Die Macht der Maßeinheiten: Von Daumenregeln und Aggressionsdistanzen

Rainer Winters

(Bild: KI-generiert)

Von Elefantenangriffen bis Politik: Die Kunst der Distanzmessung in Natur und Kultur. Wie das Inch zum Maß politischer Macht wurde. Buchauszug

Wer nur lange genug im afrikanischen Busch unterwegs ist, wird mit dem Scheinangriff eines Elefanten oder Löwen konfrontiert. Nähert man sich beiden bis auf ein paar Meter, nehmen sie nicht selten einen Scheinangriff (mock attack) vor.

"Keinen Schritt weiter": Die Aggressionsdistanz

Ebenso wie bei Fluchtdistanzen unterscheiden sich die Aggressionsdistanzen je nach Tierart. Schleiereulen zum Beispiel reagieren mit Flucht ab einer Annäherung zwischen 8 Meter bis 20 Metern. Auch in der Politik spielen Drohgebärden eine wichtige Rolle. Dabei hat jede Kultur ihre ganz eigene Aggressionsdistanz.

Im deutschen Kultur- und Sprachraum signalisiert die drohende Person mit "Keinen Schritt weiter", ihr lieber keine 75 bis 80 Zentimeter zu nahe zu kommen, sonst könnte etwas passieren. Noch weniger tolerant ist der anglo-amerikanische Sprachraum.

"Nur einen Inch voran und Du hast ein Problem"

"Schreite nur einen Inch voran und Du hast ein Problem". So bemühten die USA das Inch, also 2,54 Zentimeter, als Aggressionsdistanz beim scheibchenweisen Hinarbeiten der Nato-Staaten auf ein Einlenken der Sowjetunion in der gesamtdeutschen Frage.

Bei der Vermessung des Raumes orientieren sich Kulturnationen gerne an den Proportionen des eigenen Körpers und der Umwelt.

So arbeiten Mediziner, Radiologen und selbst Whiskey ausschenkende Gastwirte mit dem Fingerbreit. Maschinenbauer, Tontechniker und Bekleidungsverkäufer tun es mit der Einheit Zoll, welche sich von einem kurzen Holzstück (mittelhochdeutsch. zol) ableitet.

Fuß, Zoll und Daumenbreit

Zu Zeiten der Römer maß der menschliche Fuß 29,6 Zentimeter. Ein Schritt (lat. gradus) entsprach zweieinhalb Fuß, eine Fingerbreite (lat. digitus) 1,85 cm und eine Uncia dem zwölften Teil (engl. inch) eines Fußes. Ihre Maßeinheiten hatten Römer und auch Griechen von den Ägyptern entlehnt, deren Einheiten wiederum auf die Mesopotamier zurückführbar sind.

Maßgleich mit den Begriffen Zoll und Daumenbreit, hat sich das 2,54 Zentimeter lange Inch bis heute gehalten. In Großbritannien und den USA ist das Inch ein wichtiges Standardmaß – gegen den erklärten Willen der in Paris ansässigen Organisation für das gesetzliche Messwesen (OIML). Zu verdanken ist dies zum Teil einem schottischen Professor des 19. Jahrhunderts.

Smyth: Argumente gegen das metrische System

Charles Piazzi Smyth sein Name, nutzte die Mathematik rund um die Pyramiden von Gizeh, um gegen das metrische System zu argumentieren. Ihm zufolge hatte das Inch bei den alten Ägyptern eine gewichtige Rolle inne – nämlich die Verknüpfung von Erde und Mensch mit ihren Pyramidenbauten.

Laut der ihm folgenden Berechnungen entspricht der Umfang der Cheops-Pyramide einem (Pyramiden-) Inch mal 364 Tage mal 100. Und tatsächlich ergibt der Betrag von 500 Millionen Pyramideninch recht genau den Durchmesser der Erde.

Smyths Schlussfolgerung: Wenn das Inch schon eine Grundeinheit des Pyramidenbaus ist, und die Briten es auch verwenden, so muss die Maßeinheit geradezu göttlich sein.

Wäre Smyth dem Inch damals ordentlich auf den Grund gegangen, so wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass die Maßeinheit ursprünglich ein Verhältnismaß zur Verbindung von menschlichem Fuß und Finger war.

In mehrfacher Hinsicht waren Smyths Schlussfolgerungen unsystematisch. Seine formulierte Gesetzmäßigkeit ruhte auf nicht wiederholbaren und reproduzierbaren Beobachtungen. Auf unscharfe Weise hatte Smyth aus einer Beobachtung ein Gesetz formuliert, welches er bei keiner anderen Pyramide anwenden konnte.

Obgleich sein Fehlschluss wesentlich zum Verlust seines Postens als Astronom im Dienste Ihrer Majestät Königin Victoria beitrug, lebt das Inch bis heute auf beeindruckende Weise fort.

Der Meter: Ein "Geistesprodukt atheistischer französischer Radikaler"

Der Meter war für Smyth übrigens ein mangelhaftes Geistesprodukt atheistischer französischer Radikaler. Dabei waren die Franzosen nach ihrer Revolution doch so froh gewesen, endlich ihre rund 250.000 Maßeinheiten los zu sein. Das Revolutionsmotto "Ein Gesetz, ein Gewicht und ein Maß" hatte zum kulturbildenden Einheitsmaß "Meter" geführt.

Unbeirrt der Einführung des Metermaßes behaupten sich Finger und Daumen als erstes Maß der Wahl. Im heutigen Sprachgebrauch wird der Daumen gerne mit Macht und Tatkraft verbunden. Im positiven Sinne hält man anderen den Daumen oder wird durch den eigenen geschickten Daumen aktiver Teil der neuzeitlichen "digitalen" Revolution.

Der Daumen nach unten oder den Daumen draufzuhalten, bedeutet dagegen die Eindämmung jener Tatkraft. An die deutsche Faustregel erinnernd, besagte die Daumenregel im alten englischen Gesetz, ein Mann dürfe seine Frau mit einem Stock schlagen, sofern dieser nicht dicker als sein Daumen sei.

Daumenregeln: Oft nichts Gutes

Wie die Geschichte zeigt, kommt mit Daumenregeln oft nichts Gutes – weder aus mitmenschlicher noch aus wissenschaftstheoretischer Sicht. Sie folgen auch nicht dem wissenschaftlichen Grundsatz, wiederholbare Ergebnisse zu liefern, um aus ihnen eine Lehre ziehen zu können. Daumenregeln fußen nicht auf nachmessbaren Größen.

So steht der Daumen auch für die sehr subjektive Vermessung der Welt nach der Formel "Pi mal Daumen". Kein Wunder, dass ein Daumenbreit gerne für politische Aussagen verwendet wird.

Bestes Beispiel dafür war das scheibchenweise Hinarbeiten der Nato-Staaten auf ein Einlenken der Sowjetunion in der gesamtdeutschen Frage. Der US-amerikanische Außenminister Baker hatte gegenüber dem sowjetischen Staatspräsidenten Gorbatschow betont, die Nato würde keinen Inch ostwärts expandieren.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben

Baker fühlte sich vom deutschen Außenminister Genscher inspiriert, der in einer Rede am Starnberger See und ein paar Tage später im prachtvollen Katharinen-Saal des Kremls gegenüber seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse in Aussicht stellte, die Nato würde auf die Ausdehnung ihres Territoriums nach Osten verzichten.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Während Russland die damalige Rhetorik noch heute als wichtigen Grund ihrer Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung auffasst, hatten die Regierungen der USA und Deutschlands die Protokolle über Genschers Aussagen gegenüber Schewardnadse jahrelang als geheime Verschlussakte verschwinden lassen.

1990 hatte das übergeordnete Ziel des Nato-Militärbündnisses unter Führung der USA gelautet, die Sowjetunion müsse ihre Truppen aus der DDR abziehen und die Wiedervereinigung Deutschlands billigen. Mit dem Abschluss des Zwei-plus-Vier-Vertrages Ende 1990 hatten Deutschland und die Nato ihr Ziel erreicht.

Im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine argumentiert Russland, dass die Nato nicht einen Inch, sondern inzwischen hunderte Kilometer ostwärts der westdeutschen Grenze expandierte. Mit dem Verlust der Bruderstaaten des Warschauer Paktes schrumpfte der russische Bannkreis im Westen geradezu auf die Breite eines Haares.

Jeden Inch verteidigen

Die Schriftstellerin Marie von Ebner Eschenbach hätte gemutmaßt, schrittweises Zurückweichen sei schlimmer als ein Sturz. Das Auftreten der Nato musste Russland so vorkommen wie ein Fußballspieler, der mangels Schiedsrichterpfiff dauerhaft im Abseits stehen darf.

In Umkehrung der Rhetorik kündigten die USA am 05. März 2022 an, die Nato sei bereit, jeden Inch ihres (neuen) Territoriums zu verteidigen. Die USA, die seit 1935 eine Pyramide (mit dem Auge der barmherzigen Wachsamkeit Gottes über die Menschheit) auf ihrer Ein-US-Dollar Note abbildet, mögen erwogen haben, mit dem Inch voran in den heiligen Krieg zu ziehen.

Im deutschen Sprachgebrauch hätte man vielleicht eher gesagt: "Keinen Schritt weiter".

So wie der Astronom Smyth ein starker Verfechter des britischen Israelismus' war, demzufolge die Briten und folglich viele US-Amerikaner direkte Nachkommen der antiken zehn verlorenen Völker Israels sind, basieren heute wesentliche Entscheidungen höchster Entscheidungsträger der US-Politik auf esoterisch-religiösen Überzeugungen.

Ein Daumenbreit Weltmacht

Pulitzer-Preisträger George Frost Kennan, ein glühender Vertreter der USA für die Eindämmung russischen Einflusses in der Welt, hatte es auf die pragmatische Formel gebracht: "Prestige nennt man die Daumenschrauben, die man auch einer Weltmacht anlegen kann."

In jenem Moment seiner Aussage wird Kennan kaum an den äquivalenten Gegenwert eines Daumenbreits von 2,54 Zentimetern gedacht haben.

Und sehr wahrscheinlich war ihm just ebenso wenig bewusst, dass auch der mittlere Durchmesser der Münzen "1 US Dollar" und "1 Quarter Dollar" bei 2,54 Zentimetern liegt. Unabhängig von der zukünftigen Beziehungsqualität der Rivalen USA und Russland werden die US-Dollarmünzen sehr wahrscheinlich noch lange im Verkehr bleiben - ebenso wie das Yard (2,54 cm x 12 x 3 = 91,44 cm) im anglo-amerikanischen Rugbysport und der Elfmeter im Fußballsport.

Hosenmaße werden weiterhin in Zoll angegeben, und elektromagnetische Wellenlängen in Metern. Menschliche Finger werden weiter unterschiedlich breit wachsen, so wie vermessene Politiker ihre Kulturen weiter anhand unterschiedlichster Daumenmaße prägen werden.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Das Zeit und Raum Buch – Band 2: Der Raum" von Rainer Winters. Die Zwischenüberschriften stammen von der Redaktion.

Die Bücher präsentieren "10.000 wissenschaftliche Perspektiven" in zwei Bänden. "Alles aufgezählt mit der gebotenen hochwissenschaftlichen Knappheit und Trockenheit, und dabei in der Lektüre assoziativ, spielerisch und oft absurd" (SZ).

Band 1 geht über: Die Zeit.

Beide Bände sind in allen Buchhandlungen erhältlich.

Rainer Winters ist Journalist, Umweltwissenschaftler und Whistleblowing-Experte. Zu Whistleblowing und politischen Themen hat er auch bei Telepolis veröffentlicht.