Die Prinzipien des Hypertextes

Jan Potocki: Die Handschrift von Saragossa

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Vor zehn Jahren tippte der Engländer Tim Berners-Lee in Genf auf seinen NeXt-Computer, um seinen Kollegen am europäischen Kernforschungsinstitut CERN ein neues Adressendokumentationssystem vorzuführen, dreimal neben die Q-Taste: www. Der Rest ist Geschichte. (Wie das Web gewebt wurde) Das Web ist die geniale Verknüpfung von Internet, bekanntlich von Al Gore erfunden und Hypertext, ersonnen, nun ja, wenn man großzügig ist, vom polnischen Grafen Jan Potocki

Dieser Weltreisende, Archäologe, Universalgelehrte und romantische Selbstmörder, hat zwischen 1806 und 1815 einen Roman nach den Prinzipien des Hypertextes geschrieben: ‚Die Handschrift von Saragossa'. Darin wird die Geschichte einer Reise nach Madrid erzählt, die nicht richtig voran kommt, denn dauernd trifft Gomalez, so heißt der Held, auf Zigeunerhäuptlinge und Kabbalisten, den Ewigen Juden, sowie einen merkwürdigen Mathematiker, die alle anfangen zu erzählen und in ihren Geschichten kommen unweigerlich mexikanische Prinzessinnen, duellsüchtige Grande und sizilianische Räuber vor, die auch nicht anders können, als ihrerseits wieder eine überaus lustige, grausige, philosophische, erotische oder spannende Geschichten von Sukkubi, verführerischen Muselmaninnen und eingesperrten Nonnen zu beginnen.

Es geht rauf und runter, hin und her, Zeit und Raum werden überwunden, die Geschichten untereinander verweben sich zu einem Netz, so dass selbst die Personen im Roman nicht mehr durchblicken:

Ich kann den Erzählungen unseres Zigeunerhauptmanns noch so aufmerksam folgen, der Zusammenhang entgeht mir völlig. Ich weiß nicht mehr, wer eigentlich spricht oder zuhört. Hier erzählt der Marques von Val Florida sein Leben seiner Tochter, die es dem Zigeuner berichtet, der es nun uns überliefert. Das ist wirklich sehr verworren. Es schien mir schon immer, Romane und andere Werke dieser Art müssten wie chronologische Übersichten in mehrere Spalten geschrieben sein. Da ist zum Beispiel der Herzog von Sidonia, dessen Charakter ich ergründen soll, während ich doch schon seinen Tod erlebt habe. Wäre es nicht zweckdienlicher gewesen, mit dem portugiesischem Krieg zu beginnen, und in einer anderen Spalte hätte ich erfahren können, wie Sangre Morena die Medizin studiert. Dann hätte ich mich nicht mehr gewundert, wenn einer den anderen obduziert.

Keine Angst, es wird noch komplizierter! Verirren wir uns nicht auch täglich in irgendwelchen links, die überall und dann doch irgendwie ins Nirgendwo führen? Die Handlung spielt im Spanien des 18. Jahrhunderts in der Umgebung eines verwunschenen Gasthauses und einer damit unterirdisch verbundenen Höhle, die nicht ganz von dieser Welt ist, wie es Höhlen in Romanen nun mal an sich haben.

Als aber alles in der Höhle still geworden war, sah ich Emina hereintreten, die in einer Hand wie Psyche eine Lampe hielt und mit der anderen ihre kleine Schwester führte, die reizender war als Armor selbst. Mein Bett war so breit, dass sich beide darauf niederlassen konnten. Die schöne Afrikanerin legte meine Hand auf ihre Hüfte und ließ mich einen Gürtel spüren, der zwar nicht der Gürtel der Venus war, der aber an die Kunst und den Einfallsreichtum des Gatten dieser Göttin denken ließ. Der Gürtel war mit einem Hängeschloss gesichert, über dessen Schlüssel meine Cousinen, das beteuerten sie mir, keine Gewalt hatten. Da das Zentrum all dieser Schamhaftigkeit so unter Verschluss gehalten war, dachten sie nicht daran, mir das Außengelände zu verwehren. Zubeida erinnerte sich an die Rolle der Liebhaberin, die sie einst mit ihrer Schwester zusammen eingeübt hatte. Diese aber sah, in meinen Armen liegend, den Gegenstand ihrer gespielten Liebe vor sich und gab ihre Sinne einer süßen Verzückung hin. Die jüngere, schmiegsam, lebendig, entflammt, verschlang mich mit Berührungen, durchdrang mich mit Zärtlichkeiten. Diese köstlichen Augenblicke wurden noch von einem Ich-weiß-nicht-Was erfüllt, von unausgesprochenen Plänen, dem Geplauder junger Leute zwischen dem Erinnern an gerade Verflossenes und der Hoffnung auf künftiges Glück.

Wahnsinn, nicht? Irre sexy, oder? Manchmal erinnert mich das magische Märchen in staubiger spanischer Landschaft an Don Quixote, dessen Autor Cervantes seinen tölpelhaften Helden im Lauf der Geschichte immer lieber gewann, und auch Potocki verwandelt den ein oder anderen anfangs komischen Geselle zu einem Philosophen. Manchmal erinnert ‚Die Handschrift von Saragossa' auch an Tristram Shandy, eine ebenso verschachtelte und dabei urkomische Geschichte. Gut, das sind dicke Wälzer, man muss ein wenig Anlauf nehmen, sich an den Stil gewöhnen und dann ertappt man sich beim Kichern.

Die Handschrift von Saragossa sollte man auf einer langen Schiffsreise, im Krankenhaus oder im Urlaub lesen, wenn man die Muße hat sich vom Singsang der langen Sätze fortragen zulassen wie ein Stück Treibholz im Meer. Wenn man mit der letzten Seite das Buch zuklappt, hat man das schöne Gefühl einen Achttausender bestiegen zu haben.

Die Handschrift von Saragossa. (Haffmans, 950 Seiten, 39.90).