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Die Rückkehr der Rechts-Links-Polarität – und ihre Erweiterung

Von Nancy Frasers Progressivem Liberalismus, Querfronten und einem Vorschlag Slavoj Žižeks zur Analyse zeitgenössischer politischer Strömungen und Allianzen

Gibt es eine architektonische und städtebauliche Agenda hinter der Politik zeitgenössischer rechtspopulistischer, rechtsradikaler, rechtsextremistischer und (neo-)faschistischer Kräfte? Und wenn ja: Inwieweit macht sich hierfür die sogenannte Mitte der Gesellschaft zur unfreiwilligen Helferin? Diese Leitfragen ziehen sich durch die in dem Band Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche versammelten, teils vieldiskutierten Essays und Gespräche von Stephan Trüby. Ihr Hintergrund: Viele westlich-liberal geprägte Demokratien erfahren derzeit einen bis vor wenigen Jahren kaum für möglich gehaltenen gesellschaftlichen Rollback. Dieses Buch zeigt, wie die politische Rechte in Deutschland und darüber hinaus die Architektur, die Stadt und das Land zu formen versucht. Telepolis publiziert im Folgenden einen Auszug.


Stephan Trüby
Rechte Räume [1]
Politische Essays und Gespräche

Berlin, Basel: Birkhäuser
288 Seiten, 135 Abbildungen
29,95 Euro.


Ein Denken in Rechts-links-Schemata sei "passé", so war immer wieder zu hören in den letzten vier Jahrzehnten, seit eine weitgehende Neoliberalisierung sozialdemokratisch-linker und eine weitgehende Liberalisierung konservativer Positionen stattgefunden hat, mit dem Resultat, dass sie mit minimalen Unterscheidungsmerkmalen um die "Mitte" warben. Entsprechend schreibt 1994 Norberto Bobbio (1909-2004), der italienische Philosoph, der sich selbst als "liberalen Sozialisten" bezeichnete: "Noch nie wurde so viel gegen die herkömmliche Differenzierung zwischen Rechts und Links geschrieben wie heute: Sie wird als überholt betrachtet, als sinnlos […]."1 [2] Auch gut zwanzig Jahre später, im Jahre 2015 äußert sich der Münchner Soziologe Armin Nassehi in Die letzte Stunde der Wahrheit in vergleichbarer Weise, wenn er, der sich "weiß Gott nicht dem linken Mainstream"2 [3] zugehörig fühlt, konstatiert: "Dass etwas rechts oder links sei, konservativ oder progressiv, enthält immer weniger Informationswerte […]."3 [4]

Nassehis Einschätzung mündet in einen eher unpräzisen Aufruf zu mehr Multi-Perspektivismus, auch und gerade in der Theorie: "Beschreibungen müssen vorsichtiger werden, müssen mit Rückkopplungen rechnen, damit, dass sie selbst zum Beschriebenen dazugehören, sie müssen mitliefern, dass alles Reden nur ein Reden aus der Perspektive unterschiedlicher Perspektiven ist."4 [5]

Innerhalb der Rechts-links-Polarität, die sich seit der verfassungsgebenden Nationalversammlung im revolutionären Frankreich von 1789 zur wichtigsten Navigationshilfe in politischen Fragen entwickelt hat, impliziert die Denkfigur des Rechten vor allem eine kollektive Orientierung am Mythos. Entsprechend macht Armin Mohler (1920-2003), einer der prägenden Rechtsintellektuellen (ja, es gibt wenige, aber es gibt sie, auf die diese Titulierung durchaus passt) im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus, das große, enthusmiasmierende "Schlachtenbild" als zentralen Gedanken der Rechten aus.5 [6]

Für den gebürtigen Schweizer, der sich in seinerm Heimatland stets "monumental unterernährt"6 [7] fühlte und daher 1942 illegal über die deutsche Grenze ging, um sich der Waffen-SS anzuschliessen, war Deutschland vor allem ein "geistiges Prinzip", eine "metaphysische Größe".7 [8] Mohler und andere Rechte reagieren auf gesellschaftliche Komplexitäten üblicherweise mit der Unterkomplexität ethnischer Homogenität - und damit identitären, ethnopluralistischen Gesellschaftskonzepten nach dem Motto "Deutschland den Deutschen", "Frankreich den Franzosen, "Ungarn den Ungarn" etc.

Mythos gegen Utopie

So schreibt Alain de Benoist (geb. 1943), die von Mohler stark beeinflusste zentrale Figur der französischen Rechten: "Ich nenne hier […] die Haltung rechts, die darin besteht, die Vielgestaltigkeit der Welt und folglich die relativen Ungleichheiten, die ihr notwendiges Ergebnis sind, als ein Gut und die fortschreitende Vereinheitlichung der Welt, die durch den Diskurs der egalitären Ideologie der seit zweitausend Jahren gepredigt und verwirklicht wird, als ein Übel anzusehen."8 [9]

Darüber hinaus reagieren die allermeisten Rechten - die Wortführer sind fast ausschließlich Männer - auf gesellschaftliche Komplexitäten mit der Unterkomplexität traditioneller Geschlechterrollen. Im Unterschied zum bewahrenden, "gärtnerischen" (Mohler) Konservativismus üben sie sich mit Vorliebe an der (Rhetorik einer) Machtübernahme in einem umstürzlerischen Akt; daher ihre Begeisterung für das (Mohler’sche) Paradoxon einer "Konservativen Revolution".9 [10] Nur bei einer Frage herrscht innerhalb der Rechten große Uneinigkeit: der Zweckmässigkeit internationaler Märkte und Finanzströme.

Gegen die Mythos-Fixierung der Rechten setzt die Linke auf die Orientierung an der Utopie und auf die weitgehende Konstruierbarkeit gesellschaftlicher Ordnungen. Ebenso interessiert sich eine eher linke Perspektive, wie Nassehi zurecht schreibt, generell "für die Schwächeren, für die Unterprivilegierten"; sie erkennt an, "dass soziale Ungleichheit vor allem das Ergebnis sozialer Strukturen ist".10 [11] Dem Disput über die Zweckmässigkeit internationaler Märkte und Finanzströme innerhalb der Rechten entspricht innerhalb der Linken der Streit über die Rolle und Tauglichkeit des Nationenbegriffs.

Bei allen gerechtfertigten Einwänden gegenüber einem "rechten Nationalismus" sollte man sich stets vor Augen führen, dass nicht nur die Gründungsszene der Linken eine nationalistische war - in der Französischen Revolution setzte sich das französische Volk gegen die von Frankreich angeführte monde der Aristokratie durch -, sondern dass sich die meisten sozialistischen Experimente des 20. Jahrhunderts nationalen Befreiungsbewegungen verdanken (und nur manchmal von ernstgemeinten internationalistischen Impulsen durchdrungen waren).

Der linke Internationalismus wurde in der jüngeren Gegenwart etwa von Immanuel Wallerstein (1930-2019) vertreten, dem Begründer der Weltsystemanalyse. Wallerstein diganostiziert einen Paradimenwechsel weg vom europäisch geprägten Universalismus (mit seinen drei zentralen Verfahren und Konzepten, nämlich dem vermeintlichen Interventionsrecht gegen militärisch "schwächere" Barbaren, dem essentialistischen Partikularismus des Orientalismus und dem wissenschaftlichen Universalismus11 [12]) hin zu einem wahrhaft "universellen Universalismus": "Es wäre die Welt von Senghors rendez-vous du donner et du recevoir. Es gibt keine Garantie dafür, dass wir dorthin gelangen. In den Auseinandersetzungen der nächsten fünfzig Jahre wird es um diese Frage gehen.

Die einzige ernsthafte Alternative ist eine erneute hierarchische, ungleiche Welt, die behauptet, auf universellen Werten gegründet zu sein, in der jedoch Rassismus und Sexismus weiterhin unser Handeln beherrschen, vielleicht sogar auf viel krassere Weise als dies in unserem gegenwärtigen Weltsystem der Fall ist."12 [13]

Žižek und das Achsenmodell

Zwar wird in der Tat die simplifizierende Rede von rechts und links vielen Komplexitäten der Gegenwart nicht mehr gerecht, doch käme ein labyrinthischer Multi-Perspektivismus à la Nassehi oder gar eine Komplettaufgabe der Rechts-links-Polarität einer Entpolitisierung gleich. Hierauf haben vor allem Theoretiker*innen aus dem neomarxistischen Spektrum wie Chantal Mouffe13 [14] oder Slavoj Žižek hingewiesen.

Man muss das jüngere linksreaktionäre Feminismus-, LGBTI- und Political-Correctness-Bashing des Letzteren nicht teilen, um seinen bemerkenswerten Aufsatz "Die populistische Versuchung" (2017) zu goutieren, in dem die tradierte Polarität von rechts und links insofern aktualisiert wird, als Žižek sie durch die kreuzförmige Kombination zweier Achsen ersetzt: die Achse "Universalität versus patriotische Zugehörigkeit" sowie die Achse "Kapitalismus versus linker Antikapitalismus".14 [15]

Im Anschluss daran hat der Verfasser den Vorschlag des slowenischen Philosophen in ein politisches Positionen-Diagramm überführt, sodass sowohl die Linke als auch die Rechte jeweils in zwei Aggregatzustanden erscheinen: einmal in einer international orientierten und einmal in einer nationalistischen.

In ein solches Positionenmodell können die gängisten Politikoptionen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit eingetragen werden: auf der linken Seite etwa die universalistische Linke ebenso wie die globalisierungsfeindliche, patriotische, anti-kosmopolitische und manchmal auch latent oder offen antisemitische Linke; auf der rechten Seite den multikulturellen Kapitalismus sowie den patriotisch-völkisch-antisemitischen Antikapitalismus.

Einen Bedeutungszuwachs diagnostiziert Žižek mit Blick auf Donald Trumps Kombination von Neoliberalismus und anti-neoliberaler "America-First"-Politik vor allem auf der Achse der "doppelten Rechten" - und zieht den Schluss, "dass der globale Kapitalismus mit partikularen und kulturellen Identitäten bestens koexistierten kann".15 [16]

Erklärung für neue Allianzen

Nur mit knapper Not konnte bekanntlich der demokratische (Links-)Liberalismus amerikanischer Prägung eine zweite Amtszeit Trumps verhindern Žižeks verdienstreiches Kreuzachsen-Denken lässt sich auch erweitern, um viele vermeintlich überraschende politische Koalitionen der letzten Jahre und Jahrzehnte zu verstehen, so die Kombination aus universalistischer Linker und multikulturellem Kapitalismus, die Nancy Fraser einmal als "Progressiven Liberalismus"16 [17] (paradigmatisch repräsentiert etwa in der Symbiose von neoliberalen Finanzeliten und einer "kritischen" Kunstwelt) bezeichnet hat.

So auch die Kombination aus nationalistischer bzw. antisemitischer Linker und nationalistischer Rechter, die gemeinhin als "Querfront" bezeichnet wird - und die in den letzten Monaten vor allem im Kontext der zusätzlich noch von Esoteriker*innen Impfgegner*innen befeuerten Anti-Corona-Proteste sich zu einer signifikanten Gefahr westlicher Demokratien entwickelt hat [Abb.].

Prof. Dr. phil. Stephan Trüby (*1970) ist Professor für Architekturtheorie und Direktor des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart. Zuvor war er Professor für Temporäre Architektur an der HfG Karlsruhe (2007-09), leitete das Postgraduiertenprogramm MAS Scenography/Spatial Design an der Zürcher Hochschule der Künste (2009-2014), lehrte Architekturtheorie an der Harvard University (2012-2014) und war Professor für Architektur und Kulturtheorie an der TU München (2014-2018). Zu seinen wichtigsten Büchern gehören Exit-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden (2008), The World of Madelon Vriesendorp (2008, mit Shumon Basar), Germania, Venezia. Die deutschen Beitrage zur Architekturbiennale Venedig seit 1991 - Eine Oral History (2016, mit Verena Hartbaum), Absolute Architekturbeginner: Schriften 2004-2014 (2017), Die Geschichte des Korridors (2018) und Rechte Räume. Politische Essays und Gespräche (2020).


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