"Die Ordnung permanenten Selbstbetrugs"
Seite 2: "Ein falsches Versprechen auf Autonomie"
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Sie sprechen in Bezug auf das gegenwärtige neoliberale System von einer "Ordnung permanenter Verarschung". Wie meinen Sie das?
Michael Hirsch: Das Handeln mit falschen Versprechungen ist konstitutiv für die avancierte neoliberale Ökonomie. In ihrem Herzen steckt ein falsches Versprechen auf Autonomie, deren arbeits- und sozialrechtliche Seite Prekarität und Scheinselbständigkeit ist. Hier sind die kulturellen Soloselbständigen schon länger auf eine traurige Weise Avantgarde, indem sie wie die Esel einer für die allermeisten unerreichbaren Karotte hinterherlaufen.
Die Kulturarbeiterschaft arbeitet schon lange so, wie es im Bereich der neuen Dienstleistungsindustrien erst in jüngerer Zeit in der sogenannten Gig- oder Plattform-Worker üblich wurde: Eine arbeitsrechtlich ungeschützte Form des Hoffens und Wartens auf Aufträge; ein finanziell nicht entlohnter permanenter Bereitschaftsdienst und eine permanente Bereitschaft zur Mehrarbeit, die mit unseriösen Versprechen auf Beförderung oder Festanstellung immer wieder neu geködert und angeheizt wird.
"Im Herzen der Gegenwart lebt ein 'grausamer Optimismus'"
Sie beschreiben die Kulturarbeit mitunter als eine Domäne, in der ein "repressives System falscher Erwartungen" vorherrschend ist. Dies scheint mir aber nicht nur auf die Kulturarbeit zuzutreffen…
Michael Hirsch: Die Essenz der neoliberalen Arbeitsformen liegt darin, auf eine Zukunft zu spekulieren, die realistischerweise nicht kommen wird, und damit eine Gegenwart zu akzeptieren, die schon längst kein gutes Leben mehr ist. Dies trifft für die kulturellen Soloselbständigen ebenso wie für andere Soloselbständige und Teile des neuen Dienstleistungsproletariats zu.
Im Herzen der Gegenwart lebt, wie es die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Lauren Berlant nennt, ein "grausamer Optimismus", der auf perfide Weise mit längst enttäuschten Erwartungen operiert.
Hier sind die in der Kultur Arbeitenden auf besondere Weise gefordert zur praktischen Kritik und zur konkreten Utopie: Gegen diesen grausamen Optimismus eine, wie ich es nenne, progressive Desillusionierung zu richten.
Eine Desillusionierung, die uns auf der einen Seite von falschen Hoffnungen befreit – solchen, die uns sowohl den jeweils Mächtigen der Professionen der Kunst, Wissenschaft und Medien unterwerfen, als auch einer repressiven Sozialmoral, die ein schlechtes, entbehrungsreiches Leben nach außen und vor sich selbst als gelungen darstellt.
"Eine ganz andere Leichtigkeit als die bornierten Professionellen"
Die progressiven Amateure gehen auf Distanz zur Logik der Professionalität, sie entwickeln einen anderen Ernst und eine ganz andere Leichtigkeit als die bornierten Professionellen. Sie sind zwar natürlich weiterhin Teil des Systems, aber eben nicht ganz, also gleichsam so, als ob sie nicht Teil desselben wären.
In diesem verwandelten Berufsethos, dem unzählige Künstler:innen, Wissenschaftler:innen, Schriftsteller:innen und Journalist:innen schon lange folgen, blitzt eine utopische Qualität des eigenen Lebens und Arbeitens auf. Man muss diese stärker sichtbar machen, und mit sozialer und materieller Unterstützung ausstatten.
So könnten wir vielleicht demnächst wieder Avantgarde werden für gesellschaftliche Arbeitsverhältnisse insgesamt: für das emanzipatorische Ziel, dass alle weniger arbeiten, damit alle arbeiten, und besser leben können.
Wofür also Wissenschaftler, Künstlerinnen und Journalistinnen kämpfen sollten, ist dasselbe, wofür alle kämpfen sollten: Mehr freie Zeit und mehr materielle Sicherheit für alle.
Und damit auch mehr Distanz zur Macht der jeweiligen Arbeit- und Auftraggeber, ganz gleich ob im Öffentlichen Dienst oder in der Privatwirtschaft, die viel zu lange damit durchkamen, die Einzelnen mit falschen Versprechungen zu Mehrarbeit und Unterwerfung zu erpressen.
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