Die RYAN-Krise - als der Kalte Krieg beinahe heiß geworden wäre
Vor 25 Jahren war die Welt näher am Nuklearkrieg als je zuvor oder danach - ohne, dass es jemand merkte.
Im November 1983 manövrierten leichtsinnige Falken im Westen und nervöse Falken im Osten den Rest der Welt gefährlich nahe an den Rand eines Atomkriegs. Ohne, dass dem Westen der Ernst der Lage bewusst gewesen war, interpretierten sowjetische Militärs und KGB eine NATO-Übung als verdeckten Aufmarsch zum nuklearen Erstschlag, den es sofort zu vergelten galt. Dieses aggressive Schachspiel zweier nahezu blinder Akteure gilt heute als gefährlichste Phase des Kalten Krieges. Wohl nie lagen Fehlleistungen und Sternstunden der Geheimdienstwelt näher beieinander.
In der Geschichtsschreibung spielt das inzwischen gut dokumentierte Kapitel "RYAN" kaum eine Rolle - dabei hätte es leicht das letzte Kapitel überhaupt sein können.
Nach dem Tauwetter zwischen den Supermächten in den 70ern und dem gemäßigten Präsident Carter hatte 1981 im Weißen Haus ein Kandidat Einzug gehalten, der die russenfeindliche Propaganda der 50er Jahre für bare Münze genommen hatte und sein Bild vom Rest der Welt aus dem Fernsehen bezog. Der schlimmste Alptraum des KGB erfüllte sich, als die Amerikaner die Rolle des Präsidenten mit dem gescheiterten Entertainer und eingefleischten Kommunistenhasser Ronald Reagan besetzt hatten, einem nicht durch intellektuelle Leistungen aufgefallenen Republikaner, der zuvor rechtskonservative Gestalten wie "Mr. Conservative" Barry Goldwater unterstützt hatte. Proteste der Studentenbewegung in den 70ern hatte Reagan als Gouverneur von Kalifornien durch die Nationalgarde beenden lassen.
Auch als Präsident fiel Reagan nicht durch höhere Ansprüche an seine Beurteilungsquellen auf: Bei der ersten Sitzung seines Beraterstabs zur Außenpolitik stellte er lediglich die Frage, ob noch jemand einen Drink wolle und ward in diesem Gremium seither nicht mehr gesehen.
Seine Hemdsärmlichkeit vermochte Reagan jedoch mit Humor auszugleichen. Anders als seine Vorgänger, die schwer am Erbe des Vietnamkriegs trugen, lieferte der Showman der Nation zwar kaum Substanz, jedoch Stolz und Glanz. Ohne Not beendete Hardliner Reagan Abrüstungsgespräche. KGB-Chef Juri Andropov hielt Reagan für unberechenbar und traute ihm alles zu.
Team B
Reagan wurde in seiner Weltsicht durch ein der Rüstungsindustrie nahestehendes Gremium an rechtsgerichteten Beratern bestätigt, das schon während der Carter-Administration begonnen hatte, die höchsten Entscheidungsträger mit Schauermärchen über den Hauptgegner zu versorgen. Dieses "Team B", dem u.a. Donald Rumsfeld angehörte, fantasierte von russischen Geheimwaffen und deutete etwa eine Radarstation in Kasachstan als eine gigantische Laserkanone. An den Berichten von Team B stimmte so gut wie nichts. Auch die CIA, die nun von Reagans Wahlkampfmanager William Casey geleitet und von der Leine gelassen worden war, lieferte über das Potential der Sowjets stets opportune Übertreibungen.
Nadelstiche
Was man heute offiziell auf der Geschichtswebsite der CIA nachlesen kann, wäre früher wohl als "Antiamerikanismus" oder "Verschwörungstheorie" bezeichnet worden. So hatte man im Weißen Haus streng geheim und ausschließlich mündlich besprochen, die Sowjets durch Scheinangriffe zu provozieren. Die Washingtoner Strategen ließen zwecks "psychologischer Operationen" (PSYOPS) Bomber auf die Sowjetunion zufliegen, die erst im letzten Moment abdrehten oder häufig sogar in den sowjetischen Luftraum eindrangen. Dies musste bei den Sowjets zu dem Schluss führen, dass ihr Reaktionsverhalten auf einen überraschenden Erstschlag getestet werden sollte. Was damals lediglich Cowboyspiele waren, versetzte die Auswerter in Moskau in Alarmbereitschaft.
Im September 1981 wurde eine Armada von 83 Schiffen zusammengezogen, die ein geheimnisvolles Manöver durchführten, bei dem sie Angriffe und Täuschungstaktiken simulierten. Insbesondere sollte das gegnerische Radar mit Fehlinformationen getäuscht und dadurch die Flotte "unsichtbar" gemacht werden.
Kriegstrommeln
Obwohl Reagan noch nie die Sowjetunion besucht hatte, verstieg sich der zu Hause populäre Politiker zu einer Rhetorik, in der er vom Evil Empire ("Reich des Bösen") sprach, mit dem es keine Koexistenz geben könne. 1983 initialisierte er das als "Star Wars" bekannt gewordene Programm "Strategic Defense Initiative" (SDI), das aus dem Weltraum sowjetische Atomraketen abwehren sollte Für einen angeblichen Angriff auf die USA hatte Moskau allerdings schon lange kein so rechtes Motiv geboten, und auch die Struktur vieler SDI-Waffensysteme, die etwa nur bei schönem Wetter zu funktionieren versprachen, legte den Schluss nahe, dass es sich kaum um überzeugende Abwehrwaffen handeln konnte. Aus militärischer Sicht machte SDI vor allem zur Flankierung eines eigenen Erstschlags Sinn, dessen provozierten Gegenschlag es abzuwehren galt. Damit stellte Reagan das Stabilität versprechende Konzept des atomaren Gleichgewichts infrage.
Während etwa europäische Politiker die NATO als "Verteidigungsbündnis" gegen eine sowjetische Aggression verkauften, propagierte Reagan ganz offen "Surrender" (Kapitulation) als politisches Ziel. Tatsächlich sah der greise Präsident seinen Platz im Geschichtsbuch als Feldherr, der die Welt vom Grundübel des Kommunismus befreien würde.
Schlechte Erfahrungen
Basierend auf den Erfahrungen aus der Dulles-Ära argwöhnte man beim KGB seit je her Subversion durch die CIA. Diese hatte nur ein Jahrzehnt zuvor im Zuge des Vietnamkriegs in der Operation Phoenix ca. 30.000 Menschen gezielt töten lassen, weil sie lesen und schreiben konnten und daher anfällig für Kommunismus gewesen seien. Auch unterhielt die NATO in ihren Mitgliedsstaaten verdeckte Geheimarmeen, die für den Fall einer kommunistischen Regierung (sei es durch Eroberung, oder durch demokratische Wahlen) diese durch Subversion entmachten sollten - so geschehen während der griechischen Militärdiktatur, bei der im Hintergrund die CIA die Fäden zog. Von diesen als GLADIO bekannten Strukturen erfuhren Parlamente und Öffentlichkeit erst in den 90er Jahren.
Auch die nachhaltige Subversion der CIA in der so genannten Dritten Welt wurde von Moskau aufmerksam verfolgt. Ebenso wie bei der abgebrochenen Abrüstung hatte Reagan auch hier mit seinen neuen CIA-Chef William Casey das Rad der Geschichte zurückgedreht. Die Befürchtung des KGB, die CIA könne auch in der Sowjetunion Einfluss gewinnen, war jedoch unrealistisch, waren bislang doch alle subversiven Aktionen im Osten bereits im embryonalen Stadium gescheitert.
Schwache Quellenlage
Anfang der 80er Jahre war die Auslandsabteilung des sagenumwobenen sowjetischen Geheimdienstes KGB in die Jahre gekommen. Hatte das KGB einst von der Legendenbildung um den unter seinem spontan gewählten Decknamen "Rudolf Abel" bekannt gewordenen angeblichen Meisterspion gezehrt, so war es in Wirklichkeit kaum gelungen, durch eigene Agenten in den USA Strukturen aufzubauen und den Gegner zu infiltrieren. Wie die anderen Geheimdienste auch profitierte das KGB in erster Linie von Selbstanbietern in sensiblen Bereichen, die Militärgeheimnisse und Rüstungstechnologie meist gegen Bargeld lieferten - davon allerdings vom Feinsten. Die brauchbarsten politischen Informationen jedoch, die der Sowjetführung zur Verfügung standen, stammten nicht von den Schlapphüten, sondern aus dem informellen Austausch der sowjetischen Diplomaten in Washington mit ihren amerikanischen Kollegen, die nach den Erfahrungen der Kuba-Krise vieles pragmatisch hinter den Kulissen regelten. Wie KGB-Chef Juri Andropov hatten die Auswerter beim KGB selbst nie Erfahrungen im Westen gesammelt, verstanden oft nicht die westliche Mentalität und kamen häufig zu falschen Schlüssen.
Nachrüstung
Zum Entsetzen des Warschauer Pakts begann die NATO nun mit der Stationierung von mobilen Raketenabschussbasen für Mittelstreckenraketen des Typs Pershing II und Marschflugkörpern des Typs Tomahawk, wodurch das Bündnis die Vorwarnzeit für einen Atomkrieg auf vier bis acht Minuten reduzierte. Die Sowjets kamen zu dem Schluss, dass ein "chirugischer Schlag" vorbereitet wurde, der sich gegen die politischen und militärischen Nervenzentren richtete und nach einer "Enthauptung" dem Gegner nur noch die Wahl zur Kapitulation gelassen hätte - "Surrender", wie es Reagan ganz offen genannt hatte.
Der Logik des atomaren Gleichgewichts entsprechend stand es für Russland außer Frage, dass ein atomarer Angriff sofort in gleicher Weise pariert werden müsse, wobei die eigenen Raketen natürlich gestartet werden mussten, bevor sie vernichtet wurden. Der Entscheidungsprozess über den Gegenschlag musste daher auf wenige Minuten nach dem ersten Alarm reduziert werden - oder man musste gar dem Start der US-Raketen zuvorkommen.
DDR-Spionagechef Markus Wolf, der 1980 den damaligen KGB-Chef Jury Andropov traf, berichtete, er habe diesen nie zuvor so depressiv erlebt.
RYAN
KGB-Chef Andropov und Staatschef Leonid Breschnew, die bereits 1941 die Erfahrung eines Überraschungsangriffs gemacht hatten, beschlossen 1981 zur Optimierung der Auswertung das Programm "Raketno Yadernoye Napadenie (RYAN bzw. RyaN)", zu deutsch in etwa "nuklearer Raketenangriff", bei dem nach Hinweisen auf einen überraschenden Erstschlag gesucht werden sollte. Bei einem Treffen des Warschauer Pakts im September 1982 äußerte Marschall Nikolai Orgakov seine aus Simulationen gewonnene Schlussfolgerung, die USA hätten den Sowjets praktisch den Krieg erklärt, es handele sich definitiv nicht um ein Spiel. Der misstrauische KGB-Chef Andropov beerbte im November 1982 den verstorbenen Breschnew im Amt des Staatschefs.
Im Februar 1983 wurde bei RYAN der Alarmzustand erhöht. Um einen Spannungsfall möglichst früh erkennen zu können, sollten Agenten alles Ungewöhnliche melden, wozu bereits eine Abweichung der üblicherweise vor militärischen Einrichtungen geparkten Autos gehörte. Wie ernst es dem KGB war, kann man daraus schließen, dass für wichtige Meldungen nicht der nächste reguläre Agententreff abgewartet, sondern das Risiko einer sofortigen Kontaktaufnahme eingegangen werden sollte.
Während das KGB nur über unzureichende Quellen in der NATO verfügte, wurden etwa 80% der nachrichtendienstlichen Informationen vom ostdeutschen Geheimdienst "Hauptverwaltung Aufklärung" (HV A) beschafft. Die Effizienz von Markus Wolfs Spionen im Vergleich zum überschätzten wie dämonisierten KGB war den westlichen Kollegen erst nach Ende des Kalten Krieges bekannt geworden. Die HV A richtete zur Koordinierung von RAYN fünf unterirdische Kontrollzentren ein.
Die NATO und insbesondere die USA hatten von der Panik, welche die Sowjets ergriffen hatte, nicht die geringste Ahnung. In April und Mai 1983 führte die pazifische Flotte ihr bis dahin größtes Manöver durch, unter anderem vor Kamtschatka.
Korean Airlines 007
Am 1. September 1983 bezahlten 269 Menschen das transatlantische Schachspiel mit ihrem Leben. Ein Passagierflugzeug der Korean Airlines verletzte auf dem Flug KAL 007 - offenbar unbewusst - den sowjetischen Luftraum und passierte seltsamerweise ausgerechnet eine russische Militärbasis auf Kamtschatka. Nach etwa einer Stunde Observation wurde es abgeschossen. Die russische Seite sprach von einem Spionageflugzeug, das nicht auf Warnschüsse reagiert und daher ein legitimes Ziel dargestellt habe. Obwohl die US-Geheimdienste nicht an diesem Eindruck des russischen Militärs zweifelten, stellte Reagan den Vorfall als vorsätzliches Verbrechen an Zivilisten dar, das erneut die Unmenschlichkeit der Roten bewiesen habe.
In Wirklichkeit allerdings war tatsächlich ein ähnliches amerikanisches Spionageflugzeug unterwegs gewesen und hatte - aus welchen Gründen auch immer - die Flugroute praktisch im Radarschatten gekreuzt, so dass KAL 0071 für das sowjetische Radar als das bislang beobachtete Spionageflugzeug erscheinen musste. Streitig war, ob der Abschuss selbst in internationalem Luftraum stattgefunden hatte, wo jedenfalls das Wrack aufschlug.
Der Vorfall trieb einen ähnlichen Keil zwischen die Supermächte wie der Abschuss des Spionageflugzeugs U2 von 1960, als die USA routinemäßig sowjetischen Luftraum überflogen. (Die nun von den USA betriebene Dämonisierungspropaganda über angeblich barbarische Russen sollte erst 1988 verstummen, als die USA selbst irrtümlich eine iranische Passagiermaschine abschossen und Präsident George H.W. Bush eine Entschuldigung hierfür ablehnte.)
Fünf Minuten Spannung
Aufgrund von wetterbedingten Reflexionen meldeten am 26. September 1983 russische Spionagesatelliten nacheinander fünf Starts von Interkontinentalraketen des Typs Minuteman. Staatschef Andropov wurde sofort informiert. Statt sofort den Vergeltungsschlag einzuleiten, kam der diensthabende Offizier Stanislav Petrov zu dem Schluss, dass fünf einzelne Raketen nicht den Dritten Weltkrieg bedeuten konnten. Instinktiv entschied er sich gegen den Computer und nahm den Finger vom Abzug.
Grenada
Am 25. Oktober 1983 demonstrierte Reagan, wie gering er Völkerrecht und Souveränität fremder Staaten schätzte, indem er die Gewürzinsel Grenada überfiel. Grund sei der Ausbau des Flughafens gewesen, der als mögliche Basis der Sowjets gedeutet wurde. Die meisten Abgeordneten der UNO und selbst die von Reagan nicht informierte Margaret Thatcher verurteilten die Invasion. Bei einer Fernsehansprache ließ Reagan die Welt wissen, man habe sowjetische Waffenlager gefunden, mit denen Terrorismus verübt werden solle und verwies unter anderem auf den Abschuss der KAL 007. Nachprüfbare Informationen gab es nicht, dafür eine Nachrichtensperre.
Was von den Russen zu halten war, darüber konnte man sich in Film und Fernsehen ein ausreichendes Bild machten. So jagte ab Oktober 1983 eine Agentin mit Herz in Washington fiese KGB-Spione, die das Land infiltrierten und in praktisch jeder Folge einen Mord begingen. Tatsächlich jedoch hatte im gesamten Kalten Krieg kein KGB-Mann auf US-Boden jemanden getötet - Spionage ist ein leises Handwerk. Die vom KGB auf US-Boden durchgeführten schmutzigen Operationen beschränkten sich im Wesentlichen auf Desinformationskampagnen, etwa zur Diskreditierung bestimmter Politiker. Diese waren meistens am Patriotismus der US-Medien gescheitert, die entsprechende Informationen nicht brachten.
ABLE ARCHER 83
Den nervösen Strategen in Moskau wurde nun etwas geboten, das ganz genau so aussah wie der befürchtete atomare Enthauptungsschlag. Am 2. November 1983 begann im Rahmen des jährlichen Herbst-Manövers die NATO-Übung ABLE ARCHER 83, bei der unter sehr realistischen Bedingungen 10 Tage lang ein nuklearer Raketenangriff auf die Sowjetunion im Maßstab 1:1 geübt wurde. Im Gegensatz zu den Vorjahren registrierte Moskau diesmal wesentliche, äußerst beunruhigende Unterschiede:
- Es wurde absolute Funkstille befohlen.
- Erstmals wurden Staatschefs von NATO-Ländern wie Kohl und Thatcher zu der Übung eingeladen, was dem Manöver politisches Gewicht verlieh.
- Das Rollenspiel beinhaltete die Anhebung der Sicherheitsstufe von DEFCON 5 auf DEFCON 1.
Durch einen Irrtum des KGB wurde die Simulation von DEFCON 1 nicht als solche erkannt, sondern die höchste Alarmstufe als echt wahrgenommen - wofür es aus Sicht der Militärs praktisch keinen anderen Grund geben konnte als den, dass nun der nukleare Erstschlag unmittelbar bevorstand. Man vermutete, dass der Angriff zum Jahrestag der Novemberrevolution erfolgen würde, da die Sowjets dann aus vermeintlicher Einschätzung der NATO während der anstehenden Feiern abgelenkt seien.
Am 5.November erhielten KGB-Agenten den Auftrag, alles zu melden, was auf einen Angriff schließen lasse.
Am 8. oder 9.November informierte das KGB seine westlichen Residenturen irrtümlich, dass auf einigen westlichen Basen sogar Truppen mobilisiert worden seien. Ohne, dass es die teuren Geheimdienste des Westens bemerkt hatten, waren in den vergangenen Tagen alle möglichen Abschussrampen für Atomsprengköpfe des Warschauer Pakts positioniert worden, um sich für den Abschuss bereit zu halten.
IM MOSEL/TOPAS
Der HV A war es gelungen, einen Perspektivagenten mit dem Decknamen MOSEL langfristig dort zu platzieren, wo die NATO-Geheimnisse der höchsten Geheimhaltungsstufe "Cosmic Top Secret" zusammenliefen. Im Brüsseler Lagezentrum der NATO analysierte die "Current Intelligence Group" (CIG) alle aktuellen nachrichtendienstlichen Informationen. Ausgerechnet in diesem wohl sensibelsten Gremium der NATO führte der saarländische Wirtschaftsexperte Rainer Rupp in wöchentlicher Rotation sogar bisweilen den Vorsitz. Rupp hatte als überzeugter Kommunist unter der Regie von Wolf die NATO unterwandert, um auf diese Weise dem Weltfrieden zu dienen. Durch diesen V-Mann, der als neuen Decknamen in Anlehnung an einen Hitchcock-Spionagethriller TOPAS wählte, war die HVA aktueller informiert als viele Staatschefs - und das aus erster Hand.
Auch, wenn Geheimdienstchef Wolf das Risiko eines Überraschungsangriffs für weitaus geringer hielt, hatte man Rupp im März 1983 bedeutet, dass Moskau extrem nervös geworden sei. Seine Informationen codierte Rupp in einem als Taschenrechner getarnten Gerät, dass diese zu einem kurzen Rauschen komprimierte, das während eines Telefonats unauffällig abgesetzt werden konnte.
Um dem Warschauer Pakt eine möglichst authentische Analyse zu ermöglichen, lieferte Rupp während ABLE ARCHER 83 jedes auch noch so unwichtige Papier. Nichts deutete darauf hin, dass ein NATO-Angriff in nächster Zeit bevorstand. Rupps Informationen wurden von anderen Agenten bestätigt. Dennoch war der extrem misstrauische Leiter der Auslandsabteilung und spätere KGB-Chef Wladimir Krjutschkow nicht von seiner Überzeugung abzubringen, dass ein amerikanischer Erstschlag konkret geplant sei - eine Überzeugung, die er bis zu seinem Tod 2007 nie abgelegt hat. Beunruhigend blieb jedoch, dass Rupp nur NATO-Informationen hatte liefern können. Vor Alleingängen der USA wie der gerade erfolgten Invasion auf Grenada hätte auch Rupp nicht warnen können.
War Games
Bei der NATO hatte man von der Angst, welche die Moskauer Generalität während der Kriegsspiele ergriffen hatte, mangels Quellen und Selbstwahrnehmung noch immer keine Ahnung. Erst Wochen nach ABLE ARCHER setzte der einzige hochkarätige Doppelagent im KGB, Oleg Gordievsky, den britischen Geheimdienst erstmals von der russischen Paranoia in Kenntnis. Gordievsky verglich die Brisanz der Lage mit der Kuba-Krise - mit dem Unterschied, dass die Lage weitaus gefährlicher war als das Pokerspiel von 1962, als der Umfang des nuklearen Potentials sowie die Transportsysteme Generationen hinter den Waffensystemen der 80er Jahre zurück lagen.
Milton Bearden, seinerzeit CIA-Chef in Deutschland und späterer Leiter der Sowjet- und Osteuropaabteilung in Langley, erinnert sich:
Die meisten von uns durchlebten diese Zeit Anfang der frühen Achtzigerjahre, ohne zu wissen, dass das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten wegen des ABLE-ARCHER-Manövers bis zum Äußersten gespannt gewesen war, weil wir nicht wussten, dass die Sowjetunion in ihren Einschätzungen zu dem Schluss gekommen war, wir würden einen Erstschlag vorbereiten. Unsere Nachrichtendienste hatten in dieser Angelegenheit zu wünschen übrig gelassen.
US-Sicherheitsberater Robert McFarlane stand Gordievskys Berichten über die russische Angst skeptisch gegenüber und warnte Reagan vor einer möglichen Desinformationskampagne. Nachdem der Präsident schließlich über CIA-Chef Casey mehr Details von Gordievskys Berichten erfahren hatte, soll er sich von der Ernsthaftigkeit, mit welcher seine Sandkastenspiele interpretiert worden waren, überrascht gezeigt haben. Angeblich habe er an diesem Tag in der Bibel über die Apokalypse gelesen.
Dies hinderte ihn jedoch nicht daran, sein Star-Wars-Programm zu intensivieren, was den Russen nur noch mehr zu schaffen machte. Außerdem vollzog er die von der Friedensbewegung massiv kritisierte Stationierung der Pershing II-Raketen in Westeuropa.
In seiner Rhetorik übte der Präsident jedoch gegenüber den Sowjets eine gewisse Zurückhaltung und hielt im Januar 1984 eine versöhnliche Rede. Ein Brief an Andropov machte diesen allerdings noch misstrauischer. Auch Iron Lady Margaret Thatcher äußerte sich gemäßigt und griff sogar eine von Kennedy verwandte Formulierung auf, der zufolge man auf dem selben Planeten lebe. Im August 1984 irritierte Reagan allerdings die Weltöffentlichkeit bei einer Tonprobe, in der er scherzhaft Russland den Nuklearkrieg erklärte.
Zwei Monate nach der RYAN-Krise starb Andropov. Erst Michael Gorbatschow, der 1985 dem ebenfalls im Amt verstorbenen Tschernenko nachfolgte, beendete gegen den Protest des KGB den Kalten Krieg. Bei seinem ersten Besuch in Moskau kommentierte Reagan, die Russen hätten sich geändert. Zuvor hatte der Sänger Sting Reagan die Frage gestellt, ob denn nicht auch Russen ihre Kinder lieben.
Das RYAN-Programm blieb noch bis Ende 1990 aktiv. Bis Juni 1991 versuchte KGB-Chef Krjutschkow, der noch immer einen amerikanischen Erstschlag fürchtete, Gorbatschow von einem CIA-Plan zur Infiltrierung der Sowjets durch Agenten zu überzeugen. Nachdem Krjutschkow beim Staatschef kein Gehör fand, kam es im August zu einem vorübergehenden Putsch gegen Gorbatschow, zu dessen maßgeblichen Drahtziehern der KGB-Chef gehörte.
Verhinderten ostdeutsche Spione den Dritten Weltkrieg?
Professor Vojtech Mastny, der an einer amerikanischen Kriegsakademie Strategie unterrichtet, fragte am 20. Jahrestag von ABLE ARCHER 83 ganz offen "Did East German Spies Prevent A Nuclear War?" und billigt diesen immerhin einen gewichtigen Anteil zu. Zu einem ähnlichen Schluss gelangte auch der heutige US-Verteidigungsminister Robert Gates, damaliger CIA-Vizechef, dem erst Jahre später bewusst wurde, wie nervös die Finger der Russen 1983 am atomaren Abzugshebel gewesen waren. Auch der offizielle CIA-Historiker Benjamin Fischer äußert sich in diese Richtung. Fischer hat Teile seines geheimen Wissens in einer Zeitkapsel hinterlegt hat, die erst im Jahr 2100 geöffnet werden darf.
Undank ist der Welten Lohn
Petrov, der seinem Instinkt den Vorzug vor dem fehlerhaften russischen Computersystem gegeben hatte, war sofort aus der Armee entfernt und der Vorfall zum Staatsgeheimnis erklärt worden. Gordievsky, der den Westen von der RYAN-Krise in Kenntnis gesetzt hatte, geriet in Spionageverdacht und konnte vom britischen Geheimdienst außer Landes geschmuggelt werden, womit er seiner sicheren Liquidierung entkam. 1993 wurde NATO-Spion Rupp durch Stasi-Akten enttarnt. Im Prozess vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf wurde er als "ständiger Vertreter des Warschauer Pakts bei der NATO" tituliert. Für seinen Einsatz zur Entspannung der Krise erhielt er kein Denkmal, sondern eine 12jährige Freiheitsstrafe, von der er sieben Jahre absitzen musste. Mit seinen Kommentaren über die Welt der Nachrichtendienste beliefert der erfahrene Geheimdienst-Analyst heute nicht mehr die NATO oder das KGB, sondern direkt die Öffentlichkeit.