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Die Orgie der Kommunikation

Bild: Pixabay License

"Seht her, in welches Lager ich gehöre!" Wie Corona die öffentlichen Diskurse infiziert

"Ich höre nicht zu Ich sehe nicht hin damit ich überhaupt wieder irgendetwas hören und sehen kann

Die goldenen Zitronen, "Scheinwerfer und Lautsprecher"

Die Videos der Aktion #allesdichtmachen haben eingeschlagen wie eine Bombe. Auch zwei Wochen nach der Veröffentlichung tobt eine weitreichende Debatte. Gestritten wird um Meinungsfreiheit, verengte Diskursräume und den Vorwurf des "Querdenkertums".

Die Initiatoren wollten die Corona-Maßnahmen der Regierung kritisieren und durch Polemik eine Diskussion anstoßen. So zumindest die Idee. Geändert hat sich allerdings nicht viel. Vielmehr zeigt sich, dass die öffentlichen Debatten der Gegenwart zunehmend überhitzen.

Es wird nicht mehr oder anders über die Corona-Maßnahmen diskutiert als noch vor dem beißenden Sarkasmus von #allesdichtmachen. Im Grunde hat sich lediglich die Corona-Debatte auf ein weiteres Feld verschoben. Mit aller Wucht, wütend und tiefe Gräben ziehend. In der geht es nun hauptsächlich darum, ob überhaupt Kritik möglich sei in diesem Land, ob man noch sagen könne, was man wolle.

Die Mehrheit der Medien mag die Aktion abgelehnt haben. Auf Twitter und Facebook aber tobten Debattenschlachten, in denen zwei Lager wütend miteinander diskutierten. Zwar gibt es immer noch ein Dazwischen, zu finden in den Grautönen und Zwischentönen, im Zaudern und der sachlichen Analyse. Doch der Furor droht all das Abwägende zu überdecken.

Festgebissen

Die Mehrheit hat sich an einer Debatte festgebissen, die sinnloser nicht hätte sein können und die nicht erst mit diesen Videos begonnen hat. Es ist lediglich eine neue Runde medialer Erregung. Die Öffentlichkeit wirkt wie eine außer Kontrolle geratene Maschine, deren Treibstoff der Affekt ist.

Unter den Kritikern der Corona-Politik gibt es eine Gruppe, die man vereinfachend als Verteidiger der Freiheit bezeichnen kann. Die Argumente der Akteure, die von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer über Philosoph Julian Nida-Rümelin bis zur Journalistin Franziska Augstein reichen, mögen in den Feinheiten unterschiedlich sein.

Doch einer der gerne gemachten Vorwürfe lautet: Ein blinder und unnachgiebiger Moralismus blockiere eine notwendige, differenzierte Diskussion über die angemesseneren Maßnahmen in der Pandemie. Der gegen Kritik abgedichtete Diskurs über die Corona-Maßnahmen bedrohe die Meinungsfreiheit. Und das Mantra "Aber es sterben doch Menschen" verdecke all die anderen Probleme (Existenzängste, Depressionen), die im Zuge der Pandemie auftauchen.

"Es muss Haltung gezeigt werden"

Im Fall von Dietrich Brüggemann, Regisseur und Mitinitiator von #allesdichtmachen, geht es um eine grundsätzliche Infragestellung der Maßnahmen. Man lese seinen Blog [1] und wird auf Zeilen wie diese stoßen:

Es sind jeweils zivilisatorische Errungenschaften. Man sperrt seine Bürger nicht ein, man erschießt sie nicht an der Grenze, man richtet Verbrecher nicht hin, und man verbietet nicht weite Teile des öffentlichen und kulturellen Lebens, woraufhin Menschen ihre Existenz verlieren, in Armut und Depression abstürzen, und Kinder und Jugendliche ein Jahr oder mehr ihrer Entwicklung versäumen (nicht weil Schule ausfällt, sondern weil ALLES ausfällt).

Dietrich Brüggemann, Regisseur und Mitinitiator von #allesdichtmachen

Hier werden die Opfer aufgewogen, in eine perfide Gleichung gesetzt. Doch statt einer kritischen Revision unseres Gesundheitssystems und unseres ökonomischen Umgangs mit Krankheit und Tod bleibt es bei einem schulterzuckenden Relativismus: Dann könne man auch gleich das Autofahren verbieten und gesunde Ernährung und Sport vorschreiben. Bei Brüggemann steht:

"Die Menschen schultern das Risiko und leben ihr Leben weiter. So sind sie, die Menschen. Andere gibt’s nicht."

Wir müssen uns einfach daran gewöhnen. Corona sei irgendwann wie ein Autounfall, dessen Risiko wir auch jeden Tag wie selbstverständlich hinnehmen.

Es ist zu spüren, wie sich der vorliegende Text selbst in eine Erregung bringt. Genau an diesem Punkt setzt die selbstzersetzende Spirale der Meinung ein. Es muss Haltung gezeigt werden.

Und schon geht es mehr um die Kritik an Brüggemann, Nida-Rümelin und Co. und weniger um die wesentlichen Dinge. In der Dynamik der digitalen Kommunikation wird das Medium sehr schnell selbst zur Message. Die Kritik wird zu einer Währung der eigenen Identität: Seht her, in welches Lager ich gehöre! Aber folgen wir dieser Dynamik noch für einen Moment.

Freiheit zum Tode?

Lange könnte man über diese Freiheit sprechen, die im Grunde eine Freiheit zum Tode ist. Darüber, dass der Freiheitsbegriff zu einer leeren Formel zusammenschrumpft. Ich mag frei sein, mein Risiko abzuwägen und kann mich dazu entscheiden, das Leben trotz Virus zu genießen. Denn was ist dieses Leben schon wert, wenn es auf das bloße Überleben reduziert wird?

Nur habe ich dabei auch meine Nachbarn, die Arbeitskollegin oder meine Schwiegereltern gefragt, ob sie mit dieser Freiheit einverstanden sind? Es geht nicht einfach um mich. Es geht immer auch um die anderen. Diese intersubjektive Dimension der Pandemie kommt in diesem Streit zu kurz.

So lange wir arbeiten müssen und dabei von der Vernunft des anderen abhängig sind, gehen die Argumente der liberalen Freiheitswächter nicht auf. Es gibt einen Unterschied zwischen einem minimal kalkulierbaren Risiko, indem sich der Lustgewinn und die Gefahr in ein Verhältnis bringen lassen, und dem Risiko, das mir auferlegt ist, von außen kommt, dem ich mich nicht wirklich entziehen kann. Es ist ein Unterschied zwischen einer Klettertour an einem Steilhang (privates Vergnügen) und der Fahrt zum Büro in einem überfüllten Fahrstuhl.

Warum streiten wir uns nicht über den vorherrschenden Leistungsdruck?

Aber wieso streiten wir über die Maßnahmen (Ja vs. Nein) und nicht über den vorherrschenden Leistungsdruck, die unnachgiebige Organisation der Arbeit. Auch darüber könnte man unterschiedlicher Meinung sein. Aber systemisch wären diese Fragen relevanter. Geht es in unseren Bildungseinrichtungen überhaupt noch um Bildung? Oder müssen einfach nur die Prüfungen abgelegt werden, weil sonst keine Verteilung der Arbeitskraft stattfinden kann? Alle erschöpfen sich und sprechen doch nicht über die grundlegenden, ökonomischen Gründe dieser Erschöpfung. Stattdessen Schauspieler und Satire und Zynismus.

Wir führen ständig einen restaurativen Diskurs. Einen Diskurs, in dem der Kanzlerkandidat der Union wieder von einer Entfesselung der Wirtschaft faseln darf. Es reicht nicht mal für neuen Wein in alten Schläuchen? Oder war es andersherum?

Wir tun also weiterhin so - sei es nun explizit oder implizit - als würde das vorher gelebte Leben schon wieder einsetzen, sobald dieser virale Sturm an uns vorübergezogen ist. Doch die Pandemie ist ein Ereignis, dessen Ausmaß und Folgen wir noch gar nicht absehen können. Möglicherweise wird nichts sein wie zuvor, selbst bei einer vollständigen Öffnung.

Statt Analyse nutzlose Verschwendung unserer Energie

Doch an die Stelle einer Analyse dieser komplexen Erschütterung tritt eine nutzlose Verschwendung unserer Energie. Wir verschwenden unsere Energie, um über ein paar mehr oder weniger schlechte Videos ein Urteil zu fällen, obwohl darin nichts Vernünftiges über unsere Zukunft ausgesagt wird.

Wo die Naturwissenschaften vorgelegt haben und Impfstoffe entwickelt haben, hinken wir in der gesellschaftlichen Debatte zurück. Es gibt keine Utopie, keine neuen Begriffe, mit denen wir aus der Zukunft heraus unsere Gegenwart transformieren könnten. Um es mit Nick Srnicek und Alex Williams zu sagen:

"Um voranzukommen, müssen wir sowohl eine geistige Kartierung des bestehenden Systems als auch ein spekulatives Bild eines zukünftigen ökonomischen Systems entwickeln."

Wir aber kritisieren uns gegenseitig in der Gegenwart. Wir kreisen um uns selbst. Dabei müssten wir auch mögliche Zukünfte zeichnen, um uns aus der Gegenwart zu sprengen.

Nein, wir diskutieren nicht zu wenig. Die Öffentlichkeit hat kein Problem. Oder doch. Sie hat ein Problem. Sie wird sich selbst ihr größter Feind - kurzatmig, erregbar und narzisstisch.

Nicht die Meinungskorridore sind verengt. Wir diskutieren schlichtweg zu viel. Oder: Wir diskutieren falsch, schlecht und ungenügend. Aber eben auch zu viel. Berge aus Tweets türmen sich auf. Jedem seine Position.

Meinung ist immer Kritik und Kritik in ihrer feuilletonistischen und digital hochgezüchteten Art ist impotent geworden, ein Tool für Aufmerksamkeitserzeugung und hegemoniale Verschiebungen innerhalb des Bestehenden. Dies gilt auch für die erste Hälfte dieses Textes, die der Debatte nichts hinzugefügt hat.

Bereits Jahre vor der Pandemie gab es visionäre Stimmen in diese Richtung, erfolgte eine Kritik der Kritik. Doch Armen Avanessians These von der (selbst-)legitimierenden Funktion von Kritik (kritischer Meinung) aus dem Buch "Überschrift" verpuffte 2015. Es ist allerhöchste Zeit diese These auf die Gegenwart anzuwenden.

Eindeutigkeit und Ironie

Die Korridore sind also verstopft. Zugestopft mit Meinungen und Haltungen, moralischen Lackmustests und spontanen Reaktionen auf den neuesten Tweet, mit dem wir uns wieder einem Lager zuordnen. Verschwunden ist die lange Form, die Dauer eines Diskurses.

Omnipräsent ist die Form des Kommentars, des Meinungsstücks, das selbst immer mehr zu einem Stückwerk wird. Soziale Medien sind eine Affektmaschine. Sie machen uns zu Identitäten, zwingen uns zu Eindeutigkeit oder ironischem Witz.

Wer auf Twitter reüssieren will, muss schnell sein, witzig und pointiert. Alles, was zu komplex ist, was abwägt und sich Ambivalenzen stellt, geht in der Tendenz unter. Wenn wir von einer Verengung sprechen können, dann von einer Verengung der Formen, die jede Äußerung in die Nähe von Marketing rücken.

Die Aufmerksamkeitsökonomie, die Verrechnung der eigenen Identität, also die ökonomischen Strukturen dieser durchdrehenden Diskurse. Wir werden nicht nur zu Werbekörpern (man lese das spannende Buch von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt "Influencer"), sondern auch zu Meinungssendern.

Meinungen sind allerdings häufig aus dem Bauch heraus, spontan und emotional. Die lange Form der Reflexion, des Abwägens und Argumentierens fehlt. Mit jeder Meinung wird mehr Affekt in die öffentliche Debatte gepumpt, bis der Ballon vor zu viel Unübersichtlichkeit und Antagonismus platzt. Im Wettstreit der Meinungen verlieren wir alle. Politisch sind einzig Argumente. Und für diese braucht es Zeit und Stille.

In seinem Buch Die fünf Sinne schreibt der 2019 verstorbene französische Philosoph Michel Serres über die betäubende Wirkung des kommunikativen Lärms: "Wer ständig spricht, leidet: mit Drogen betäubt, anästhesiert, addicted, dem dictum, dem Gesagten verfallen."

Stillgestellt, unseren wachen Sinnen beraubt, hetzen wir Wiederholungen hinterher. Teilen, liken, sammeln und saugen auf. Aber wann ordnen wir diese Dinge eigentlich ein? Und wann ziehen wir die richtigen Schlüsse. Wir können nicht so weiter machen. Es gibt kein Zurück mehr. Corona. Klimakrise. Steigende Ungleichheit. In welcher Zukunft wollen wir leben?

Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir eine Stille. Erneut Serres: "Stumm dagegen gehe ich dem Schweigen entgegen, der Gesundheit, ich setze mich der Welt aus. Sensibel, rezeptiv, feinfühlig erkennt der Sinnesfühler das bereits Gesagte, Wiederholt, und zieht sich rasch zurück, wartet aufmerksam, aus dem Lot oder nicht im Gleichgewicht gegenüber der Sprachmasse, wie eine empfindliche Antenne wartet er auf das Unerwartete, erkennt er das Unkenntliche, sensible in die Stille hinein."

Etwas griffiger formuliert: Unsere Zukunft liegt in ein wenig mehr kontemplativer Stille und weitaus weniger Aufregung. Wenn Corona eben auch eine Orgie der Zeichen, der Kritik und der Meinungen ist, dann müssen wir uns der Frage stellen: "Was tun nach der Orgie?"


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