Die Politik der Behauptung
Das Massaker von Dschenin
Zerstörte Häuser, vor Trauer und Wut rasende Menschen, Leichen in Plastiksäcken: An der Oberfläche der Bilder scheint es klar - in Dschenin ist es zu einem Massaker gekommen. Aber angesichts der jüngsten Geschichte instrumentalisierter "Massaker" ist Vorsicht angebracht.
Es ist eine Binsenweisheit, dass die Medien die Wahrheit nicht berichten, sondern herstellen. Mehr und mehr erweist sich, dass diese vorläufige Wahrheit routinemäßig der späteren Prüfung bedarf. Leider aber kann diese Prüfung oft erst dann Erfolg haben, wenn die Wahrheit Version 1.0 als Spielmarke im politisch-propagandistischen Diskurs keinen Wert mehr hat. Mit anderen Worten: Wenn die Wahrheit gefunden ist, ist sie so wertlos wie die Zeitung von gestern.
Nehmen wir zum Beispiel das "Massaker von Racak". Man erinnert sich: 1999, die Mobilisierung zur Liquidierung Restjugoslawiens war voll im Gange, da gab das "Massaker" von Racak den wohlfeilen Anlass, die Propagandamaschinerie einen Gang höher zu schalten. Der Leiter der OSZE-Mission im Kosovo, William Walker, erklärte, dass hier Beweise vorlägen, die Serben massakrierten unbewaffnete Zivilisten. Joschka Fischer stilisierte Racak zu einem "Wendepunkt" hoch; dies der Wendepunkt auf einem Weg, der ihn später eine deutsche Kriegsteilnahme im Kosovokrieg mit herbeiführen ließ, weil es ein zweites Auschwitz auf dem Balkan zu verhindern gelte. Allein: Das Massaker von Racak war wohl keines. Jedenfalls möchte man nicht mehr davon sprechen, nachdem die Erstversion der Wahrheit extrem fragwürdig geworden ist.
Das Spiel wiederholte sich in verschiedenen Varianten bei der Auseinandersetzung um das Kosovo immer dann, wenn es die Aufmerksamkeit des Publikums zu erwecken oder in eine bestimmte Richtung zu lenken galt. Der angebliche "Hufeisenplan" der Serben zur Vertreibung der Kosovaren, das angebliche KZ in Pristina, das "Massaker" in Rugovo, all diese großen Kaliber, von Verteidigungsminister Scharping verfeuert, hielten einer Prüfung nicht stand, weil sie nur Progagandalügen im Kampf um die Köpfe der Menschen waren: Wahrheit 1.0.
Was hat das mit dem angeblichen oder echten Massaker in Dschenin zu tun? Nun, auch in Bezug auf Israel und Palästina wird mit Behauptungen viel Politik gemacht. Auch hier geht es um angeblich unbewaffnete Zivilisten, die von einer brutalen Besatzungsmacht massakriert worden sein sollen, um unschuldige Opfer und bestialische Täter. Als zu Beginn der "Al-Aksa-Intifada" der 12-jährige Mohammed al-Dura vor laufender Kamera in den Armen seines Vaters erschossen wurde, war die Empörung groß und die Schuld sofort klar verteilt: die israelische Armee sei es gewesen (Krieg und Bilder). Der Junge wurde zu einem Symbol des palästinensischen Kampfes auserkoren, und dient als solches noch heute, ja, mit seinem Schicksal werden unter palästinensischen Kindern neue Anwärter für die Märtyrerschaft im Kampf gegen die Besatzer angeworben. Dies ungeachtet der Tatsache, dass heute sehr zweifelhaft ist, ob die israelische Armee für seinen Tod die Verantwortung trägt.
Keiner will hören, dass islamistische Anführer in der Vergangenheit damit geprahlt haben, wie leicht sie aus Dschenin heraus "Operationen" (sprich: Selbstmordanschläge) gegen israelische Zivilisten organisieren könnten, trotz israelischer Umzingelung. Selten wird thematisiert, dass von arte bis Tagesschau und von ganz arg rechts bis ganz arg links mal subtil, mal offen, immer nur die Israelis verantwortlich sind. Oder wenn es ganz primitiv sein soll, die Juden.
Auf die Frage, was in Dschenin passiert ist, gibt es schlicht und ergreifend noch keine Antwort. Kann es sein, dass die israelische Armee dort ein Massaker verübt hat? Selbstverständlich. Wenn uns das letzte Jahrhundert eines lehrt, dann die Tatsache, dass zu den Hauptaufgaben der Armeen das Massakrieren gehört. Zu Recht wird auch eingeworfen, dass die unhaltbaren Zustände im Nahen Osten nicht wirklich dadurch verbessert würden, wenn die israelische Armee den Massaker-Vorwurf widerlegen könnte. Aber viel interessanter als diese Spekulationen ist aus europäischer und vor allem deutscher Perspektive, dass die "Massaker-Option" eine so atemberaubende Dynamik entwickelt.
Bei der jetzigen Debatte um Dschenin ist ein kollektives Aufatmen über die angebliche oder echte Grausamkeit der anderen unüberhörbar. Dieses Aufatmen, dieser freudige Eifer bei der Inventarisierung der Leichen, die woanders anfallen, steht für eine psychologische Komponente des uniformiert-uninformierten Urteilens. Juden Genozid vorwerfen oder immerhin doch unterstellen zu können, hat einen gewaltigen innerpsychischen Vorteil: die Last der nie bewältigten deutschen Schuld wird in der krankhaften Projektion geringer, und je weniger sie bewältigt ist, desto hartnäckiger die Projektion. Ein wohlbekannter Mechanismus.
Neu ist, dass die politische Klasse bis hoch in die obersten Etagen das Heraufziehen eines Zustands ahnt, in dem Israel als Bündnispartner des Westens im Nahen Osten ausgedient hat, und seine Feinde die neuen Freunde sein werden. Dass das auf einen Krieg hinausläuft, in dem Israel mit Massenvernichtungswaffen um seine nackte Existenz kämpft, scheint bisher noch vielen nicht aufgegangen zu sein. Dann wäre allerdings der Verwesungsgestank über Dschenin, der von israelischen und palästinensischen Leichen stammt, nur der Vorgeschmack von weit Schlimmerem.