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Die Metapher der Stadt im elektronischen Raum

Bolter erklärt, warum die Metapher der Stadt in der Postmoderne zur Beschreibung des Cyberspace angemessener ist als die der Datenautobahn oder des globalen Dorfes. Gleichwohl bleibt sie Metapher für eine Technologie, die sich auf viele Weisen realisieren läßt.

Warum Telepolis? Warum sollte die Metapher der Stadt zur Beschreibung der interaktiven elektronischen Technologie angemessen sein? Man überlege, wie die Metapher mit gewissen Hauptmerkmalen der postmodernen Kultur zusammenklingt. Die Metapher der Stadt legt es nahe, daß man den Cyberspace als

  1. kollektiv,
  2. heterogen,
  3. räumlich organisiert
  4. und visuell verwirklicht

verstehen sollte.

Kollektiv

Eine zeitgenössische Stadt ist ein Unternehmen, dessen Mitwirkende ein seltsam gedoppeltes Leben führen. Jeder Einwohner verfolgt sein oder ihr Programm, und doch verbinden sich alle Aktivitäten, um der ganzen Stadt eine Entwicklungsrichtung und ein ihr eigenes Leben zu geben. Der Cyberspace, oder zumindest das Internet [1] , besitzt ebenfalls diese Eigenschaft. Wahrscheinlich kann keine andere Metapher als die der Stadt die Spannung zum Ausdruck bringen, durch die individuelle Handlungen zu einem kollektiven Sinn des Zusammenhangs führen. Könnten wir die elektronische Technologie mit einem Bauernhof, einem Haus, einem Wald oder einem Gebirge vergleichen? Keiner dieser Vergleiche scheint angemessen zu sein. Nur die Metapher des Dorfes [2] ist ein Sonderfall. Auch die Bezeichnung des Cyberspace als Datenautobahn [3] ist nicht zutreffend, obgleich das vermutlich die gebräuchlichste Metapher in den USA ist. Überdies stellt die Metapher der Stadt das Soziale über das Individuelle. Vor zwanzig oder dreissig Jahren herrschte ein anderer Vergleich vor, nämlich der zwischen dem (isolierten) Computer und dem individuellen menschlichen Gehirn oder Geist. Die postmoderne Kultur hat kaum noch ein Interesse, dieser Analogie nachzugehen, weil sie das cartesianische Subjekt [4] so gründlich zerstört hat.

Heterogen

Die Datenautobahn unterstellt eine Homogenität. Die Schnellstraße gleicht sich Kilometer für Kilometer. Die zeitgenössische Stadt hingegen ist radikal heterogen, und Heterogenität ist ein großer Wert in der postmodernen Welt. Das Homogene, das Eindeutige und das Universale sind verdächtig geworden. Als Folge steht man prä-urbanen Umwelten mißtrauisch gegenüber, weil sie den Geist der Konformität begünstigen, der jetzt mit dem Vorurteil und kultureller Hegemonie verbunden ist. Telepolis ist daher nicht ganz dasselbe wie das Global village, ein von Marshall McLuhan vor dreissig Jahren geprägter Begriff, der wieder einmal populär und aus der postmodernen Perspektive auf gefährliche Weise gebräuchlich geworden ist. Der Cyberspace und das Internet scheinen radikal heterogen zu sein - eine Mischung von Stimmen, Bildern und Programmen, die nur auf der Anwendungsebene durch die Tatsache vereint sind, daß alle als binäre Einheiten dargestellt werden. Diese operationale Einheit, die den Technikwissenschaftlern so bedeutsam erschien, ist heute offensichtliche keine Beschränkung mehr, da die Bits so wirksam verborgen werden können, daß der Benutzer nichts mehr von ihnen zu wissen braucht.

Räumlich

Wenn wir an eine Stadt denken, stellen wir uns eine komplexe und weitläufige Architektur vor, die die soziale Komplexität und die vielfältigen Funktionen reflektiert. Die räumliche Dimension der elektronischen Technologie ist in dem Begriff "Cyberspace" offenkundig. Ähnlich ist auch der griechische Wurzel "tele" ein räumlicher Begriff, der ganz allgemein "von weit her" oder "weit weg" im Raum bedeutet. Elektronische Kommunikation soll die Entfernung zerstören. Doch Begriffe wie "Cyberspace" und "Telepolis" weisen darauf hin, daß elektronische Technologien nur den Raum neu gestalten und ihn auf andere Weise in unseren Diskurs zurückführen. Diese Technologien helfen uns, uns räumliche Beziehungen zwischen Informationselementen und zwischen Empfängern und Sendern von Information vorzustellen.

Visuell

Die Stadt, die sich über den Raum erstreckt, ist ein visuelles Schauspiel. Man kann vieles sehen, was einem gefällt, aber es gibt auch Behinderungen und Gefahren, die man vermeiden sollte. Die Stadt privilegiert den Blick und das Visuelle [5] , und diese Bevorzugung scheint mir im Kontrast zum Dorf oder zum Heim zu stehen, wo der Ton wichtiger sein könnte als das Sehen. Ein Dorf besitzt nicht dieselbe Architektur wie eine Stadt. Ein traditionelles Dorf ist größtenteils eine Ansammlung von Häusern, eine symbolische Ausdehnung des Heims. Wir nehmen nicht so viel an visueller Neuheit wahr, wenn wir durch ein Dorf gehen, als wenn wir uns in einer Stadt bewegen. Wir finden auch im Heim weniger visuelle Neuheit. Und wir benötigen zu Hause oder in einem Dorf nicht die ausgefeilten Zeichen und Etiketten, wie dies für die Orientierung in der Stadt notwendig ist. Das Dorfleben kann in einer präliteralen Kultur [6] gedeihen, aber eine Stadt scheint der Schrift zu bedürfen. Die Stadt drängt eine Reorganisation der Sinne auf: ein neues Vertrauen in das Visuelle und eine neue sowie komplexe Beziehung zwischen dem Schauspiel oder der Wahrnehmung auf der einen Seite und der symbolischen Kommunikation auf der anderen. Schließlich wird der revolutionäre Aspekt von Telepolis darin bestehen, daß die uns dazu zwingt, das Verhältnis zwischen Sehen und Hören [7] in der Kommunikation und das Verhältnis zwischen dem Wahrnehmbaren und dem Symbolischen [8] in der Repräsentation neu zu bestimmen.

Schluß

Letztlich sollte man sich ins Gedächtnis rufen, daß für die elektronische Technologie, obgleich Telepolis das Kollektive, das Heterogene, das Räumliche und das Visuelle nahelegt, keines dieser Merkmale notwendig oder inhärent ist. Menschliche Technologien mögen nicht unendlich formbar sein, wie dies soziale Konstruktivisten, z.B. Steve Woolgar, glauben, aber es ist sicherlich wahr, daß die elektronische Technologie in einigen unterschiedlichen Weisen realisiert werden kann. Die Datenautobahn, die den individuellen Benutzer privilegiert, der einen relativ homogenen Informationsraum erkundet, ist eine andere Weise der Realisierung. Und wir können uns auch computergestützte Konstruktionen vorstellen (und manche [9] versuchen solche zu realisieren), in denen der Ton dominant ist und das Visuelle nahezu ausschließt.

Als soziale Realisierung der elektronischen Technologie jedoch stellt Telepolis am besten dessen postmodernen Aspekt dar.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3445775

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[1] https://www.heise.de/tp/subtext/telepolis_subtext_3478335.html?artikel_cid=3445775&row_id=1
[2] https://www.heise.de/tp/subtext/telepolis_subtext_3478337.html?artikel_cid=3445775&row_id=2
[3] https://www.heise.de/tp/subtext/telepolis_subtext_3478339.html?artikel_cid=3445775&row_id=3
[4] http://www.gatech.edu/lcc/idt/Faculty/bolter/degrees.html
[5] https://www.heise.de/tp/subtext/telepolis_subtext_3478341.html?artikel_cid=3445775&row_id=4
[6] http://www.aber.ac.uk/~dgc/litoral.html
[7] https://www.heise.de/tp/subtext/telepolis_subtext_3478343.html?artikel_cid=3445775&row_id=5
[8] http://www.gatech.edu/lcc/idt/Faculty/bolter/degrees.html
[9] http://www.gatech.edu/lcc/idt/Projects/Espace2.html