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Die Stadt, diese schöne neue Welt

Wie die Digitalisierung unsere urbanen Zentren verändert

Vor vierzig Jahren veröffentlichte Hans Jonas sein Buch Prinzip Verantwortung. Darin beschrieb er es als ein grundlegendes Prinzip, dass man sich nicht vom Wünschenswerten leiten lassen dürfe. Unheilsprognosen müssten den Vorrang vor Heilsprognosen haben, zumal die Menschen schlecht darauf vorbereitet seien, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

"Im Zeichen der Technologie hat es Ethik mit Handlungen zu tun, die eine beispiellose kausale Reichweite in die Zukunft haben. Dazu die schiere Größenordnung der Fernwirkung und oft auch ihre Unumkehrbarkeit", so Jonas. Die Menschen, so darf man ihn zusammenfassen, tun nicht, was sie wissen.

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Mag die Digitalisierung sich für viele bloß vage am Horizont abzeichnen, so werden wir uns der damit einhergehenden gesellschaftlichen Transformation doch nicht entziehen können.

Technik und Wissenschaft entfalten ebenso wie Märkte gewaltige Kräfte, und grundsätzlich wohnt einer solchen Dynamik keinerlei moralische Instanz inne, die mögliche Negativentwicklungen aus sich heraus stoppen würde noch könnte.

Was einmal gedacht ist, wird nicht mehr zurückgenommen – so hat es schon Friedrich Dürrenmatt in den Physikern formuliert –, und eine Entwicklung wie die der Digitalisierung zieht im Prinzip unaufhaltsam ihre Bahn.

Die Industrie drängt nach mehr; sie macht vollmundig Versprechungen und weist, so beredt wie bildreich, auf verlockende Möglichkeiten hin. Und in Bezug auf unsere Städte soll das wohl heißen: Handlich, flexibel und hip wie das neueste Smartphone.

Nun zeigt ja das Beispiel des Carsharing, dass Technologie, Akzeptanz für neue Zugangs- statt Eigentumsmodelle und die Entwicklung völlig neuer Geschäftsformen in der Stadt durchaus Hand in Hand gehen können und in der Lage sind, dynamische Innovationsketten in Gang zu bringen.

Aber: Wer oder was bestimmt eigentlich, was passiert? Wie verändert es die Stadt, in der wir leben? Doch solchen Fragen nachzugehen, scheint nicht besonders populär.

Mit dem Begriff "Smart City" wird unverdrossen insinuiert, dass das Urbane allein durch ein immenses Maß an neuer Technologie für die Zukunft fit gemacht werden könne. Was freilich schon deshalb zu bezweifeln ist, weil die Konsequenzen und Implikationen in den unterschiedlichen Bereichen nicht über einen Kamm zu scheren sind.

So wird etwa die digitale Dematerialisierung mit ziemlicher Sicherheit große Bedeutung für unser Arbeiten und Produzieren erlangen, jedoch kaum für die Art und Weise, wie wir uns beheimaten.

Denn das Wohnen ist konservativ – nicht nur, weil es habituell und von Gewohnheiten geprägt ist. Sondern auch in einem elementaren Sinne. Denn es geht dabei um "Obdach", im Wortsinne um ein "Dach über den Kopf".

Und ein solches Dach wird niemals aus Daten bestehen, vielmehr setzt es Physis und Materialität zwingend voraus. (Die Materialisierungen hingegen, also die Entwicklung neuer Materialien – wie High-tech-Folien usw. – dürften hier größere Auswirkungen haben.)

Ohnehin wird der Wandel bei den Wohnvorstellungen gerne überschätzt. Dass man für Patchwork-Familien, Single-Haushalte, Schwulen-WGs oder Home-Office-Etablissements eine andere Architektur braucht, darf bezweifelt werden.

Stadtentwicklung: Die Flächennachfrage wird zunehmen

Wer häufiger einmal umgezogen ist – etwa in Wohnungen, für deren ungünstige Grundrisse kein Student ein Diplom bekommen würde – lernte sich zu arrangieren mit dunklen Zimmern, langen Fluren und Dachschrägen.

Man brauchte Fantasie, um es sich wohnlich zu machen. Und eben deswegen waren alle Behausungen gelebte Erfahrungen, die man im Nachgang nicht missen möchte. Man durfte nur nicht mit festen Vorstellungen ankommen; erforderlich war eher ein Akt der Aneignung.

Zudem gibt es einen bedeutsamen biopsychologischen Mechanismus: Aus der sogenannten Diffusionsforschung ist bekannt, dass Innovationen, die mit hoher Komplexität, einem zu großen Grad an Neuheit und einer gewissen Unsicherheit einhergehen, gerade im engeren Lebensumfeld wenig akzeptiert werden.

Daraus folgt: Das Wohnen und der Wohnungsbau werden nicht neu erfunden. Die Digitalisierung bietet ein Surplus, ohne dass deswegen tradierte Wohnmuster selbst infrage gestellt werden. Die grundsätzlichen Ansprüche an das Habitat bleiben, sie werden nicht dematerialisiert, doch sie verfeinern sich gegebenenfalls.

Ganz anders sieht es beim Wirtschaften aus. Es ist zu erwarten, dass die Digitalisierung im produzierende Gewerbe einen Beschäftigungsabbau bewirkt. Zugleich aber sind flexible Workspaces die umsatzstärksten Branchen am deutschen Büromarkt.

Der Trend wird sich fortsetzen und die Flächennachfrage in zentralen, hochfrequentierten Lagen weiter steigen. Neue Arbeitsformen verändern das Gesicht der Stadt vorwiegend in sozialer Hinsicht (Fachkräftemangel, Integration von Zugewanderten in den Arbeitsmarkt, Verdrängungseffekte auf dem Wohnungsmarkt usw.), doch auch in städtebaulicher Form (FabLabs, Campus-Anlagen großer Firmen, smarte Fabriken).

Doch eine identifizierbare Zielrichtung hat das noch nicht. Vielfach wird so getan, als sei klar, was etwa die Büroarbeit der Zukunft architektonisch ausmacht: Glasflächen, viel Tageslicht, wenige Wände, eine offene Treppenskulptur, trendige Möbel. Die offenen Geschossflächen werden zu großen Teilen mit Mobiliar gegliedert oder mit Glaswänden abgetrennt.

Um trotz heterogener Mieterschaft jedem Nutzer den bestmöglichen Komfort zu bieten, unabhängig davon, an welchem Platz er gerade arbeitet, werden intelligente Decken eingebracht. Kühlung, Heizung und Beleuchtung sind hier integriert und mit mehreren tausend Sensoren versehen. Alles kann mit einer App über das Smartphone bedient werden.

Vermutlich ist das nicht die abschließende Antwort. Wie überhaupt vieles am Schlagwort von der "produktiven Stadt" denkbar und wünschenswert ist – etwa die Rückkehr von Kleinindustrien, die emissions- und lärmarm sind. Im großen Maßstab realistisch ist das jedoch kaum.

Hinzu kommen potenzielle Probleme: So kann etwa rentables Wirtschaften auf kleinen urbanen Flächen und auf der Basis von 3-D-Druckern Verdrängung und Gentrifizierung bewirken – wie ja heute schon Co-Working-Spaces ganz andere Mietpreise aufzurufen in der Lage sind als traditionelle Gewerbe und Büros.

Auf der städtischen Ebene vermischen sich die unterschiedlichen Trends und Bedingungen auf das Unübersichtlichste. Folgt man dem Soziologen Armin Nassehi, dann kann eine Technologie sich nur durchsetzen, wenn sie den Nerv der Gesellschaft trifft. In seinen Augen sei die Gesellschaft schon im 19. Jahrhundert eine moderne digitale gewesen.

Wie kann eine Großstadt versorgt werden?

Diese habe sich durch eine steigende Komplexität und Urbanisierung entwickelt, was dazu führte, dass man sich auf vorherige, analoge Wahrnehmungsformen nicht mehr verlassen konnte. Bereits lange vor der Erfindung des Computers wurde gerechnet, und zwar nicht einfach gezählt, sondern relational bestimmt, wie man sich das Verhalten sozialer Kollektive vorstellen muss.

Schon so banale Fragen, welche Verkehrswege und Anbauflächen man braucht, um eine Großstadt mit Getreide für Brot zu versorgen, kann sich nicht mehr auf die Erfahrungswerte früherer Sozialformen verlassen. Arbeitsteilung erfordert abstrakte Berechnung und Kalkulation.

Nun ist es ist keineswegs so, dass eine "smarte" zwangsläufig eine neugebaute Stadt sein muss. Wie digitale Technologien Einzug halten können in Baustrukturen, möchten etwa Berlins derzeit größte urbane Entwicklungsprojekte – Siemensstadt 2.0 sowie Urban Tech Republic TXL – zeigen.

Hier sollen "tradierte Formen" von Arbeiten, Wohnen und Produzieren überwunden, umweltschonende Mobilität, Recycling und die vernetzte Steuerung von Systemen implementiert werden. Dass solche Ansprüche formuliert werden, ist zunächst einmal zu begrüßen. Wie viel davon tatsächlich umgesetzt wird, ist fürs Erste dahingestellt. Zentral freilich scheint, dass es in beiden Fällen um eine gemischte Stadt geht.

Und um just diese Tendenz ist es eigentlich zu tun: Hybride Gebiete, geprägt von einer stärkeren Nutzungsmischung und strukturell-baulicher Neutralität. Ein aktuelles Beispiel dafür stellt das neue Oberhausener Jobcenter dar, mit einem 1.000 Quadratmeter großen Gewächshaus als Dach.

Was unter der Bezeichnung "Altmarktgarten" firmiert, mag zwar zunächst wenig spektakulär wirken. Es erweist sich aber auf den zweiten Blick als ausgetüfteltes Mischmodell, das ambitionierte ökologische Ziele und einen ausgeprägten Pragmatismus vereint. Etwa, indem die Abwärme aus dem Hausinneren eingesetzt wird, um die Pflanzen auf dem Dach zu kultivieren.

Hier greifen so unterschiedliche Sphären wie Nutzerpräferenzen, Haustechnik und Forschungsfragen auf sinnige Weise ineinander. Ein entschiedener zusätzlicher Pluspunkt liegt in einer offenen architektonischen Typologie, die es unschwer erlaubt, dass die Büros später einmal in Wohnungen oder dergleichen umgewidmet werden können.

Doch auch ein Blick auf die Geschichte Berlins unterstreicht diesen Gedanken: Die Mietskasernen des 19. Jahrhunderts mit ihren konventionellen Konstruktionen und ihren einförmigen, aber neutralen Grundrissen konnten ohne großen Aufwand umgewidmet und umgebaut werden, um anderen Zwecken zu dienen als jenem, dem sie ursprünglich zugesprochen waren. Die Nachkriegssiedlungen mit ihren vorgefertigten Betonkonstruktionen und ihren hochspezialisierten Grundrissen konnten es nicht.

Gerade die sog. "Kreuzberger Mischung" stellte seinerzeit eine große Innovation im Städtebau dar: Während in den Blockrandbebauungen des 19. Jahrhunderts im Vorderhaus und Seitenflügel traditionell gewohnt wurde, dienten Hinterhaus und Hof dem Gewerbe.

Die Dichte hoch, die Wege kurz, und auch eine gewisse soziale Mischung ist garantiert. So etwas kann auch eine Referenz für den weiteren Städtebau darstellen. Hierzu zwei Beispiele aus Berlin.

Die gelungene Vermischung von Wohnen und Gewerbe hat sich der Baublock an der Ritterstraße zum Ziel gesetzt. Zwischen 1894 und 1898 erbaut, hat unlängst der Architekt Karsten Groot aus der "Butzke-Werke AG" einen validen Stadtbaustein gemacht: Hier verdrängt kein Unternehmensberatungsbüro eine alternative Kiez-Idylle, sondern hier werden im Gegenteil im Quartier geborene Institutionen gepflegt: ein Reigen aus Künstlern, Gründern und Unternehmern. In einem zweiten Schritt der Sanierung sind die offenen städtebaulichen Wunden mit neuen Seitenflügeln geheilt worden, die vielfältigste Arbeitsplätze bieten.

Den umgekehrten Weg geht das Projekt "Frizz23" von Deadline Architekten. Sie haben diese Baugruppe für Gewerbe als kleinteilige Mischung aus Kunst, Kreativwirtschaft, Bildung, Gastronomie, Einzelhandel und Wohnen konzipiert, also mit engagierten Bürgern statt dem Staat.

Der schwarze Riegel enthält Werkstattläden, Seminarräume, Wohnateliers, Studios für Kreative, Co-Working-Räume, Büros, Minilofts, ein Café, eine Projekthalle und eine kleine Galerie. Alle Einheiten von 28 bis 280 Quadratmeter Größe wurden individuell geplant, dabei – und das ist mustergültig – Projektbeteiligte als Nutzer und Investoren zugleich angesehen.

Was folgt daraus? Bei allem, was sich im Zuge der digitalen Transformation ändern wird, verlieren die bewährten Prinzipen der Stadtentwicklung, wie sie zumindest in Europa hochgehalten werden, keineswegs an Wert.

Dabei geht es um Fragen der integrierten Planung und Umsetzung von städtischen Vorhaben; aber auch um eine Behutsamkeit, die im völligen Gegensatz zu den disruptiven Fantasien der Apologeten der Tech-Welt steht.

Bei den Kommunen ist ein starker Werte- und Zielebezug erforderlich, um Technologien mit Bedacht und Weitblick zu nutzen. Stehen wir doch, um es mit den Worten von Saskia Sassen auszudrücken, vor der Aufgabe, "die Technologien zu urbanisieren".


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