"Die Segel ihrer Schiffe sind wie Spinnennetze"

Die englisch-französische Flotte in der Bucht von Hong Kong während des 2. Opiumkriegs (1860). Bild: Wellcome Collection gallery / CC-BY-SA-4.0

Der Niedergang Chinas als Hegemonialmacht im Spiegel zeitgenössischer Reisender und Intellektueller - Auch ein Lehrstück über Zivilisation und Barbarei

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Chinesische Reisende zeigten sich über die Maßen überrascht, als sie im "Land der Barbaren" um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf ein ihrem Eindruck nach imposantes Zeichen von Zivilisation stießen - die Rede ist vom Kölner Dom. In ihren Reisebeschreibungen nannten sie Köln "Kelunen" oder "Qulun" und erkannten im Dombau, der - nach einer ziemlichen Zwangspause - zwischen 1842 und 1880 in die Schlussphase ging, eine riesige Tempelpagode.

Der Kölner Dom - die Tourismusbranche feiert ihn inzwischen als "Giganten" unter den deutschen Sehenswürdigkeiten: Mit geschätzten sieben Millionen Besuchern (2018) ist die Kathedrale bundesweit das beliebteste und am meisten frequentierte Wahrzeichen und stellt selbst Schloss Neuschwanstein in den Schatten. Und auch Kunstliebhaber werden angezogen, der Koloss zählt zu den europäischen Vorzeigestücken gotischer Architektur.

Zu den Liebhabern zählen heutzutage, im 21. Jahrhundert, die chinesischen Touristen an vorderster Front. Nicht wenige gehen buchstäblich vor dem Dom in die Knie oder legen sich selbst an der befahrenen Domgasse ohne Rücksicht auf Leib und Leben rücklings auf's Pflaster (echt beobachtet!), um das ultimative Andenkenfoto zu erhaschen. Die Begeisterung ist phänomenal. Aber sie hat kollektiv, was China und sein Verhältnis zum Westen angeht, durchaus zwiespältige Anteile. Chinas vielbeschworene "Öffnung zum Westen" geschah, vorsichtig formuliert, nicht ganz freiwillig, und als Chinesen um 1850 herum den Wohnsitzen der "Barbaren" neugierige Besuche abstatteten, kamen sie erstens mit handfesten Erwartungen und zweitens mit gemischten Gefühlen.

Die East India Company, größter Drogenhändler ihrer Zeit

Man versteht den Zwiespalt, in dem Besucher aus dem Reich der Mitte (mit seiner jahrtausendealten Kultur) damals steckten, wenn man folgendes bedenkt: Soeben war für sie ein neues Zeitalter angebrochen, und nicht mit guten Vorzeichen. Im Ersten Opiumkrieg (1839 bis 1842) bekam China es mit der geballten Dominanz des Westens zu tun; der Zweite Opiumkrieg (1856 bis 1860) besiegelte die Unterwerfung Chinas unter die rücksichtslosen Interessen der westlichen Imperialisten.

Das eigentliche Ziel wissenshungriger Besucher und diplomatischer Delegationen aus Fernost waren daher um die Mitte des 19. Jahrhunderts weniger die Kulturschätze, sondern die Dampfschiffe und Kanonen der westlichen "Barbarenvölker", die ihnen im Ersten und Zweiten Opiumkrieg mit ihrer Kriegstechnik zugesetzt hatten - die galt es auszukundschaften. Der chinesische Historiker Monlin Chiang (1886 bis 1964) schrieb rückblickend:

Da wir von Kanonenkugeln außer Gefecht gesetzt worden sind, haben wir uns natürlich für diese interessiert, weil wir hofften, wenn wir sie nachmachen könnten, den Angriff zu erwidern (...)

Monlin Chiang

Geistesleben und Kultur dagegen - die hatte man den westlichen Kanonenbauern kaum zugetraut. Was im kollektiven Gedächtnis der Chinesen (und übrigens anderer Völker in ähnlicher Lage) bis heute haften blieb, waren die technologischen Mittel der europäischen Mächte, mit denen die "Öffnung Chinas" erzwungen wurde. Die mit überlegener Waffengewalt erzwungenen Opium-Importe, das waren die Erfahrungen, dienten letztlich nur der Durchsetzung kolonialer Wirtschaftsinteressen.

Was selten so erwähnt wird: In dem Jahrzehnt zwischen 1830 und 1840 war die britische East India Company (BEIC) weltweit der größte Drogenhändler und hatte bei verschiedenen Gelegenheiten ihren Einfluss nicht nur auf China, sondern auch auf die Philippinen und auf Java ausgeweitet. Mit den tonnenweisen Lieferungen von indischem Opium nach China finanzierte die BEIC den Erwerb von Tee, Seide und Porzellan.

Als Ergebnis der Opiumkriege und nachfolgender zweifelhafter "Friedensverträge" wurde China de facto zu einer Halbkolonie degradiert, das Land fortan mit westlichen Handelsgütern aller Art überschwemmt.

"Da Tong Shu" oder: Die Welt als Sklavenhaus

Der Chinese Kang Youwei (1858 bis 1927), ein Gesellschaftsreformer im späten Kaiserreich (Qing-Dynastie), hinterließ einige sehr interessante Schriften, darunter seine "Reiseaufzeichnungen aus elf europäischen Ländern" (1904). Dort kann man lesen: "Doch was in Qulun [= Köln] am berühmtesten ist und Touristen aus allen Ländern heranpilgern lässt, das ist nicht der Prunk dieser Stadt - sie kommen alle für die Tempelpagode." Gemeint ist hier natürlich der Kölner Dom, und in den Worten Kangs deutet sich schon ein Umdenken (aus der Warte von 1904) an, nämlich die Einsicht, dass auch die Barbarenvölker so etwas wie Kultur vorzuweisen hatten.

Kang war eigentlich Pädagoge und Philosoph, er stammte aus angesehenen Verhältnissen, einer Familie hoher Staatsbeamter. Kang gilt als Protagonist der geistigen Auseinandersetzung Chinas mit dem Abendland auf dem Weg ins 20. Jahrhundert; seine Reformvorschläge berühren so ziemlich sämtliche Lebensbereiche. Er träumte von einer geeinten Menschheit; die Leichtigkeit, mit der die britischen Truppen China in die Knie gezwungen hatten, hatte auch ihn nachhaltig erschüttert. In seiner Utopie "Da Tong Shu" ("The Book of Great Unity") beschrieb er die Erde als ein großes Schlachthaus und Gefängnis, in das die Menschen als versklavte Erdlinge eingesperrt sind.

Die "Barbaren mit den roten Haaren"

Buchdruck, Kompass und Schießpulver, oft als die drei großen Erfindungen des Mittelalters bezeichnet, hatten ihre Wurzeln in China. Aber nun war es anders, im Westen, in den Ländern der Barbaren, boomte der technische Fortschritt. Schon seit Beginn des 16. Jahrhunderts erregten westliche Schiffe in Asien Aufsehen. Ein Text aus dem 18. Jahrhundert, der sich auf frühere Quellen stützt, lässt die Demütigung anklingen, die auf China, der Selbsteinschätzung nach "das größte Land der Erde", da zukommt:

Die Menschen, die wir als Barbaren mit den roten Haaren bezeichnen, sind die Holländer. Sie heißen Po-ssuhu (…). Die Segel ihrer Schiffe sind wie Spinnennetze, die auf der Suche nach Wind in alle gewünschten Richtungen bewegt werden können.

Zitat

Die Herren der Meere hatten das Sagen, und das waren keine Asiaten. Es waren die Kanonenboote der Königin Victoria, die den Versuch Chinas zunichte machten, die unerwünschten Opium-Importe zu stoppen.

Blick zurück: Bereits wenige Jahre nach dem Erscheinen europäischer Schiffe im Indischen Ozean mussten sich nichteuropäische Schiffe bei den Europäern Freibriefe ausstellen lassen, wenn sie nicht durch Kanonenkugeln versenkt werden wollten, bemerkt der Wirtschaftshistoriker Carlo Cipolla. Zwischen ca. 1600 und 1700 begann militärtechnisch bedingt noch eine neue Phase, denn von der Zeit an verfügten die Europäer, neben den überlegenen Schiffsgeschützen, allmählich auch über eine wirksame Feldartillerie; dies zusammen mit Verbesserungen im Schiffsbau führte zu einer Übermacht, die sich nicht mehr allein auf die Herrschaft zur See beschränkte.1

Wie geografische Karten zeigen, bestanden die europäischen Besitzungen bis zum 18. Jahrhundert im wesentlichen aus Flottenstützpunkten und Küstenbefestigungen (a.a.O.163). Bald begann auch die territoriale Expansion.

"Warum sind wir groß und schwach?"

Die bittere Erfahrung der eigenen Unterlegenheit schildert ein anderer Reformer, Feng Kuei-fen (1809 bis 1874). Feng war technologischen Fragen gegenüber offen eingestellt, verwahrte sich aber gegen die westlichen Werte und die westliche Gesellschaftsverfassung ("Essays of Protest"). Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb er den Vormarsch der westlichen Barbaren (er nannte sie "kleine Barbaren") so:

Der schrecklichste Zorn seit der Erschaffung des Himmels und der Erde glüht in allen unter uns (…); ihre Haare sträuben sich vor Wut so sehr, dass sich die Kopfbedeckung anhebt. Denn das größte Land der Erde [damit meinte er natürlich China] mit einer Oberfläche von zehntausend li wird beherrscht von kleinen Barbaren (…). Warum sind sie klein und stark? Warum sind wir groß und schwach? (…) Wir müssen von den Barbaren nichts anderes lernen, als Schiffe und Kanonen zu bauen.

Feng Kuei-fen

Die seit Menschengedenken geltende Gewissheit der eigenen (der asiatischen) Überlegenheit gegenüber den abendländischen "kleinen Barbaren" war heillos erschüttert. Chinesen, Türken und Inder, so zeigen es die Studien von Cipolla, erkannten die Möglichkeiten im Schiffsbau, das Potenzial der Bordkanonen und die daraus sich zwingend ergebende neue Taktik der Seekriegsführung erst, als es schon zu spät war.

Die meisten der konfuzianischen Gelehrten dieser Epoche des Umbruchs waren der Ansicht, man sollte die Technologie der Barbarenvölker nur übernehmen, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Diese Position klingt auch bei Feng Kuei-fen an. Nicht so der erwähnte Kang Youwei. Er war der Ansicht, der westliche technologische Vorsprung könnte eines Tages dabei behilflich sein, das Projekt Humanität zu gestalten. In seiner Utopie "Da Tong Shu" betonte er daher nicht nur die Defizite und Abgründe der Menschheit, sondern zeigte auch Enthusiasmus - für eine bessere Welt, und zwar dank technischer Errungenschaften.

Kang dachte, Technik könnte die menschliche Arbeit erleichtern und plädierte - höchst modern, möchte man meinen - für eine Arbeitszeit von drei bis vier Stunden täglich. Außerdem sah er bereits die weltweite Vernetzung der Menschheit voraus, die es jedem ermöglichen würde, mit jedermann in Verbindung zu treten.

Resümee: "Technisch fortschrittlich" = "Zivilisiert"?

Die Geschichte dieser Umbruchszeit ist insofern auch ein Lehrstück aus dem Kapitel Imperialismus. Der Erste Opiumkrieg leitete den Niedergang Chinas ein - von Asiens einst unumschränkter Hegemonialmacht zu einer informellen West-Kolonie. Die Atlantik-Anrainer mit ihren Segelschiffen und Kanonen waren diejenigen, die zu Weltmächten in den entscheidenden Jahrhunderten der Neuzeit aufstiegen.

Noch einmal zurück ins Jahr 1866: Der Student Hang Deyi macht in Köln Station. Er gehört zu einer Gruppe von Chinesen, die mehr über die Barbarenvölker herausfinden wollen. Allerdings - ein kleiner Treppenwitz der Geschichte - zeigt er mehr Interesse für das Duftwasser, mit dem die Bewohner von "Kelunen" ihre Körper benetzten; für den Dom hatte Hang 1866 kaum ein Auge. Das sollte sich bald gewaltig ändern. Der Kölner Dom gewann in den Jahren seiner Vollendung (und das blieb bis heute so) aus asiatischer Perspektive ein ganz besonderes Ansehen als herausragendes Symbol einer fremden Kultur, das Reisenden aus Fernost ein respektvolles Interesse abnötigt.

Zum Resümee gehört aber noch etwas Anderes. "Zivilisiert" und "technisch fortschrittlich" wird gern ineins gesetzt. Der Wirtschaftshistoriker Carlo Cipolla weist auf diesen Kurzschluss hin und nimmt für seine Thesen die historische Korrektheit in Anspruch (das, was "historisch richtig" ist), wenn er daran erinnert, dass sich die technologisch fortgeschrittensten Völker (sic!) durchsetzten, und dies unabhängig davon, wie zivilisiert sie sind - was ohnehin nur schwer zu bestimmen sei.2

Um die Technologie des Westens zu übernehmen, mussten sich die nichteuropäischen Völker einem Prozess der Verwestlichung unterziehen und sich im Kampf gegen den Westen paradoxerweise in Denken und Handeln angleichen.

Carlo Cipolla

Und darin erkennt er trefflich die Geschichte vom Zauberlehrling.

Quellen und Literatur

Chang, Tien-tse: Sino-Portuguese Trade from 1514 to 1644, Leyden 1934

Chiang, Monlin: Tides from the West: A Chinese Autobiography, New Haven 1947

Cipolla, Carlo M.: Segel und Kanonen. Die europäische Expansion zur See, Berlin (Klaus Wagenbach) 1999 (ital. Originalausgabe: Bologna 1983)

Kang Youwei: Ta Tung Shu ("Da Tong Shu"). Das Buch von der Großen Gemeinschaft. Hrsg. d. dt. Ausg.: Wolfgang Bauer. M. e. Vorwort v. W. Bauer, Düsseldorf, Köln (Diederichs) 1974 (= Diederichs Gelbe Reihe, Bd. 3 China)

Teng, Ssu-yu, Fairbank, John K.: China's Response to the West: A Documentary Survey, 1839-1923, Harvard University Press 1954

Xuetao, Li: Beitrag über die Stadt Köln und den Dom aus der Sicht reisender Gelehrter der späten Qingzeit (1842-1911), in: Jahrbuch des Zentral-Dombau-Vereins (ZDV), hrsg. von Peter Füssenich und Klaus Hardering, 83. Folge, Köln 2018