Die New Economy als verirrter Zombie

Ikone des digitalen Kapitalismus: Eine Limousine ist der Dreh- und Angelpunkt von Don De Lillos neustem Roman "Cosmopolis"

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Don De Lillos neuster Roman "Cosmopolis" (KiWi 2003), der am letzten Tag des Höhenflugs des digitalen Kapitalismus spielt, legt es nahe, sich erneut mit der New Economy auseinander zu setzen, die nicht einfach nur totgeschwiegen wird und "out" ist. Im Gegenteil, neben der Tatsache, dass ihr eine Wiedergeburt bzw. Fortsetzung in den Reihen des Sports, der Luftfahrt und des Militärs widerfahren ist, drängt es sich auf, sie zu historisieren.

Eric Packer, der Protagonist von "Cosmopolis", ist ein erfolgreicher und steinreicher Vermögensverwalter. Er ist De Lillos Vorzeige-Entrepreneuer, einer, der es geschafft hat. Einer, der den Slogan "Everyone Ought to be Rich", der am 27. Dezember 1999 auf dem Titel des US-amerikanischen Managermagazins Forbes stand, verkörpert.

Als Packer an einem Tag im April 2000 seinen Arbeitstag beginnt, hat das eindringlichste aller Versprechen der New Economy noch nichts von seiner Strahlkraft verloren. Alle tüfteln in ihren Garagen an visionären Produkten, um am nächsten Tag an die Börse zu gehen. Alle können in der IT-Branche über Nacht zum Internetmillionär werden.

Die Limousine als Statussymbol der New Economy

Als Statussymbol dieses Serve-and-Volley-Lebensgefühls wird die Limousine gehandelt. Das Luxusvehikel ist nicht nur Ausdruck des neu erworbenen Vermögens. Die Neureichen von nebenan können darin auch den Lifestyle des Strukturwandels perfektionieren: Mobilität und flexible Arbeit, die zentralen Losungen der New Economy, können in der Limousine auf ungekannte Weise kultiviert werden. High-Tech-Ausstattung wie Satellitentelefon und Internetanschluss verwandeln das Auto in ein mobiles Büro, in dem auch Geschäftstreffen und Vorstandssitzungen abgehalten werden können.

Lifestyle, ein als Magazin inszenierter Katalog des Modekonzerns Diesel, treibt das utopische Potenzial des Luxusvehikels in fiktiven Reportagen auf die Spitze: Mombasa Beach wird darin als Zentrum des weltweiten Internetkapitalismus imaginiert. Neben bunten Stimmungsbildern wimmelt es vor Fakten: Beeindruckend, wie viele High-Tech-Unternehmen neu gegründet werden! Unglaublich, wie viele Limousinen die Innenstadt unsicher machen! Schlagzeilen wie "Long Limos, Long Queues" signalisieren, dass die Staumeldungen von den Straßen Afrikas neuerdings nicht abzureißen scheinen und bei einem Fortbewegungstempo von 10 km/h in erster Linie der Komfort der Innenräume zum Tragen kommt. Bei unerträglichen Außentemperaturen kann man sich im gekühlten Limousineninterieur zurücklehnen, abschalten und Champagner trinkend die Aktienkurse in der aktuellen Tageszeitung studieren.

Mombasa Beach als Zentrum des weltweiten Internetkapitalismus (Diesel Werbung)

Wofür es nach Feierabend noch so dienlich sein kann, das veranschaulicht Madonnas Videoclip Music: Tanzen, singen, trinken in einem mobilen Ambiente mit multimedialer Rundumbetreuung. Goldkettchenbehangen sitzt die Pop-Ikone auf dem ausladenden Rücksitz und trällert was von Bündnissen zwischen Rebellen und der Bourgeoisie - Lyrics, die umgehend im New-Economy-Repertoire klassenübergreifender Heilsbotschaften aufgenommen werden.

Don De Lillo erweist sich als sachkundiger IT-Historiker mit Gespür für die popkulturellen Codes jener Branche, wenn er Packer seinen Arbeitstag in einer mit allen digitalen Finessen versehenen Limousine verbringen lässt. De Lillos Beschreibungen des Multimedia-Arbeitsplatzes beeindrucken dabei am meisten:

Er ließ den Blick über die Datenschirme schweifen. Sie waren in abgestufter Entfernung vom Rücksitz aufgestellt, flache Plasmamonitore in verschiedenen Größen, einige zu einem Cluster gruppiert, ein paar andere projizierten einzeln aus seitlichen Einbauschränken. Die gesamte Anordnung war eine Videoskulptur, ansprechend und luftig, mit proteischem Potenzial, und jedes Gerät war so gebaut, das es herausschwingen, zuklappen oder unabhängig von den anderen arbeiten konnte.

Bemerkenswert ist allerdings nicht nur De Lillos Liebe zum technischen Detail und die philosophisch angehauchten Metaphern, die er dort hineinzudichten sucht. Bemerkenswert ist auch, dass er die Limousine zum Dreh- und Angelpunkt einer individuellen Wirklichkeitserfahrung macht. Mit seinen Beschreibungen des diesem geschlossenen System eigenen Point-of-View erweitert er das Bild der Limousine als Ikone des digitalen Kapitalismus: Immer wieder macht De Lillo Diskrepanzen anschaulich zwischen den Bildern von der Wirklichkeit, wie sie Packers Monitore liefern (gespeist mit Daten aus den Netzen von Sicherheits-, Finanz- und Nachrichtendiensten), den Bildern von der Realität, wie Packer sie durch die Windschutzscheibe seines Luxusvehikels wahrnimmt, und den Bildern, die mit teils überwältigender Kraft über Packer hereinbrechen, wenn er die rohe Straße betritt, konfrontiert mit menschlichen Körpern, "die sich gegen die Abstraktion des globalen Kapitals behaupten" (Allan Sekula).

In "Cosmopolis" wird dieses Bild von Spencer Tunick "nachgestellt"

Die Diskrepanzen dieser Wirklichkeitserfahrung nehmen mit der Zeit dramatisch zu. Parallel dazu beginnen weltweit die Kurse zu wackeln, geraten die Finanzmärkte ins Trudeln. Entwicklungen, die sich immer erbarmungsloser dem analytischen Zugriff des achtundzwanzig Jahre alten Vermögensverwalters versperren. Als Packer merkt, dass er die abrupten Schwankungen nicht mehr lesen kann, die durch den Yen verursacht werden (die Währung "bildet" sich einfach nicht mehr für ihn "ab"), beginnt ihm sein Leben zu entgleiten. Bewusst inszeniert er mit kühlen Pathos einen Kontrollverlust, der einen ersten Höhepunkt wohl dann erreicht, als er seinen Leibwächter mit dessen eigener Waffe auf einem Basketballplatz hinrichtet. Dieser individuelle Kursverfall wird als Grenzwerterfahrung beschrieben, aus der Sicht eines todessehnsüchtigen Kandidaten, der Lust am nihilistischen Scheitern empfindet. In einem Interview mit Esquire (April 2003) zeichnete De Lillo folgendes Profil:

The man, Eric Packer, is young, brilliant, ruthless, a billionaire asset manager. Reads serious poetry, speaks several languages, owns a decommissioned nuclear bomber, and has had his stretch limousine cork-lined against the city's street noise. And on this particular day, he is feeling a certain intimation of mortality. The idea occurred to me just about the time that the market was beginning to flatten out, which was spring 2000. I then realized that the day on which the action occurs would be the last day of the era - the golden age of cybercapital, with booming global markets and rampant dreams of individual wealth.

Als Packer am Ende ist, wirkt auch seine Limousine wie ein Wrack: Zerbeult, zerkratzt, zerschunden, eingedellt, besprüht und bemalt, eine Ikone des Verfalls, die lange, ihrer Zeit vorauseilende Schatten wirft. Ja, sie wird zum ausrangierten Schiff, das keiner mehr haben will, das aber auch hoffnungslos auf seine Entsorgung wartet. Kurz, ein Geisterschiff, das Folgeerscheinungen der New Economy, wie deren Fortleben in den Reihen des Sports, Militärs und der Luftfahrt als das orientierungslose Treiben eines Zombies erscheinen lässt.

Don De Lillos "Cosmopolis"-Lesereise in Deutschland:

23.09.03 Köln, Odeon
24.09.03 Hamburg, Freie Akademie der Künste
25.09.03 Berlin, Deutsches- Historisches Museum (Lesung aus Libra)
26.09.03 Zürich, Dolder Grand Hotel