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"Die Regierung des Volkes"

Bild: 10 Downing Street/Open Government Licence v3.0

Der überragende Wahlsieg für Boris Johnson vom Donnerstag wird weitreichende Konsequenzen für das Land haben. Möglich dass dies der Beginn einer neuen Ära konservativer Politik ist

Der Wahlkampf von Boris Johnson war von einem strikten "Play it save" geprägt. Er ließ sich auf keine Debatten ein, bei denen es ohnehin für ihn nichts zu gewinnen gab, sondern wiederholte immer wieder die gleichen Stehsätze. Allen voran: "Get Brexit done". In höchster Not floh er sogar in ein Kühllager, um einem vereinbarten Interview zu entgehen. Geschadet hat ihm das alles nicht.

Die neue Macht einer Mehrheit von 80 Sitzen ermöglicht dem Premierminister jetzt ein Regieren nach eigenen Vorstellungen. Sein bisheriges Problem im Unterhaus war weniger durch die Remain-Fraktion in den eigenen Reihen bedingt, als durch die harten Brexiteers. Einigen Tory-Abgeordneten konnte der Austritt aus der EU nicht weit genug gehen, sie favorisierten einen "No-Deal-Brexit". Die sogenannte "European Research Group", die wie Spötter betonten, weder etwas mit Europa zu tun habe, noch Research betreibe und auch strenggenommen keine Gruppe sei, ist nun durch das Wahlergebnis marginalisiert. Ihre Stimmen werden von Johnson nicht mehr benötigt und er wird keine Rücksicht mehr auf sie nehmen. Ein wesentlich softerer Brexit ist somit jetzt möglich. Der wäre - wie von vielen Seiten gerne betont wird - auch wirtschaftlich vernünftig. Vernunft ist aber nicht unbedingt die große Stärke Johnsons.

Johnsons Rede zum Wahlsieg lässt einen breiten Interpretationsraum zu. Die Rede glich in ihrem Duktus und durch manche wieder ausgepackten Formulierungen jener Rede, die Johnson hielt, als er Londoner Bürgermeister wurde. Damals musste ihm klar sein, dass er in einer liberalen und grundsätzlich "roten" Stadt nur dann wiedergewählt werden würde, wenn er auf gewisse schrille rechte Töne verzichtet. So gibt er sich auch nach den Unterhauswahlen 2019 zunächst als ein Zentrist. Er wolle nun das Land zusammenführen und auch jenen ein Angebot machen, die zuvor Labour gewählt haben. Allerdings, ähnliches sagte auch Donald Trump am Wahlabend 2016 und hatte dies bereits am nächsten Morgen gründlich vergessen.

Brexit als Erlösung

Ein Wahlkampfversprechen, um das herum er seine Kampagne aufgebaut hat, wird er sicherlich halten: Der Brexit ist nun eine besiegelte Sache. Viele im Land und auch im Rest von Europa werden deswegen aufatmen, zu quälend waren die parlamentarischen Debatten, die doch immer nur in einem Unentschieden endeten. Allerdings verbirgt sich auch hier eine Luftbuchung. Mit dem Austritt aus der Europäischen Union zu Jahresbeginn 2020 beginnen ja erst die eigentlichen Verhandlungen über den neuen Status Großbritanniens. Was in vier Jahrzehnten Mitgliedschaft ausgehandelt wurde, soll nun innerhalb eines Jahres aufgelöst und mittels noch besserer Kooperation neu besiegelt werden.

Niemand der die Materie kennt, hält dies für möglich. Viele Experten rechnen mit bis zu zehnjährigen Verhandlungen. Während des Wahlkampfs drückte Johnsons ordentlich aufs Tempo und versprach bis Ende 2020 fertig zu sein mit den Austrittsmodalitäten. Vermutlich wird er sich daran jetzt nicht mehr erinnern wollen. Zu sehr ist das Gebot der Eile ein strategischer Nachteil für Großbritannien. Die EU hingegen hat nämlich Zeit und sie hat sich selbst nicht mit großspurigen Ankündigungen unter Druck gesetzt.

Johnsons neuer Deal zeigte bereits die Schwäche dieses Ansatzes, denn er konnte Theresa Mays Deal nur "verbessern", indem er Zugeständnisse an die Europäer machte. Die europäischen Regierungschefs hatten Johnson beim letzten gemeinsamen EU-Gipfel sichtlich gern, weil der sich gernhaben ließ. Was sollten sie dagegen haben, dass der britische Quälgeist eine Zollgrenze in der Irischen See akzeptiert? Theresa May hatte diese noch kategorisch abgelehnt. Johnson hingegen versucht es daheim mit simpler Umdeutung: Es sei eben keine "echte" Grenze.

Das Versprechen, bis Ende 2020 die Verhandlungen zu finalisieren, war allerdings wahlkampftaktisch wichtig, weil Johnson damit die Brexit-Party um Nigel Farage erledigen konnte. Der hatte genau diesen Verhandlungsabschluss 2020 gefordert und als der per Lippenbekenntnis geliefert bekam, zog Farage - zur großen Überraschung seiner Gefolgsleute - alle Truppen aus Tory-Wahlkreisen ab. Vielen erschien dies als der Moment, in dem Johnsons Wahlsieg besiegelt war.

Der strategische Vorteil, dass damit die Leave-Fraktion de facto nicht mehr gespalten war, die Remain-Fraktion sich aber über mehrere Parteien verteilte, ist im britischen Wahlsystem nicht zu kompensieren. Nigel Farages Klapperschlangengrinsen war somit den ganzen Wahlabend über unübersehbar, obwohl sein eigenes Parteiprojekt, die Brexit-Partei, gerade einmal 2 % Stimmen einfuhr und keinen einzigen Sitz gewann (Farages frühere Partei Ukip hatte zumindest einen Sitz). Dennoch war er der große Sieger des Abends, denn allen Beteiligten ist klar, dass Johnson mit den "Ideen" Farages die Wahl gewonnen hat.

Es geht um die Ausländer

Der Einfluss rechtspopulistischer Bewegungen auf konservative Parteien ist enorm. Sowohl im kontinentalen Verhältniswahlrecht, als auch im britischen Mehrheitswahlrecht, des "The Winner Takes All". Zwar blieben die zeitweiligen 15-20% rein virtuell, die Farages Brexit-Partei in Umfragen hatte, anders als etwa die Stimmanteile der AfD oder der FPÖ, aber trotzdem konnte er die Agenden der Conservatives mitbestimmen.

Zu Beginn der 20er Jahre des 21.Jahrhunderts ist das von Farage mitpropagierte Deutungsmuster, dass alle Probleme letztlich auf Migration zurückzuführen seien, schier unüberwindlich. Auch in eingefleischten Labourwahlkreisen wie in den Midlands oder in Wales, betonen die Passanten auf der Straße, dass Labour die Bedeutung der Migration unterschätzen würde. Jobs, Lebensstandard, Zukunftsaussichten seien durch die Fremden getrübt und Johnson wolle eben die Zuwanderung "kontrollieren" - wohlgemerkt nicht beenden. So klingt die liberale und scheinbar weltoffene Version meist schnöder Xenophobie.

Diese in Medien und weiten Teilen der Politik geschürten Ressentiments konnten nicht einfach durch eine Wiederbelebung der "Klassenfrage" ausgehebelt werden. Vielmehr erschien letztere als rückwärtsgewandt und die Bevölkerung nahm Labour die Geschichte von der Stärkung der Arbeiter einfach nicht mehr ab. Aktuell scheint es für sozialdemokratische oder sozialistische Parteien in Europa keine Erzählung zu geben, die verfängt. Alle Versuche, Hoffnung zu geben und eine bessere Gesellschaft zu entwerfen, in der mehr Menschlichkeit waltet, zerschellen an der als trist und perspektivlos erlebten alltäglichen Gegenwart.

Wenn dann zugleich Gefahren durch Finanzkrise, Klimawandel und Weltpolitik von linken Parteien angesprochen werden, dann verstärkt dies nur das rechte Deutungsmuster, das nach notfalls gewaltsamer Abschottung ruft.

Konflikte schüren und Rache nehmen

Es steht zu befürchten, dass die nächsten Jahre vergeudet sein werden in Bezug auf die entscheidenden politischen Fragen. Johnson wird sich, wie alle Rechtspopulisten, nicht um ein besseres Zusammenleben zwischen alteingesessenen Briten und Migranten bemühen. Er würde sich damit nur selbst das Wasser abgraben. Viel eher wird er Konflikte schüren, die es ihm erlauben, als "Starker Mann" durchgreifen zu können. Mehr Polizei, mehr Gefängnis und mehr öffentliche Verleumdungen und Bloßstellungen. Wenn nicht einmal die Tränen der Angehörigen der Opfer des letzten Anschlags auf der London Bridge, die Johnson anflehten, den Tod ihrer Lieben nicht zu instrumentalisieren, ihn aufhielten, dann ist fraglich, was es je könnte.

Andere Fragen wie den Klimawandel wird Johnson schlicht ignorieren. Eine schwammige Ankündigung, irgendetwas würde sich bis 2050 geändert haben, reicht ihm hier vollkommen aus. Die Taktik, blumige Versprechungen mit enorm weitem Zeithorizont zu machen, um sich damit schlicht der Umweltproblematik zu entledigen, ist leider eine bei konservativen Parteien übliche Praxis. An einer Debatte der Parteivorsitzenden über die Gefahren des Klimawandels wollte Johnson, ebenso wie Nigel Farage, nicht einmal teilnehmen. Klimaziele werden sich mit dem Großbritannien Boris Johnsons somit kaum durchsetzen lassen.

Weil Johnsons Politikansatz enorm personalisiert ist, wird er die Zeit wohl lieber für Rache nutzen. Gerichte und Medien, die ihm das Leben schwer gemacht haben, hat er bereits mit Drohungen bedacht, wie etwa die Überprüfung von Sendelizenzen, oder die Ankündigung, das Verhältnis zwischen Gerichten und Regierung einmal "überdenken" zu wollen. Auch plant er den Austritt aus dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Für Johnson ist das Drehbuch rechtsautoritärer Machtübernahme sicherlich wichtiger als (überstaatliche) gesetzliche Ordnung und eine freie Medienberichterstattung.

"Wir wollen raus aus dem Brexit"

Die Schwierigkeiten für die wahlkämpfenden Labour-Mandatare waren enorm. Insbesondere weil sich im Land die Logik festgesetzt hat, die Misserfolge der Tory-Regierung der lokalen Labour-Vertretung anzulasten. Es sei für alles kein Geld da, beklagten die vor die Fernsehkameras gezerrten Wähler und es könne ohnehin nicht mehr schlimmer kommen. Deswegen solle sich nun etwas ändern, indem sinnwidrig die alte Regierung gestärkt wird.

Es zeigt sich, wie tief das Austeritätsdiktat verinnerlicht wurde. Die Versuche von Labour, dieses aufzuheben, wurden schlicht nicht ernst genommen. Der Bevölkerung, nach all den Jahren Sparzwang durch Tories und New Labour, nun plötzlich kostenloses Internet zu versprechen, die 32-Stunden-Woche, Gratis-Busse für alle unter 25 Jahren und dergleichen mehr, wirkte auf das Publikum wie die windigen Behauptungen einer Partei, die ohnehin fest davon ausgeht, nicht an die Macht zu gelangen. Dass Labour dies alles durchgerechnet haben will und für finanzierbar hält, nützte ihr nichts mehr, denn für solch aufwendige Argumentation und die dafür nötige Überzeugungsarbeit fehlte die Zeit.

Über allem schwebte letztlich der Brexit und der wird kurz nach der Wahl von der Labourspitze als Hauptgrund des Misserfolges genannt. Hier war es aber vor allem die Unübersichtlichkeit der Argumentation von Labour. Man wollte das Land zusammenführen, indem einerseits der Brexit betrieben werden soll, allerdings mittels eines besseren Deals mit Brüssel (als ob den meisten nicht nach über drei Jahren Verhandlungen die Lust auf neue Deals gehörig vergangen wären). Dieser Deal hätte dann anderseits der Bevölkerung mittels eines neuen Referendums zur Abstimmung vorgelegt werden sollen, bei dem die Labourpartei sowohl für den eigenen, neuen und besseren Deal geworben hätte, als auch für den Verbleib in der EU.

Man kann sich gut vorstellen, wie sich die britischen Wähler, auf ihren Türschwellen stehend, leicht verzweifelt am Kinn kratzen mussten, nachdem ihnen die lokalen Labour-Abgeordneten diesen Plan wortreich dargelegt hatten. Boris Johnson fuhr stattdessen buchstäblich mit dem Bulldozer drüber und hatte den Briten nichts anderes zu sagen als "Get Brexit done".

Eine Wählerin brachte in der BBC ihre Verzweiflung gut zum Ausdruck, indem sie meinte, "wir wollen raus aus dem Brexit." Der Wunsch, das nicht enden wollenden Drama beenden zu können, war groß, wohlwissend, dass der EU-Austritt in der von Johnson ausgehandelten Form mehr Schaden als Nutzen für das Land bringen wird.

Neblig-trübe Aussichten

Keine Frage, die Menschen in Großbritannien haben ein wenig aufgegeben. Die Stimmung wirkt wie auf dem SPD-Parteitag. Nur ein paar unentwegte Verrückte simulieren Begeisterung, der große Rest ist entschlossen, sich dem miesen Schicksal zu fügen. Der Wettkampf, welches westliche Land von dem größten Clown regiert wird, ist jetzt wieder offen. Die USA werden sich warm anziehen müssen, denn Trump hat in Johnson einen mächtigen Gegner, wenn es um unaufgeklärte und selbstsüchtige Impulsreaktionen geht. Aufklärung verschafft dagegen aber offenbar nur wenig Abhilfe, denn die Menschen wissen dies alles sehr genau.

Angesprochen auf Johnson seufzen die meisten. Kaum jemand bekennt sich frohgemut zu einem Mann, der Arbeiter für versoffene Nichtsnutze hält und sich sein Frauenbild aus einem 70er-Jahre Softpornos zusammengereimt hat. Kein denkender Mensch kann einem Premierminister trauen, der nicht einmal in der Lage ist, die Zahl seiner Kinder anzugeben.

Aber dies zu beklagen nützt der linken Opposition wenig. Vielmehr muss sie sich von Johnsons Berater Dominic Cummings nachsagen lassen, sie seien es gewesen, die die Lebensrealität der Menschen im Land verkannt hätten. Londoner Eliten würden auf die weniger gebildeten Leute herabsehen und wollten diese bevormunden. Das ist in Teilen nicht falsch, denn der Frust und das Unverständnis darüber, dass sich so viele ganz offenbar betrügen lassen wollen, hat sicherlich zu der ein oder anderen herablassenden Formulierung geführt.

Jeremy Corbyns Plan, wieder sozialistische Ideen zurückzubringen, musste allein hieran scheitern. Denn die Kommunikation zwischen hochgebildeten Aktivisten der "Momentum"-Bewegung und breiteren Bevölkerungsschichten hat nicht funktioniert. Es ist aber auch fraglich, ab Labour klug daran beraten ist, die gewissen Erfolge, wie beispielsweise den starken Anstieg an Parteimitgliedern, nun aus Wut über die verlorene Wahl zu verdammen und herzuschenken. Vielmehr müsste weiterhin an der Einbindung der neuen Aktivisten gearbeitet werden.

Die nächsten Wahlen mögen noch sehr weit entfernt sein, aber ein Hoffnungsschimmer für Labour könnte darin liegen, dass Boris Johnson ein "One Trick Pony" ist. Wenn er das Thema Brexit verliert, indem er diesen im Jahr 2020 durchführt, dann dürfte augenfällig werden, dass er kein wirkliches Programm hat, um das Leben im Land zu verbessern. Ob es allerdings Labour gelingt, bis dahin die enormen Gräben zwischen linkem "Momentum"- und konservativem "New Labour"-Flügel zuzuschütten, ist sehr fraglich.

Außerdem ist ungewiss, ob es in fünf Jahren überhaupt noch ein Vereinigtes Königreich gibt, nachdem in Schottland die Nationalisten der SNP einen überragenden Wahlsieg feierten und in Nordirland erstmal die Nationalisten stärker als die Unionisten sind. Aber das sind alles Details, die den großen Geist eines Boris Johnson kaum stören können. Denn dem geht es bekanntlich strikt um die persönliche Ambition. Die hat mit dem Einzug in 10 Downing Street und deren eindrucksvoller Bestätigung durch die Unterhauswahlen 2019 ihren Höhepunkt erreicht. Ein Erfolg, den Johnson mit Zähnen und Klauen verteidigen wird, notfalls eben auch als der erste Premierminister von England und Wales.


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