zurück zum Artikel

Die Ukraine und das mÀchtige Wiederaufleben des US-Imperiums

Andrew J. Bacevich

US-PrĂ€sident Joe Biden trifft den ukrainischen PrĂ€sidenten Wolodymyr Selenskyj im Mariinsky-Palast, 20. Februar 2023. Bild: Weißen Hauses / Public Domain

Das Schicksal Kiews war schon immer ein zweitrangiges Thema. Das eigentliche Ziel ist die Wiederbelebung der Nato und US-Vormachtstellung. Was die EuropÀer jetzt tun sollten.

Inmitten des WortmĂŒlls, der die Meinungsseite der New York Times an den meisten Tagen ĂŒberschwemmt, leuchtet gelegentlich ein Schimmer aufklĂ€rerischer RationalitĂ€t durch. Eine kĂŒrzlich erschienene Gastkolumne [1] von Grey Anderson und Thomas Meaney ist ein gutes Beispiel dafĂŒr.

Andrew Bacevich ist PrÀsident des Quincy Institute for Responsible Statecraft.

"Die Nato ist nicht das, was sie zu sein vorgibt", lautet die Überschrift. Im Gegensatz zu den Behauptungen ihrer Architekten und Verteidiger, wie Anderson und Meaney ĂŒberzeugend argumentieren, bestand der Hauptzweck des BĂŒndnisses seit seiner GrĂŒndung nicht in der Abschreckung von Aggressionen aus dem Osten und schon gar nicht in der Förderung der Demokratie, sondern darin, "Westeuropa an ein weitaus umfassenderes Projekt einer von den Vereinigten Staaten gefĂŒhrten Weltordnung zu binden".

Im Gegenzug fĂŒr die Sicherheitsgarantien im Kalten Krieges boten die europĂ€ischen VerbĂŒndeten den USA UnterwĂŒrfigkeit und ZugestĂ€ndnisse in Fragen wie der Handels- und WĂ€hrungspolitik an. "Bei dieser Aufgabe", so schreiben die Times-Autoren, "hat sich die Nato als bemerkenswert erfolgreich erwiesen".

Europa, ein von den Mitgliedern der amerikanischen Elite besonders geschĂ€tztes GrundstĂŒck, wurde so zum KernstĂŒck des US-amerikanischen Imperiums der Nachkriegszeit.

Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden diese Vereinbarungen infrage gestellt. In dem verzweifelten Bestreben, die LebensfĂ€higkeit der Nato zu erhalten, behaupteten ihre BefĂŒrworter, das BĂŒndnis mĂŒsse "das Einsatzgebiet entweder erweitern oder sein GeschĂ€ft schließen".

Die Nato nahm eine aktionistische Haltung ein, was zu rĂŒcksichtslosen Interventionen in Libyen und Afghanistan fĂŒhrte, um Staaten neu zu formen. Die Ergebnisse waren nicht gut.

Dem Druck der USA nachzugeben und außerhalb der Nato zu operieren, erwies sich als kostspielig und diente vor allem dazu, die GlaubwĂŒrdigkeit der Nato als militĂ€risches Unternehmen und seine FĂ€higkeit zu untergraben.

Dann kam Wladimir Putin, um das sinkende Schiff vor dem Untergang zu bewahren. So wie der Einmarsch Russlands in die Ukraine den USA einen Vorwand lieferte, um ihr eigenes militĂ€risches Versagen nach dem 11. September 2001 vergessen zu machen, so ermöglichte er es der Nato, sich erneut als wichtigstes Instrument zur Verteidigung des Westens zu etablieren – und zwar, was entscheidend ist, ohne dass US-Amerikaner oder EuropĂ€er dafĂŒr ein blutiges Opfer bringen mussten.

In diesem Zusammenhang spielt das Schicksal der Ukraine selbst nur eine untergeordnete Rolle. In Wirklichkeit geht es um die Wiederbelebung der beschÀdigten amerikanischen Vormachtstellung in der Welt.

Das nationale Sicherheitsestablishment der USA vertritt fast einhellig die These, dass die Vereinigten Staaten die einzige Supermacht der Welt bleiben mĂŒssen, selbst wenn dafĂŒr die vielen Belege fĂŒr das Entstehen einer multipolaren Ordnung ignoriert werden mĂŒssen. In dieser Hinsicht war Putins RĂŒcksichtslosigkeit ein Geschenk, das genau zum richtigen Zeitpunkt kam.

Es ist buchstĂ€blich ein genialer Mechanismus am Werk. Russland zu besiegen, ohne tatsĂ€chlich kĂ€mpfen zu mĂŒssen, wird zum Mittel, um das Image der US-amerikanischen Unverzichtbarkeit wiederherzustellen, das in den Jahrzehnten nach dem Fall der Berliner Mauer verspielt wurde.

Nato vollstÀndig in die HÀnde der EuropÀer legen

FĂŒr Washington, wie Anderson und Meaney betonen, geht der Einsatz in der Ukraine weit ĂŒber die Frage hinaus, wessen Flagge ĂŒber der Krim weht. Wenn die Ukraine ihren Krieg mit Russland "gewinnt" – wie auch immer der Begriff "gewinnen" definiert wird und wie hoch der Preis sein mag, den die Ukrainer dafĂŒr zahlen mĂŒssen –, wird die Nato selbst (und die Nato-Lobby in Washington) Anerkennung einfordern.

Seien Sie versichert, dass die großen europĂ€ischen Staaten dann ihre Versprechen, die MilitĂ€rausgaben zu erhöhen, stillschweigend brechen werden, sodass die tatsĂ€chliche Verantwortung fĂŒr die europĂ€ische Sicherheit wieder bei den Vereinigten Staaten liegen wird. Da der hundertste Jahrestag des Zweiten Weltkriegs nun in greifbarer NĂ€he liegt, werden die US-Truppen dauerhaft in Europa stationiert bleiben. Das wird fĂŒr den gesamten militĂ€risch-industriellen Komplex der USA ein Grund zum Feiern sein, denn er wird florieren.

Indem sie ihre Muskeln spielen lassen, werden die Vereinigten Staaten eine stark erweiterte Nato unweigerlich dazu veranlassen, ihre Aufmerksamkeit auf die Durchsetzung der "regelbasierten internationalen Ordnung" im asiatisch-pazifischen Raum zu richten, wobei China der auserwÀhlte Gegner sein wird.

Die Ukraine wird dabei als eine Art Musterbeispiel dafĂŒr dienen, wie die USA und ihre VerbĂŒndeten viele tausend Kilometer von Europa entfernt ihr Gewicht in die Waagschale werfen.

Der globale militĂ€rische Fußabdruck der USA wird sich vergrĂ¶ĂŸern. Die BemĂŒhungen der USA, die Probleme im eigenen Land anzugehen, werden scheitern. DrĂ€ngende globale Probleme wie die Klimakrise werden als NebensĂ€chlichkeiten behandelt werden. Aber das Imperium, das keinen Namen hat, wird fortbestehen, und das ist letztlich der Sinn der Unternehmung.

PrĂ€sident Biden sagt gerne, dass die Welt an einem "Wendepunkt" angelangt ist, was bedeutet, dass wir die Richtung Ă€ndern mĂŒssen. Doch das ĂŒbergreifende Thema seines außenpolitischen Ansatzes ist der Stillstand. Er hĂ€lt an der geopolitischen Logik fest, die zur GrĂŒndung der Nato im Jahr 1949 fĂŒhrte.

Damals, als Europa schwach war und Stalin die Sowjetunion beherrschte, mag diese Logik durchaus ihre Berechtigung gehabt haben. Heute jedoch zeugt die Bedeutung, die der Nato beigemessen wird, in erster Linie vom Bankrott des amerikanischen strategischen Denkens und von der UnfĂ€higkeit, den tatsĂ€chlich bestehenden nationalen Interessen der Vereinigten Staaten – sowohl im Ausland als auch im Inland – Vorrang einzurĂ€umen.

Eine vernĂŒnftige Revision der nationalen Sicherheitsstrategie der USA wĂŒrde mit der AnkĂŒndigung eines Zeitplans fĂŒr den RĂŒckzug aus der Nato beginnen und sie in eine Organisation umwandeln, die vollstĂ€ndig von Europa kontrolliert wird. Dass es nahezu unmöglich ist, sich ein solches Vorgehen der USA auch nur vorzustellen, zeugt von dem Mangel an Vorstellungskraft, der in Washington herrscht.

Das Interview erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier [2]. Übersetzung: David Goeßmann [3].

Andrew Bacevich ist PrĂ€sident des Quincy Institute for Responsible Statecraft und schreibt regelmĂ€ĂŸig fĂŒr TomDispatch. Sein neues Buch, das er gemeinsam mit Danny Sjursen herausgegeben hat, heißt "Paths of Dissent: Soldiers Speak Out Against America's Misguided Wars". Sein neues Buch heißt "On Shedding an Obsolete Past: Bidding Farewell to the American Century [4]".


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-9218681

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.nytimes.com/2023/07/11/opinion/nato-summit-vilnius-europe.html
[2] https://responsiblestatecraft.org/2023/07/17/ukraine-and-the-great-revival-of-american-empire/
[3] https://www.telepolis.de/autoren/David-Goessmann-7143590.html
[4] https://www.amazon.com/Shedding-Obsolete-Past-Farewell-American/dp/1642598348