"Die Ordnung permanenten Selbstbetrugs"
- "Die Ordnung permanenten Selbstbetrugs"
- "Ein falsches Versprechen auf Autonomie"
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Nötig wäre das Eingeständnis der Kultureliten, wie schlecht die Arbeit und das Leben geworden ist. Über grausamen Optimismus und Kulturarbeit - Interview mit Michael Hirsch.
In seinem Buch "Kulturarbeit. Progressive Desillusionierung und professionelle Amateure" analysiert der Philosoph und Kulturwissenschaftler Michael Hirsch dieselbe zwischen den Polen Vorschein einer gelingenden Lebenspraxis und permanenter Selbstoptimierung. Telepolis sprach mit dem Autoren.
Herr Hirsch, bitte verzeihen Sie die paradoxe Frage, aber ich denke, dass es in Ihrem Buch wesentlich darum geht: Wie ist wachsende Selbstbestimmung in einer Welt fortschreitender Determination möglich?
Michael Hirsch: Die Frage ist ja nur scheinbar paradox, ist sie doch die Frage schlechthin einer jeden fortschrittlichen Linken im Spätkapitalismus und artikuliert einen Grundwiderspruch: Wachsenden progressiven Potentialen, in der Bildung, bei technischen Produktivkräften und sozialen Bewegungen (Arbeiter-, Frauen-, Umwelt-, Mieterbewegungen und anderen) stehen regressive gesellschaftliche Entwicklungen im Bereich Demokratie und Rechtsstaat, soziale und wirtschaftliche Gleichheit und konformes Bewusstsein produzierende Kultur- und Medienindustrien gegenüber. Alle politischen und intellektuellen Bemühungen der fortschrittlichen Seite stehen in diesem Spannungsfeld.
"Modelle einer von Selbstzurichtung partiell befreiten Verhaltens- und Lebensweise"
Und darum geht es in Ihrem Buch…
Michael Hirsch: Genau. In meinem Buch geht es darum, die Entwicklung der Produktionsverhältnisse in den kulturellen Apparaten der Gesellschaft einer kritischen Analyse zu unterziehen: Sind die Arbeitsverhältnisse in Wissenschaft, Kunst, Literatur, Theater und Medien dazu angetan, einen Beitrag zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung zu leisten?
Verkörpern die in ihnen Arbeitenden glaubhaft Modelle einer von den Stigmata von Entfremdung und Selbstzurichtung der Lohnarbeitsgesellschaft partiell befreiten Verhaltens- und Lebensweise? Verneint man diese Frage, dann müssen wir fragen, wie wir zugleich die rückschrittlichen Tendenzen in der Verfasstheit intellektueller Arbeit analysieren und an den in ihnen angelegten emanzipatorischen Hoffnungen festhalten können.
Die viel beklagte Schwäche der Linken kommt daher, dass sich wenige trauen, diese Frage offen zu diskutieren. Denn dazu würde es auch gehören, nicht nur das Unrecht und das schlechte Leben in der Gesellschaft insgesamt, also das Leiden der anderen, sondern auch das eigene Leiden zu artikulieren.
"Verhaltensmodelle, die von der Entfremdung befreit sind"
Wie begreifen Sie Kulturarbeit im Vergleich zur Arbeit in der herkömmlichen Ökonomie?
Michael Hirsch: Kulturarbeit ist ein potentiell befreites Modell menschlicher Verhaltens- und Arbeitsweisen. In den Grundrechtinstituten der Wissenschafts-, Kunst-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit stecken emphatische Auffassungen vom Begriff der Freiheit, die sehr konkret gegen die üblicherweise herrschenden Zwänge zur Nützlichkeit, Verwertung und Rechtfertigung menschlicher Arbeit und Produktivität stehen.
Sie stehen für Verhaltensmodelle, die von der Entfremdung im Regime der Lohnarbeit teilweise oder sogar ganz befreit sind: also Formen, Modelle des Arbeitens um der Sache willen, um der jeweiligen Wahrheiten und Schönheiten der Politik, der Wissenschaft, der Kunst willen.
"Das eigentliche Berufsethos geistiger Arbeit wird korrumpiert"
Können Sie das konkretisieren?
Michael Hirsch: Die soeben beschriebenen Modelle stehen prinzipiell gegen die jeweiligen Betriebssysteme von Wissenschaft, Kunst, Theater, Medien usw. und ihre Herrschaftsverhältnisse.
Steigen nun wie heute die ebenso systemischen wie persönlichen Herrschaftspotentiale der kulturellen und intellektuellen Professionssysteme (und zwar ebenso im öffentlichen wie im privaten Bereich), wird die emphatische Logik der Autonomie, der eigentliche Berufsethos geistiger Arbeit, korrumpiert. Dann entwickeln sich die dort angelegten Freiheiten wieder zurück wie in mittelalterliche oder feudale Zeiten, wo die geistlichen und weltlichen Auftraggeber großen Einfluss auf die Arbeit der Künstler und Wissenschaftler hatten.
"Das Dispositiv von Kreativität und Entfaltung des Selbst ist zur ideologischen Begleitmusik steigender Zwänge geworden"
Was ist der Unterschied zur herkömmlichen Lohn-Arbeit?
Michael Hirsch: Nun, der Unterschied zwischen kultureller Arbeit im emphatischen Sinne und anderen Formen von (Lohn-)Arbeit liegt eben darin: Dass in Wissenschaft und Kunst diejenige Anteile des Arbeitens und Verhaltens, die ein Leben für Wissenschaft, Kunst oder auch Politik darstellen, gegenüber denjenigen Anteilen, die auf ein Arbeiten für ein Leben von der Kunst, Wissenschaft oder Politik abzielen, eine strikte normative Priorität besitzen.
Sie ist bedroht, wenn Wissenschaften und Künste zunehmend ökonomisiert und bürokratisiert werden. Dann kehrt sich die Logik der Differenz zwischen intellektueller, kultureller Arbeit hier, ökonomischer Lohnarbeit dort zunehmend um: Kunstschaffende und Wissenschaftler werden zunehmend gezwungen, ihre Arbeit dahingehend umzugestalten und umzufunktionieren, dass sie von ihr leben können – tun aber so, als ob das nicht der Fall wäre, als ob sie "freiwillig" tätig wären, als ob sie also für Wissenschaft, Kunst usw. leben würden.
Der Anschein der Autonomie ist für die Kulturarbeiterinnen und -arbeiter genau in dem historischen Moment zu einem wichtigen ideologischen Schleier geworden wie für andere avancierte Bereiche der neoliberalen Ökonomie, wo das Dispositiv von Kreativität und Entfaltung des Selbst zur ideologischen Begleitmusik steigender Zwänge zur Unterwerfung des Selbst unter den Zwang zu Optimierung und Verwertung der Arbeitskraft geworden ist.
"Nicht im Sinne eines besonderen Privilegs der Freiheit einer kleinen Minderheit"
Was ist die "konkrete Utopie" in der Kulturarbeit und wie lässt sich dieser "Traum von einem besseren Leben" versuchsweise in Realität setzen?
Michael Hirsch: Die konkrete Utopie in der Kulturarbeit ist wie gesagt die Arbeit an praktischen Modellen einer vom Zwang zur Nützlichkeit befreiten Tätigkeit. Die Kulturarbeiter:innen stehen darin für ein allgemeines Modell der Kritik an den Zwängen der Lohnarbeit.
Wenn sie also ihre besondere Utopie eines bestimmten Lebens und Arbeitens, wie ich es fordere und versuche, selbstbewusster verteidigen und bewerben, dann tun sie dies nicht im Sinne eines besonderen Privilegs der Freiheit einer kleinen Minderheit. Sondern sie tun es im Sinne der Befreiung aller.
Der erste Schritt in diese Richtung heute wäre das Eingeständnis größerer Teile der Kultureliten, wie schlecht ihre Arbeitsbedingungen, und damit auch wie schlecht ihr eigenes Leben geworden ist.
"Das role model des professionellen Amateurs
Was kann man dagegen tun?
Michael Hirsch: Wir müssen lernen, das eigene Leiden im Namen des Leidens aller an Entfremdung, sozialer Ungleichheit und Überarbeitung zu artikulieren. Dazu gehören Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen und Gagen, Mindestlöhne und neue soziale Rechte ebenso wie der praktische Einsatz für neue role models.
Nicht mehr die vulgäre Logik des Managers und Unternehmers, wie sie für große Teile der Kultur- und Wissenschaftsindustrie typisch geworden sind – sondern die emphatische Logik eines vielfältigen Menschen, der aus Lust, Wissens- und Erkenntnisdrang, und aus dem Gefühl eines allgemeinen Auftrags heraus tätig ist.
Dem Traum von einem besseren Leben kommen wir dadurch etwas näher, indem wir ihn versuchsweise, modellhaft in unserem Sprechen und Handeln andeuten – anstatt ihn unter den Zwängen der Professionalisierung zu begraben.
Daher plädiere ich in meinem Buch für das role model des professionellen Amateurs: also für eine Wissenschaftlerin, einen Künstler, eine Schriftstellerin, einen Journalisten, die nicht nur allgemein für ihre Wahrheiten eintreten, sondern ungleich mehr als bisher für ihr eigenes gutes Leben, und gegen das schlechte Leben, an das sich die meisten so fahrlässig gewöhnt haben.
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