Die Tragödie von Michail Gorbatschow
Seite 2: Gorbatschow konnte Sowjetunion nicht zusammenhalten
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Hätte Gorbatschow es Deng Xiaoping nachmachen können, indem er die Wirtschaft reformierte und gleichzeitig die kommunistische autoritäre Kontrolle aufrechterhielt? Das Problem dabei ist, dass das kommunistische Wirtschaftssystem in der Sowjetunion viel älter und tiefer verwurzelt war. In China dauerte die totale staatliche Kontrolle der Wirtschaft nur zwanzig Jahre, vom sogenannten "Großen Sprung nach vorn" (1949 bis 1966) bis zum Tod von Mao (1976).
In der Sowjetunion dauerte sie fast dreimal so lange. Als Gorbatschow an die Macht kam, konnten sich zum Beispiel nur noch wenige sehr alte Menschen an eine privat-bäuerliche Landwirtschaft erinnern. Die Sowjetunion verfügte auch nicht über ein riesiges Reservoir an armen, unausgelasteten ländlichen Arbeitskräften oder über die große chinesische Handelsdiaspora, auf die sie zurückgreifen konnte. Die Sowjetunion konnte daher einfach nicht die wirtschaftliche Dynamik entfalten wie China. Als sich die politischen Unruhen ausbreiteten, brach die Wirtschaft zusammen und zerstörte damit auch Gorbatschows eigene Legitimität.
Um überhaupt Wirtschaftsreformen durchführen zu können, musste Gorbatschow zudem die Macht einer sowjetischen Bürokratie brechen, die tief in das bestehende Wirtschaftssystem und seine ideologischen Grundlagen verstrickt war. Um ihre Macht zu brechen und die Perestroika (Wiederaufbau) einzuleiten, war Gorbatschow der Ansicht, dass er Glasnost (Offenheit, Transparenz) einführen musste, um die Schwächen des Systems aufzudecken und ihre Macht und Fähigkeit, Veränderungen zu blockieren, zu untergraben. Das bedeutete jedoch auch, dass die zentralisierte Macht der Kommunistischen Partei untergraben werden musste – und an diesem Punkt begannen die kommunistischen Führer bestimmter Sowjetrepubliken, sich abzusichern, indem sie an den lokalen Nationalismus appellierten.
Gorbatschow wäre vielleicht noch in der Lage gewesen, eine lockerere Form der Sowjetunion zusammenzuhalten, wenn nicht eine Reihe anderer Faktoren hinzugekommen wäre. Am wichtigsten war die Abkehr der russischen Sowjetrepublik selbst, als Boris Jelzin in Opposition zu Gorbatschow an die Spitze gewählt wurde. Das Votum für Jelzin spiegelte die Wut der Bevölkerung über die wirtschaftliche Misere wider, aber auch das Gefühl der Russen, dass russische Energie und Rohstoffe die anderen Republiken subventionierten.
Zweitens bedeutete der wirtschaftliche Zusammenbruch der Sowjetunion Ende 1990, dass Gorbatschow in hohem Maße von der Hilfe des Westens abhängig war. Ein Großteil seines verbleibenden persönlichen Ansehens war an das Ende des Kalten Krieges und die Herstellung guter Beziehungen zum Westen geknüpft. Beides wäre zerstört worden, wenn er das für den Zusammenhalt der Union erforderliche Maß an Repression angewandt hätte.
Die einzige Kraft, die das hätte erreichen können, wäre die sowjetische Armee gewesen. Die Armee war jedoch systematisch von einer innenpolitischen Funktion ausgeschlossen worden, unter Stalin rücksichtslos, unter seinen Nachfolgern eher sanft. Die Generäle wussten nicht, wie sie sich unter diesen Umständen verhalten sollten, und waren zudem verärgert, wie Gorbatschow Truppen zur lokalen Repression einsetzte, um sie dann zu enteignen und zu kritisieren. Als eine Handvoll Generäle im August 1991 beschloss zu handeln, war ihr Putsch ein chaotisches Durcheinander, das der Sowjetunion den Todesstoß versetzte.
In den fast dreißig Jahren seit dem Ende der Sowjetunion wurde Gorbatschow zu einer immer traurigeren Figur, im Westen respektiert, aber ignoriert, im eigenen Land geschmäht. In den 1990er Jahren brachen in Russland seine Reformhoffnungen in einer Orgie von Plünderung und Zynismus zusammen. Der Westen brach sein Versprechen, die Nato nicht zu erweitern, und ersetzte seinen Traum von einem "gemeinsamen europäischen Haus" durch eine Ordnung der USA und der EU, die Russland ausschloss und es zu einem ohnmächtigen Satelliten machen wollte.
Putin schuf, obwohl er Gorbatschows teilweise Zustimmung erhielt, einen Staat, der Gorbatschows Idealen zuwiderlief. Und als endgültige Zunichtemachung dieser Ideale fiel Russland im Namen eines brutalen Großmachtnationalismus in die Ukraine ein, was wiederum einen erbitterten ukrainischen ethnischen Nationalismus hervorrief und die Ethnien von Gorbatschows Vater und Mutter dauerhaft entzweite.
Wenn ich an Gorbatschow in seinen späteren Jahren denke, fällt mir ein ehemaliger alt gewordener Offizier der kaiserlich-russischen Armee ein, der im Pariser Exil bemerkte, er hätte ein glücklicheres Leben gehabt, wenn er 1917 gestorben wäre. Auch Gorbatschow wäre vielleicht glücklicher gewesen, wenn er mit seinem Land gestorben wäre.
Übersetzung: David Goeßmann.