Die Mühen der Ebene
PubMed Central und die Zukunft der Forschungspublizistik
Es gärt weiter in den Redaktionsstuben der biomedizinischen Forschungszeitschriften. Vorreiter des kostenfreien Onlinepublishing wie das British Medical Journal geraten ins Straucheln. Und das ehrgeizigste Projekt der biomedizinischen Forschungspublizistik der letzten 300 Jahre, die kostenlose Internet-Volltext-Datenbank "PubMed Central" wird von vielen als Totgeburt betrachtet. Wer aber ein Jahr nach dem Take-off von "PubMed Central" genauer hinsieht, der erkennt, dass in der biomedizinischen Forschungspublizistik in Zukunft nichts mehr so sein wird, wie es einmal war.
Der Aufschrei war lautstark und die Diskussionen hitzig: Im Sommer 1999 gelang es Harold Varmus, Nobelpreisträger für Medizin und damals Leiter der obersten amerikanischen Gesundheitsbehörden NIH (National Institutes of Health), mit wenigen Worten eine ganze Branche auf die Palme zu bringen. (Siehe dazu auch den Ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaftspublizistik). Varmus kündigte für Januar 2000 die Gründung einer Volltextdatenbank für biomedizinische Forschungsliteratur im Internet an und lud die biomedizinischen Forschungszeitschriften ein, sich daran zu beteiligen. Keine große Sache, sollte man meinen, denn die "Journals" – so der Slang-Begriff in Forscherkreisen - hätten ja "Nein" sagen können, und das taten auch die meisten. Die Autoren selbst, also die Wissenschaftler, hatten da nicht viel zu melden, denn wer eine Arbeit in einem Journal unterbringt, der hat im gegenwärtigen System zwar die Ehre, aber keine Copyright-Ansprüche mehr.
Seit PubMed Central herrscht Unruhe in den heiligen Hallen
Es gab allerdings zwei Gesichtspunkte, derentwegen Varmus Vorschlag nicht so leicht vom Tisch zu wischen war. Zum einen war da der Anspruch aller Forschung und also auch der biomedizinischen, im Prinzip frei, selbstlos und universell zu sein. Dieses hehre Selbstbild kollidiert schon seit Längerem und immer weiter mit der Tatsache, dass State-of-the-art-Forschung in der Mehrzahl der Länder dieser Erde schon daran scheitert, dass sich dort Universitäten, Forschungsinstitute oder Kliniken die immens teuren Abonnementgebühren der Journals nicht leisten können.
Nach Auskunft der "Association of Research Libraries" sind die Abopreise zwischen 1986 und 1999 um durchschnittlich 207 Prozent angestiegen. Gleichzeitig nahm die Zahl der erhältlichen Zeitschriften um 55 Prozent zu. Selbst amerikanische Bibliotheken – die reichsten der Welt – kommen da nicht mehr mit: Die Zahl der von ihnen abonnierten Zeitschriften sank im selben Zeitraum um 6 Prozent. Wie die Verhältnisse in den Bibliotheken der ärmeren Ländern aussehen, kann man sich da ausmalen. Kurz: Bibliotheken müssen für immer weniger Material immer mehr zahlen. Verantwortlich für diese Preissteigerungen sind praktisch ausschließlich die Herausgeber der Magazine, die sich der Unverzichtbarkeit ihrer Zeitschriften für den Wissenschaftsbetrieb und vor allem für dessen Posten-Schacher wohl bewusst sind. Den Vogel schießen dabei solche Magazine ab, die in prestigereichen Forschungsgebieten angesiedelt sind und wenig Konkurrenz haben. So kostet gegenwärtig ein Jahresabonnement der angesehen Zeitschrift "Brain Research" sagenhafte 15.000 US-Dollar. Die Netto-Gewinnmargen der vier großen Herausgeber-Konzerne lagen 1997 bei immerhin 19 Prozent des Umsatzes. Allerdings sind das Extrembeispiele, und viele andere Zeitschriften, vor allem, wenn sie von großen Verlagen unabhängig sind, kalkulieren durchaus knapper.
Der zweite Grund, warum die Journals Varmus Vorschlag nicht einfach übergehen konnten, war: Sie waren schon gebrannte Kinder, was Datenbankpläne der NIH angeht. Man muss dazu wissen, dass die NIH unter anderem die Datenbanken MEDLINE und PubMed verwalten. Sie enthalten Kurzfassungen (sogenannte "Abstracts") fast aller weltweit publizierten biomedizinischen Forschungsarbeiten und werden ständig aktuell gehalten. Als die NIH die MEDLINE vor mehr als 10 Jahren kostenlos ins Netz stellte, waren die Journals nicht gerade angetan davon, konnten es aber auch nicht verhindern. Heute ist biomedizinische Forschung ohne diese Datenbanken kaum mehr vorstellbar. Der Erfolg war so durchschlagend, dass die Journals allen Grund haben, an die Durchsetzungsfähigkeit von neuen Datenbank-Ideen der NIH zu glauben. Die in ihrer Gesamtheit wahrscheinlich größten Datenbanken der Welt werden übrigens bis heute ausschließlich von amerikanischen Steuerzahlern finanziert. Das nur nebenbei.
Zuviel auf einmal für ein seit Jahrhunderten starres System
Varmus hatte bei der Ankündigung von PubMed Central einen Fehler begangen, indem er seine Idee einer kostenlosen Online-Datenbank mit einem anderen sensiblen Thema verknüpfte. PubMed Central, so Varmus ursprünglicher Gedanke, sollte auch Forschungsbeiträge veröffentlichen, die nicht parallel dazu in einer Zeitschrift erscheinen, die also auch nicht den sogenannten Peer Review durchlaufen haben.
Beim Peer Review lesen führende Wissenschaftler eines Fachgebietes ("Peers") Forschungsarbeiten, die bei einer Zeitschrift eingereicht wurden, gegen und empfehlen dann eine Veröffentlichung oder raten davon ab. Varmus und nicht wenige andere halten den Peer Review, was das schnelle Fortschreiten wissenschaftlicher Erkenntnis angeht, für eher kontraproduktiv. Sie berufen sich dabei zum einen auf Untersuchungen, die darauf hinaus laufen, dass ein hoher Prozentsatz von im Nachhinein als bahnbrechend erkannten Arbeiten zunächst durch den klassischen Peer Review durchgefallen sind. Zum anderen schimmert hier Thomas Kuhns Klassiker von 1962 "The Structure of Scientific Revolutions" durch, in dem der Wissenschaftstheoretiker unter anderem die bis heute nicht widerlegte These vertritt, dass die Organisation des Wissenschaftsbetriebs nicht primär auf Fortschritt, sondern auf den Status quo ausgerichtet ist.
Als Nobelpreisträger kann sich Varmus die Unterstützung solcher Ketzerei locker leisten, doch sein Einfluss reichte nicht weit genug, um diese These in die Struktur von PubMed Central einfließen zu lassen. Weil PubMed Central darauf angewiesen war, dass zumindest einige Zeitschriften von Anfang an mitmachten, wurde schließlich auf die Möglichkeit zur Direktveröffentlichung verzichtet, und es war dieser Verzicht, der in weiten Kreisen der Wissenschaft den Eindruck einer Totgeburt verursachte. Als PubMed Central schließlich im Februar 2000 an den Start ging, hatte Varmus selbst die NIH schon wieder verlassen. Sein reges Interesse an neuen Publikationswegen aber nahm er mit, wie wir gleich noch sehen werden.
PubMed Central – Der Stand der Dinge
Man benötigt all diese Hintergrundinformationen, um das Projekt PubMed Central heute, ein gutes Jahr nach seinem Start, beurteilen zu können. PubMed Central begann seine Internetkarriere im Februar 2000 mit den Zeitschriften "Proceedings of the National Academy of Sciences" und "Molecular biology of the cell". Wer heute PubMed Central besucht, findet dort mittlerweile kostenfreien Zugang auf 15 biomedizinische Zeitschriften und einen Hinweis auf mehrere Dutzend, die demnächst dazu kommen werden.
Neben dem Verzicht auf die Direktveröffentlichung weicht PubMed Central in zwei weiteren zentralen Punkten von seinem ursprünglichen Ideal ab. Zum einen hat man das Aktualitätsdogma fallen lassen: Es bleibt der teilnehmenden Zeitschrift überlassen, ob sie ihre Artikel PubMed Central sofort zur Verfügung stellt, oder ob sie es erst mit bis zu 12 Monaten Verspätung tut. Zum anderen besteht PubMed Central nicht mehr auf einem Zugriff über die eigene Homepage, sondern bietet auch an, auf die entsprechende Internetseite der teilnehmenden Zeitschrift zu verlinken. Voraussetzung ist allerdings, dass dadurch nicht die Möglichkeiten zu Querverlinkungen mit anderen Artikeln oder Datenbanken beeinträchtigt werden, die (vor allem im Referenz-Teil) integraler Bestandteil von PubMed Central werden sollen.
Seit Ende März 2001 geht PubMed Central sogar so weit, den Zeitschriften anzubieten, innerhalb des ersten Jahres einen Link auf einen kostenpflichtigen Artikel zu schalten, solange dieser dann von der entsprechenden Zeitschrift nach spätestens zwölf Monaten freigeschaltet wird.
Die subversiven Ideen schlummern im Verborgenen
PubMed Central ist also sehr weit auf die Herausgeber biomedizinischer Zeitschriften zugegangen, und man kann sicher darüber streiten, ob das nun schon Prostitution ist oder eher vertretbares Entgegenkommen, um eine gute Idee in einem starren System nicht scheitern zu lassen. Wer allerdings genauer hinsieht, der erkennt schnell, das PubMed Central einige seiner Ideale quasi im Untergrund weiter verfolgt.
Was vordergründig auf Anhieb nur wie ein weiterer Distributionskanal für ohnehin schon hochprofitable Zeitschriften aussieht, der den Entwicklungsländern und anderen Bedürftigen gnädig einen kleinen Schritt entgegen kommen möchte, experimentiert im Hintergrund durchaus subversiv mit neuen Publikationstechniken. Sie verstecken sich unter anderem hinter dem Online-Magazin BioMed Central, einem brandneuen Forum für die Veröffentlichung originaler Forschungsliteratur, dessen Entstehung sowohl inhaltlich als auch personell eng mit der Gründung von PubMed Central zusammenhängt.
BioMed Central gehört zur Current Sciences Group, einem der großen Herausgeber von biomedizinischer Forschungsliteratur. Es ist gedacht als ein Experimentierfeld für neue Methoden der Forschungspublizistik. So dürfen Autoren, die dort publizieren, zum Beispiel weitgehend das Copyright an ihren Arbeiten behalten - ein Schachzug, der BioMed Central bei den Wissenschaftlern zu Attraktivität verhelfen soll. Der Start von Biomed Central vor einigen Monaten bereicherte die Landschaft biomedizinischer Forschungszeitschriften auf einen Schlag um gut hundert Magazine, die alle mit "BMC-" beginnen, alle nur online zur Verfügung stehen und alle kostenlos sind. Es gibt für so ziemlich jedes Teilgebiet der Biomedizin einen eigenen Titel. Nicht genug, BioMed Central ruft Wissenschaftler aus aller Welt ausdrücklich dazu auf, aufbauend auf der gemeinsamen BioMed-Infrastruktur, eigene Zeitschriften zu gründen. Wer also meint, die Welt brauche dringend eine Zeitschrift über das Liebesleben von Insektenlarven eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, der hat gute Chancen, sie hier genehmigt zu bekommen.
Alle Artikel, die in BioMed Central veröffentlicht werden, erscheinen zeitgleich in PubMed Central. Das allerdings bedeutet, dass BioMed Central in Übereinstimmung mit den Statuten von PubMed einen Peer Review anbieten muss und das auch tut. Der jedoch ist so konzipiert, dass von der eigentlich Peer Review-Idee nicht viel mehr als der Name bleibt: Die ausdrückliche Empfehlung an die Peers lautet, eingereichte Arbeiten im Zweifel zu akzeptieren. Inoffiziell klingt das so: "Wir veröffentlichen alles, was wissenschaftlich klingt und überlassen die Bewertung den Forschern, die damit arbeiten." Mit anderen Worten: BioMed Central bietet Forschern eine Möglichkeit, unter weitgehender Umgehung herkömmlicher Review-Prozesse Arbeiten in den internationalen Forschungsdatenbanken zu platzieren.
Wem das alles verdächtig nach Harold Varmus und seinen ursprünglichen Plänen für PubMed Central klingt, der wird sich nicht wundern, wenn er im übrigens auffällig kleinen "Editorial Board" von BioMed Central an prominenter Stelle über den Namen Varmus stolpert.
Die Zeitschriften stehen vor schweren Jahren
Wie also ist auf dem Markt der Forschungspublizistik die Lage im Jahr eins nach PubMed Central zu beurteilen? Das weite Entgegenkommen gegenüber den Wünschen der Herausgeber biomedizinischer Zeitschriften zeigt, dass die NIH nicht willens sind, auf die Idee einer Volltext-Datenbank mit all ihren immensen Vorteilen (zeitschriftenübergreifende Querverlinkung, direkter Anschluss an andere Datenbanken, etwa an die internationalen Gen- und Proteinbanken oder an die Datenpools der Pharmaforschung) zu verzichten. PubMed Central oder etwas Ähnliches wird sich früher oder später durchsetzen. Der Nutzen für die Forschung ist dafür groß genug.
Eine andere Frage wird sein, wie sich die Zeitschriftenlandschaft weiter entwickelt. Die Antwort darauf wird eher davon abhängen, wie Einrichtungen wie BioMed Central und die vielerorts aus dem Boden sprießenden Preprint-Server von den Wissenschaftlern angenommen werden. Vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus betrachtet ist das der interessanteste Punkt: Er wirft die Frage auf, ob die aristokratisch anmutende Organisation des Wissenschaftsbetriebs der letzten 300 Jahre, wo die Veröffentlichung in einem angesehen Journal dem Lösen einer Clubkarte gleich kam und kommt, eine conditio sine qua non ist, oder ob nicht auch demokratischere Strukturen denkbar wären, wie sie etwa BioMed Central anstrebt.
Die Journals jedenfalls stehen vor schwierigen Zeiten. Sie werden sich verstärkt um redaktionellen Mehrwert bemühen müssen, wenn sie bestehen wollen, egal ob als Papier- oder als Online-Version. Dieser Mehrwert – Editorials, zusammenfassende Reviews, Hintergrundartikel – wird die Nutzer wohl irgendwann einmal Geld kosten, während die Originalarbeiten selbst vermutlich kostenlos sein werden. BioMed Central hat bereits angekündigt, dass es sich mittelfristig mit einer Mischung aus Werbung und einem "pay-by-click"-System für redaktionelle Leistungen finanzieren möchte. Richard Smith und Tony Delamothe vom (ebenfalls in PubMed Central vertretenen) British Medical Journal (BMJ), einem der Vorreiter der medizinischen Online-Publizistik, denken in regelmäßigen Abständen laut über Ähnliches nach.
Gerade das BMJ macht im Augenblick vor, vor welche Probleme mutige Navigatoren in diesem Bereich plötzlich gestellt werden können: Wegen des kostenlosen Internetauftritts des BMJ sinken die Abonnentenzahlen außerhalb Großbritanniens kontinuierlich. Das war von Anfang an einkalkuliert und hätte finanziell abgefangen werden können, wenn es das einzige Problem geblieben wäre. Hinzu kam jedoch kürzlich eine Internetstellenbörse für britische Ärzte, die mit den wöchentlichen Stellenanzeigen jetzt eine sichere Einnahmequelle des BMJ bedroht. Zu allem Überfluss zeigen sich offenbar auch noch die Nutzer von "bmj.com" undankbar, indem sie in wachsender Zahl Software benutzen, die die Bannerwerbung vom Bildschirm entfernt. BMJ-Herausgeber Smith hat dieses Verhalten jüngst zu einem Notruf veranlasst. Dessen Tenor: Entweder die Bannerwerbung wird akzeptiert oder "bmj.com" stirbt. Sollte es soweit kommen, wäre es ein schwerer Schlag für alle Versuche, Forschungsliteratur kostenlos und weltweit zur Verfügung zu stellen.