fleißig am "Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften" beteiligt und maßgeblich das NS-Arbeitsrecht verschärft hatte. Als Begründung für das Verbot von Generalstreiks wurde angeführt, dass wir ja schließlich in einer repräsentativen Demokratie lebten, der politische Wille des Volks also per vierjähriger Kreuzchenwahl artikuliert werde und es deshalb keiner Generalstreiks bedürfe, die ja auch stets eine politische Dimension aufwiesen. So viel zur freiheitlichen Ordnung der BRD und zur angeblichen Tarifautonomie. Das Verbot des Generalstreiks zeigt, wie die Politik einmal mehr die Interessen des Kapitals schützt.)
  5. Ein weiterer Grund für den Boom des "Wirtschaftswunders" ist das Öl, das zu dieser Zeit scheinbar grenzenlos zur Verfügung stand und dementsprechend sehr günstig war. Dass ein unendliches Wachstum mit endlichen Ressourcen unmöglich ist, daran dachte damals kaum jemand. Das änderte sich erst mit der ersten Ölkrise von 1973, ein wichtiges Datum, das zugleich das Ende des "Wirtschaftswunders" und den Beginn des Neoliberalismus markiert.
  6. Politiker, Medien und Schulbücher kehren eine überaus wichtige Tatsache immer wieder unter den Teppich: Die Wirtschaft konnte damals nur "auf Pump" boomen. Seit den 1930ern war die Wirtschaft stark vom Keynesianismus geprägt: Der Ökonom John Maynard Keynes plädierte, kurz gesagt, dafür, dass der Staat in Krisenzeiten Kredite aufnimmt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das Wichtigste sei, dass die Menschen einer Lohnarbeit nachgehen und den Konsum aufrechterhalten, und sei es, dass die einen sinnlos Löcher in den Boden buddeln, damit die anderen sie wieder zuschütten können oder Pyramiden bauen.

Die Soziale Marktwirtschaft basiert auf Schuldenmachen

Der Keynesianismus war und ist heftig umstritten. Fest steht, dass diese Vorgehensweise - die Keynes ausschließlich für Krisenzeiten vorsah - auch während des Aufschwungs praktiziert wurde: Während die Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg kurzfristig florierte, pumpte der Staat bald darauf Milliarden in die Wirtschaft und Infrastruktur. Zu diesem Zweck wurden enorme Schulden aufgetürmt; 1963 hatte die BRD bereits 30 Milliarden DM an öffentlichen Investitionen getätigt. Mehr als die Hälfte dieser enormen Summe waren Schulden, die die BRD aufgenommen hatte! Kurz gesagt: Das sogenannte "Wirtschaftswunder" war keine Magie, sondern ein Wachstum auf Pump.

Eigentlich wäre der Boom schon viel früher zu Ende gegangen, hätte es nicht dieses "deficit spending" gegeben. So aber wurde der Boom bis zur Ölkrise der 1970er künstlich um ein Jahrzehnt verlängert. Dann jedoch platzte die Blase, wie eben auch 2008. Die Anomalie ist hierbei weniger die Krise Anfang der 1970er, sondern eher der künstlich verlängerte Boom davor. Anders formuliert: Die 1970er waren lediglich eine Rückkehr zum Normalzustand des Kapitalismus. Krisen gehören zum Kapitalismus wie Asterix zu Obelix. Krisen sind im Kapitalismus unabdingbar - und meist geht das Kapital gestärkt aus ihnen hervor, während die Menschen unter ihnen leiden müssen.

Die "altehrwürdige" Form der Sozialen Marktwirtschaft, zu der so viele zurückkehren wollen, war ein mit Schulden finanzierter Wirtschaftszyklus, der in dieser Form nie wieder eintreten wird. Das Rad der Geschichte dreht sich stets weiter. In den 1970ern drehte es sich - als der Boom zum Erliegen kam - in Richtung des damals aufkeimenden Neoliberalismus. Es gibt viele Marksteine, an denen sich der Beginn der neoliberalen Politik festmachen lässt. Einer davon ist der bereits erwähnte Beginn der ersten Ölkrise von 1973.

Geburt des Neoliberalismus

Realwirtschaftlich beginnt der Neoliberalismus 1971, als Richard Nixon das Bretton-Woods-System beendete. Zuvor konnten die weltweiten Zentralbanken ihr Gold zum Kurs von 35 US-Dollar pro Feinunze eintauschen. Dadurch hatte man relativ stabile Währungskurse, weil sie an etwas Konkretem gebunden waren: am US-Dollar und damit am Gold, der sogenannte "Goldstandard". Im August 1971 jedoch setzte Richard Nixon die Konvertierbarkeit des US-Dollars in Gold aus, der Goldstandard war Geschichte, das Geld war ab sofort quasi vogelfrei und abstrakt, weil es an nichts realwirtschaftliches mehr gebunden war. 35 US-Dollar konnten nun, je nach Wirtschaftslage, so viel wert sein wie 3 Gramm Gold oder 3 Kilo. Nixon kam dadurch an billiges Geld, um den immer teurer werdenden Vietnamkrieg zu finanzieren. Zwischen 1970 und 2014 haben sich die Schulden der USA mehr als verfünffacht, parallel mit den Staatsausgaben für das Militär, die sich ebenfalls verfünffacht haben.

Ideengeschichtlich beginnt der Neoliberalismus 1976, als der Ökonom Milton Friedman den Wirtschaftsnobelpreis verliehen bekam. Damit setzte in den Wirtschaftswissenschaften eine Wende vom Keynesianismus hin zum Monetarismus ein: Der Staat soll die Hände möglichst in den Schoß legen und auf die "unsichtbare Hand" der Märkte vertrauen.

Geopolitisch steht das sogenannte "Afrikanische Jahr" 1960 stellvertretend für die Dekolonisation des Globalen Südens: Viele der europäischen Kolonien, die zuvor bis auf den letzten Tropfen ausgebeutet wurden, erlangten ihre formale Unabhängigkeit. Die Ausbeutung ging natürlich weiter, doch mussten viele der verlorenen Kolonien erst wieder "zurückerobert" werden - sei es mit einer Reorganisation der Märkte, sei es mit einer gnadenlosen Schuldknechtschaft oder mit verdeckten, von Geheimdiensten getragenen Putschversuchen, um gefällige Diktatoren als Handlanger des Westens einzusetzen. (Es ist kein Zufall, dass der Putsch in Chile auf diese Zeit fällt: Am 11. September 1973 putschte das Militär in Chile gegen den drei Jahre zuvor demokratisch gewählten Präsident Salvador Allende. Der Präsident starb während des Putschs, der maßgeblich eine verdeckte Operation der CIA war. Anschließend errichtete Augusto Pinochet eine Militärdiktatur, die bis zum 11. März 1990 an der Macht blieb und eng mit den USA kooperierte.)

Politisch setzt der Neoliberalismus dann 1979 ein, als die "Eiserne Lady" Margaret Thatcher zur Premierministerin des Vereinigten Königreichs gewählt wurde. Im Jahr 1981 wurde ihr neoliberaler Kompagnon, Ronald Reagan, US-Präsident.

Ab den 1970er Jahren wurde die Welt eine andere

Auf welches Datum auch immer man den Beginn des Neoliberalismus ansetzen will, fest steht, dass ab den 1970ern ein anderer Wind wehte, der bis heute nicht abgeflaut ist. Im Jahr 1970 betrug die offizielle Arbeitslosenquote in Westdeutschland noch sage und schreibe 0,7 Prozent, 1975 lag sie bereits bei 4,7 Prozent und zehn Jahre später waren es 9,3 Prozent. Leiharbeit, Hartz IV [1], gestrichene Sozialleistungen - all das sind die Früchte der neoliberalen Agenda. Die Lüge vom "Wohlstand für alle" zeigt heute mehr denn je ihre wahre Fratze:

Jeder vierte deutsche Beschäftige arbeitet mittlerweile im Niedriglohnbereich [2], das heißt er oder sie verdient weniger als 9,54 Euro brutto die Stunde. In der sogenannten "Generation Y", also grob die zwischen 1977 und 1998 Geborenen, sind in Deutschland bereits 29 Prozent als Freelancer tätig. Über ein Drittel aller ausgeschriebenen Stellen [3] in Deutschland werden nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit inzwischen als Leiharbeit ausgeschrieben. In Städten wie Bielefeld sind sogar über 50 Prozent der offenen Stellen als Leiharbeit deklariert.

Die zahllosen Zeitarbeiter sind moderne Tagelöhner. Bis 1967 war Zeit- bzw. Leiharbeit (die Ausdrücke bezeichnen das gleiche, also die Arbeitnehmerüberlassung) in Deutschland verboten. Leiharbeit galt bis dahin als unmoralisch, ja, verdächtig wegen des NS-Faschismus, der mit Zwangsarbeit seine Kriegsmaschinerie am Laufen hielt. Dann aber kündigte sich die Krise der 1970er an - und der Motor musste irgendwie geschmiert werden, damit er wieder an Fahrt gewann. Stück für Stück wurde die Leiharbeit wieder eingeführt; heute ist sie der Wirklichkeit gewordene Traum der neoliberalen Hardliner.

Spätestens dann, wenn man über den Tellerrand der Industriestaaten schaut, entpuppt sich der "Wohlstand für alle" als bitterböse Realsatire: Schon jetzt sind über eine Milliarde Menschen weltweit unterbeschäftigt oder ganz erwerbslos, Tendenz steigend. Über 40 Prozent der Menschheit schuftet für weniger als 1 US-Dollar Lohn am Tag. Und täglich sterben über 57.000 Menschen an Hunger, Tendenz ebenfalls steigend.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg fürchteten die Vermögenden und Herrschenden um ihre Macht und boten den Menschen in den westlichen Industriestaaten vereinfacht gesagt einen Deal an: Wenn ihr eure Generalstreiks und überhaupt den Klassenkampf beendet, dann sichern wir euch Gewerkschaften und Sozialleistungen zu. Die "soziale Frage" sollte durch die Verheißungen des "sozialen Aufstiegs" entschärft werden.

Bis zum Beginn des Neoliberalismus funktionierte das ganz gut: Die Produktivität und vor allem die Einkommen stiegen, so dass sich die Konsumgesellschaft voll entfalten konnte. Doch allerspätestens in den 1980ern war klar, dass das Kapital diese Verheißungen unmöglich für alle Menschen einlösen kann. Seitdem wurden die Menschen jeden Tag millionenfach mit Kreditangeboten überschüttet. Das Bündnis aus Staat und Kapital sagte den Menschen damit einfach: "Macht's wie wir, verschuldet euch mit exorbitanten Krediten. Nach uns die Sintflut." Und die Rechnung ging auf: Die Menschen nahmen und nehmen millionenfach Kredite auf für Autos, Häuser, Studiengebühren, Hochzeitsfeiern, Karibikreisen und anders. (Oft genug müssen sich Menschen in die Schulden stürzen, weil sie schwer erkrankt sind und ihre Jobs verlieren, während gleichzeitig die Sozialsysteme ausgedünnt werden.)

Die Immobilienblase, die 2008 unweigerlich implodieren musste, bezeugt, wie der todesröchelnde Kapitalismus sich auf Pump über Wasser zu halten versuchte. Parallel zum neuen Kredit-Boom hob der US-Kongress 1980 die Bundesgesetze gegen Zinswucher auf, die Kreditzinsen auf 7 bis 10 Prozent begrenzt hatten. Ab 1980 waren Zinssätze von 25 bis 50 Prozent möglich, das Geld wurde abermals vogelfrei - wie schon bei der Abschaffung des Goldstandards 1971.

Sinnbild der bröckelnden kapitalistischen Verheißungen ist die Stadt Detroit. In den 1960er verdienten die Arbeiter der dort ansässigen Automobilindustrie ziemlich gut - Ford, General Motors und Chrysler waren die Zugpferde der US-Wirtschaft. Inzwischen gleicht Detroit einer Ruinenlandschaft, die im Mai 2013 als erste US-Stadt überhaupt ihre Insolvenz bekanntgab. Über ein Fünftel der Einwohner ist arbeitslos, ein Drittel lebt in großer Armut, wenn sie denn geblieben sind: Lebten in den 1950ern noch knapp zwei Millionen Einwohner in der "Motor City", sind es heute gerade einmal 681.000.

Die Kehrseite des Sinnbilds Detroit ist die chinesische Stadt Shenzhen: 1982 hatte die Stadt noch um die 350.000 Einwohner, 2010 waren es bereits 10 Millionen mehr. Die Arbeitssklaven dort stellen Konsumgüter für die ganze (wohlhabende) Welt her: Computer, Smartphones, Kleidung, Spielzeug. Der größte Elektronikhersteller der Welt, Hon Hai/Foxconn, betreibt in Shenzhen eine gigantische Fabrik. Dort lassen die IT-Giganten ihre Konsumgüter produzieren: Apple, Sony, Nokia, Microsoft, Acer, Amazon, Dell, Toshiba, Hewlett Packard, Intel, Nintendo und erschreckend viele mehr. Die iSlaves bei Foxconn arbeiten 12 bis 15 Stunden am Tag und verdienen umgerechnet 240 Euro im Monat, was selbst in China kaum zum Leben reicht.

Rund 75 Prozent aller Spielsachen weltweit kommen aus China, auch jene, die in europäischen Geschäften angeboten werden. In Shenzhen und den unzähligen Klonfabriken werden die putzigen Spielsachen für Disney, Mattel, Hasbro und Co. produziert. All diese Menschen schuften in giftgeschwängerten Hallen ohne Tageslicht, auch Schwangere und Minderjährige, und werden von der chinesischen Regierung häufig zwangsverpflichtet, wenn das Erscheinungsdatum irgendeines neuen Smartphones näherrückt und Produktionsengpässe herrschen. Der Kapitalismus hat die Sklaverei nicht abgeschafft, sondern lediglich outgesourct. Wachstum? Es wächst nur das Elend. So viel zum "Wohlstand für alle".

Finanzkapitalismus ist nur eine andere Spielart des Kapitalismus

Oft wird der Neoliberalismus mit einem sogenannten "Finanzkapitalismus" gleichgesetzt. Als der Goldstandard wegfiel, wurden die Wechselkurse frei und das Geld abstrakter; es wurde "Fiat-Geld", das lediglich durch das öffentliche Vertrauen gedeckt ist. Natürlich macht ein Goldstandard die Sache nicht unbedingt besser: Gold an sich ist bloß ein Element und hat kaum einen Gebrauchswert, ganz im Gegensatz zu einem Kilo Kartoffeln oder einem Laib Brot. Und das Kapital buddelt tonnenweise Gold aus dem Boden, um es anschließend wieder in den Tresorräumen von Banken zu verbuddeln. Das Gold wandert von A nach B und ist plötzlich das Element, auf dem die Wirtschaft beruhen soll.

Gold ist ein Versprechen: Wenn wir mit einer Goldmünze bezahlen, dann vertraut der Verkäufer darauf, dass er mit der nun erhaltenen Goldmünze seinerseits etwas bezahlen kann, was demselben Wert entspricht. Gold ist natürlich niemals nur rein mineralisch, sondern auch politisch. Jedenfalls konnte sich das Kapital mit dem Wegfall des Bretton-Woods-System auf neue Abenteuerfahrt begeben: Man investierte zunehmend in Kredite, Hedgefonds, Derivate und andere verschachtelte Finanzinstrumente, da sich mit Finanzgeschäften weit mehr Profit rausschlagen ließ als in der sogenannten "Realwirtschaft". Und Profit ist das einzige Ziel des Kapitalismus. Es handelt sich um ein abstruses, von Menschen erfundenes Wirtschaftssystem, das allein dem Zweck dient, Geld und noch mehr Geld anzuhäufen. Kaum einer hat das besser durchschaut als Karl Marx:

Die allgemeine Formel des Kapitals ist G - W - G’; d.h. eine Wertsumme wird in Zirkulation geworfen, um eine größre Wertsumme aus ihr herauszuziehn. Der Prozeß, der diese größre Wertsumme erzeugt, ist die kapitalistische Produktion; der Prozeß, der sie realisiert, ist die Zirkulation des Kapitals. Der Kapitalist produziert die Ware nicht ihrer selbst wegen, nicht ihres Gebrauchswerts oder seiner persönlichen Konsumtion wegen. Das Produkt, um das es sich in der Tat für den Kapitalisten handelt, ist nicht das handgreifliche Produkt selbst, sondern der Wertüberschuß des Produkts über den Wert des in ihm konsumierten Kapitals.

MEW, Bd. 25, S. 51

Auch in den 1970er suchte das Kapital verzweifelt nach neuen Wegen, um auf Teufel komm raus Profit rauszuschlagen, denn die Wirtschaft lag brach. Der moderne Kapitalismus, der gerade einmal um die 300 Jahre alt ist, stößt immer wieder an seine ihm innewohnenden Grenzen. Und die Auswege, die sich das Kapital anschließend sucht, werden immer abenteuerlicher. Weil die künstlich aufrechterhaltene Realwirtschaft spätestens in den 1970er keine Früchte mehr abwarf, musste sich das Kapital in die noch künstlichere Welt der abstrakten Hedgefonds und Derivate flüchten. Hätten Wirtschaft und Politik den Kurs in den 1970ern nicht geändert, wäre die globale Wirtschaft unweigerlich implodiert - eine Rückkehr zur "sozialen Marktwirtschaft" war und ist für das Kapital ausgeschlossen.

Im Jahr 1992, als viele Menschen solche Begriffe wie "E-Mail" oder "Surfen" nicht mal dem Namen nach kannten, wurde das Internet bereits für Finanztransaktionen freigegeben. Das Kapital wanderte weg von den Banken hin zu privaten, oft halblegalen, aber auf jeden Fall undurchsichtigen Handelsplattformen. Der Keynesianismus, der schon ein Rohrkrepierer ist, wurde begraben und durch ein weit größeres Übel, den Neoliberalismus, ersetzt. In den 1960er entfielen rund 15 Prozent der inländischen Gewinne in den USA dem Finanzsektor, aber rund 50 Prozent in der Produktion. 2005 jedoch kassierte der Finanzsektor fast 40 Prozent der Gewinne, der Produktionssektor aber nur noch weniger als 15 Prozent. Die Verlagerung hin zu einem Finanzkapitalismus mitsamt seinem "jobless growth" ist also offensichtlich. Wenn man jedoch einzig und allein diesen "Finanzkapitalismus" kritisiert, der oft auch "Turbokapitalismus" oder "Kasinokapitalismus" genannt wird, dann begibt man sich auf dünnes Eis:

Manch Kritiker behaupten, dass der Trennung vom bösen Finanzkapitalismus und vom vermeintlich guten Industriekapitalismus etwas potentiell Antisemitisches anhafte. Tatsächlich unterschieden die Nazis zwischen einem "guten, schaffenden, produktiven" und einem "bösen, raffenden, unproduktiven" Kapital, wobei letzteres in den Augen der Nazis ein jüdisches Merkmal darstelle. Es ist ebenso rassistisch wie weltfremd, wenn man die Auswüchse des Finanzkapitalismus - und erst recht seine Krisen - den Juden in die Schuhe zu schieben versucht. Wenn Goldman Sachs und andere Investmentkonzerne auf den Finanzmärkten spekulieren, dann tun sie das nicht als jüdisches Unternehmen, sondern als Kapitalisten - wie es die Manager der Deutschen Bank eben auch sind.

Der angeblich so produktive Industriekapitalismus ist, um es auf den Punkt zu bringen, genauso ausbeuterisch und menschenverachtend wie der vermeintlich unproduktive Finanzkapitalismus. Das Kapital schlug den Weg des Finanzkapitalismus ein, weil sich sonst keine Profite mehr erwirtschaften ließen - und abstrakte Profite sind für den Kapitalisten allemal besser als gar keine. Sobald die Blase des fiktiven Kapitals unweigerlich platzt, scheint es dann, als sei nur ebendieser Finanzkapitalismus das Problem - seit 2008 liest und hört man überall von der "Finanzkrise" oder "Kreditkrise". Doch in Wahrheit ist der Kapitalismus selbst die Krise, sprich, der Kapitalismus stößt ständig und unweigerlich an seine innere Schranke: "Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst", schrieb Marx (MEW, Bd. 25, S. 260).

Als die Krise 2008 durchschlug, wurde Alan Greenspan vor den US-Kongress geladen. Greenspan war von 1987 bis 2006 Vorsitzender der US-Notenbank und gilt als einer einflussreichsten Ökonomen der Welt, das Weiße Haus war von seinen Entscheidungen und Konzepten ebenso abhängig wie die internationalen Finanzmärkte. Vor dem Kongress also sagte Greenspan angesichts der Krise, er sei "schockiert" darüber, "einen Fehler in dem Modell festgestellt" zu haben, "das ich für den grundlegenden Mechanismus hielt, nach dem die Welt funktioniert". Oh weh. Entweder ist Greenspan, der hier stellvertretend für die großen Entscheidungsträger des Kapitals steht, schlichtweg verblödet. Oder aber er glaubte tatsächlich daran, dass der Kapitalismus funktioniert. Beide Möglichkeiten sind buchstäblich eine Bankrotterklärung, nicht nur eine geistige, sondern leider auch eine ganz konkrete angesichts des Elends, das seit 2008 noch zugenommen hat.

Ist der Kapitalismus am Ende?

Der Krise liegen knallharte realwirtschaftliche Probleme zugrunde, die durchgeknallten Spekulanten sind bloß ein Symptom, nicht aber die Ursache der Krise. Sprich, das Kapital schob die Krise durch den sogenannten "Finanzkapitalismus" lediglich hinaus; es überbrückte damit die eigentliche Dauerkrise, die den Kapitalismus auszeichnet. Doch auch diese Brücke musste irgendwann einstürzen - und genau das geschah im September 2008. Das Kapital hatte keine weiteren Verwertungsmöglichkeiten. Da alles auf Pump läuft, mussten die Kredite über kurz oder lang platzen. Offen bleibt, welchen Fluchtweg das Kapital diesmal wählen wird. Die Prognose vieler Ökonomen, dass es in einen "grünen Kapitalismus", zum Beispiel in regenerative Energiegewinnung, investieren werde, hat sich offensichtlich nicht bewahrheitet. Gegenwärtig sind jedenfalls kaum neue Verwertungspotentiale in Sicht. Ein Blick auf die Gegenwart deutet darauf hin, wohin die Reise gehen könnte:

Vermutlich wird sich die klaffende Lücke zwischen Arm und Reich in den nächsten Jahren weiter verschärfen, mit allen damit verknüpften Folgen: Die Armen und Ärmsten werden weiter in die Ghettoisierung getrieben, während sich die Reichen in ihren "Gated Communities" weiter abschotten werden. Wahrscheinlich ist auch ein weiterer Abbau des ohnehin schon abgebauten Sozialstaats und parallel dazu ein weiterer Ausbau des "Robocop"-Staats, in dem die Armen noch massiver durch Polizei und Militär überwacht und drangsaliert werden. Als Bodyguard des Kapitals wird der Staat alles daran setzen, für "Zucht und Ordnung" zu sorgen, weil es keine "soziale Sicherheit" mehr gibt - und die Umwelt weiter ausgeschlachtet, verschmutzt und unumkehrbar zerstört wird. Und last but not least könnte auch "Peak Oil", also das Maximum der globalen Ölfördermenge, oder ein Phosphor-Mangel, auf dem die gesamte globale Landwirtschaft beruht, dem Kapitalismus einen entscheidenden Todesstoß verpassen.

Möglich ist aber auch, dass im Zuge der "nachholenden Entwicklung" die "Global Swing States" wie zum Beispiel China, Brasilien, Indien oder Indonesien der dortigen Mittelschicht einen neuen Schub verschaffen und so den globalen Konsum ankurbeln. Das würde natürlich zulasten der "alten" Industrienationen wie etwa den USA, Deutschland, Japan, Frankreich oder England gehen, die dann abgehängt werden. Schon jetzt verkaufen VW, BMW und Mercedes mehr Autos in China als auf dem europäischen Markt. China ist Netto-Gläubiger, die USA stehen dort massiv in der Kreide. Und China ist schon so "fortgeschritten", dass es mittlerweile die Produktion, beispielsweise von Kleidung für H&M, KiK und C&A, in die verlängerte Werkbank von Bangladesch auslagert, dabei aber kräftig mitkassiert.

Wenn ein solcher Schub der Global Swing States eintritt - der die Dauerkrise des Kapitalismus natürlich nur künstlich hinauszögert und das Elend der Menschen noch vergrößert -, dann könnte es zu einem neuen Hegemonialzyklus kommen, bei dem China, weitere ostasiatische Staaten im Verbund oder Staaten der südlichen Hemisphäre die USA mitsamt der NATO-Staaten als Weltmacht ablösen. Die "alten" Industrienationen wären dann nur noch an der Peripherie des neuen Zentrums - und müssten sich den dort vorherrschenden Arbeits- und Wirtschaftsstrukturen anpassen. Genau so, wie sich nach 1990 Russland und Co dem Westen anpassen mussten.

Wie die Geschichte zeigt, sind Phasen der hegemonialen Ablösung oft mit militärischen Auseinandersetzungen verbunden, bei dem die beteiligten Parteien um die Vorherrschaft kämpfen. Der seit 2014 schwelende Ukraine-Konflikt lässt sich auch als Stellvertreterkrieg nicht nur zwischen den Staaten USA und Russland interpretieren, sondern als Vorzeichen eines globalen Konflikts zwischen dem Westen und den aufstrebenden BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika). Im Juli 2014 haben die BRICS-Staaten eine neue Entwicklungsbank (New Development Bank) mit umgerechnet 50 Milliarden US-Dollar Startkapital und als Schwesterorganisation einen Währungsfonds (Contingent Reserve Arrangement) mit umgerechnet 100 Milliarden US-Dollar Startkapital gegründet. Übersetzt heißt das, es gibt eine neue Konkurrenz zum US-Dollar und Euro. Etwa 3 Milliarden Menschen leben in den BRICS-Staaten, was ungefähr 40 Prozent der Weltbevölkerung entspricht. Gut möglich, dass die Hackordnung der Staatenwelt bald ins Wanken gerät, vielleicht auch mit zunehmend offenen Kriegen zwischen den Hegemonialmächten.

All das kann, muss aber nicht eintreten. Keiner besitzt eine Kristallkugel, um in die Zukunft zu schauen. Der Kapitalismus kann in vier Monaten oder in vier Jahrzehnten zusammenbrechen, oder gar nicht. Die Frage ist also, ob und wann sich der Kapitalismus endgültig den Ast absägen wird, auf dem er sitzt. Noch ist er nicht in den Abgrund gestürzt. Aber der Riss ist für jeden sichtbar und es knarzt gewaltig.

Patrick Spät [4] lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: "Und, was machst du so?", Zürich: Rotpunktverlag, 2014.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3369397

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Die-Hartz-IV-Gesetze-sind-die-Arbeitshaeuser-des-21-Jahrhunderts-3367268.html
[2] http://www.tagesschau.de/wirtschaft/niedriglohnsektor104.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Mehr-als-ein-Drittel-der-offenen-Stellen-werden-als-Leiharbeit-angeboten-3368074.html
[4] http://patrickspaet.wordpress.com/