Die Umrüstung der Industriegesellschaft
Freizeit- und Einkaufsparks statt Fabriken
Die Industriegesellschaft wird umgebaut. Man nennt es Strukturwandel, wenn Wirtschaftsregionen auf den Grundfesten der alten Produktion neue Produktionszweige errichten, die jene ersetzen und so neue Arbeitsplätze und Erwerbsquellen erschließen. In Deutschland sind die Überreste des Industriezeitalters beispielsweise die einst riesigen und mächtigen Stahlindustrien und Kohlebergwerke, aber natürlich auch andere Industrieanlagen wie der schnelle Brüter in Kalkar oder Areale wie die der Bahn.
In Oberhausen wurde auf einer Industriebrache CentrO, auch "Neue Mitte Oberhausen" genannt, vor kurzem eröffnet, angeblich der größte Einkaufs- und Erlebnispark in Europa mit 70000 Quadratmeter Verkaufsfläche, Kaufhäusern, 200 Geschäften, vielen Restaurants, neun Kinos und einer Mehrzweckhalle. Eben hat beispielsweise Gelsenkirchen im Ruhrgebiet, einst prägend für den Gelsenkirchener Barock, im nutzlos gewordenen und brachliegenden Zentrum des ehemaligen wirtschaftlichen Reichtums die Bundesgartenschau angesiedelt und erwartet sich danach immerhin 800 Arbeitsplätze aus dem hier angesiedelten Gewerbepark innerhalb eines vergrünten industriemusealen Ambientes.
Ganz will man es offenbar noch nicht glauben, daß die alten Städte und Regionen der Alten Welt nur noch musealen Wert für den postindustriellen Tourismus besitzen, oder daß vielleicht die gesamte Alte Welt bereits zum Museum und Themenpark geworden ist. Die Informationsgesellschaft ist global. Eine Verankerung in Orten von bestimmten Funktionen ist zwar weiterhin notwendig, aber keineswegs mehr abhängig von örtlichen Gegebenheiten. Deren Nischen wurden erst in den letzten Jahrzehnten durch eine globale Kultur, vor allem einen globalen Markt von Waren zerstört. Erst wenn die Infrastruktur der Infobahnen weiter ausgebaut sein wird, realisieren sich die Prophezeiungen von der Dezentralisierung vollends, die von vielen heute noch als überzogen zurückgewiesen werden. Alles jedoch, was neu gebaut und produziert wird, ist schon auf den Weltmarkt ausgerichtet. Lokales wird zum Überbleibsel, zu einer zurückbleibenden Schicht, die mit erheblichen Investitionen geschützt oder restauriert werden muß.
Effektiver freilich ist die Inszenierung des Alten und Anderen als Spezialeffekt, als reale, von allen ablenkenden und langweiligen Störungen bereinigte Simulation in einem umgrenzten Raum, dessen Betreten den ereignissüchtigen Mitgliedern der Informationsgesellschaft etwas kostet. Immersion ist die Grundlage der Simulationen im virtuellen und im realen Raum, und jede immersive Umgebung muß sich wie eine Illusion von der Umwelt abgrenzen. Künstliches verlangt, wie schon Goethe sagte, einen umschlossenen Raum. In diesem Prinzip wird die Neue Welt besonders deutlich - als eine Welt, die nur noch aus von Grenzen umgebenen Enklaven, aus Inseln in einem durch Kommunikations- und Transportwege verbundenen Archipelag besteht, die stets das bieten, was nicht mehr oder noch nicht vorhanden ist. Dazwischen versinken "strukturschwache" Städte, Regionen und ganze Ländern in schwarzen Löchern. So schlägt man aus Verlust, Zerstörung und Verschwinden oder aus der Zukunft Kapital.
Disneyland war sicher eines der großen Vorbilder für die Fahrten in andere Ländern, in die Zukunft oder in die Illusion, eine seltsame Vermischung von Phantasie, Simulation und Realem. Emsig wird inzwischen überall, wo sich die Informationsgesellschaft angesiedelt hat, an Themenparks, Malls - z.B. West Edmonton Mall - oder Freizeitanlagen gebaut, in denen die kommerzielle Inszenierung des Ereignisses aus dem alten Rahmen der einstigen Illusionsbilder herausdrängt und den Menschen mit seinem Körper in eine andere Umwelt stellt. Virtuelle Realität ist nicht nur die auf Computer simulierte, sondern gleichermaßen Neuschwanstein in Japan, die Tropen in Deutschland, der Dschungel in Holland, der Safaripark in Dänemark. Ist Disneyland das Vorbild als gebauter Raum, so sind gleichwohl Film, Fernsehen und Computernetze richtungsweisend: Eine Montage der Attraktionen, ein Ort, in der alles nur einen Klick weit entfernt und daher gleich zu haben ist, ein Gesamtkunstwerk, in dem sich die Welt, wie man sie begehrt, verdichtet hat.
Die globale Informationsgesellschaft setzt in erheblichem Ausmaß Erfahrung und Arbeit frei. Erfahrung bleibt unbefriedigt, wenn sie nur in Simulationen stattfindet oder in Umgebungen, die nichts mehr Fremdes besitzen, in Nicht-Orten, deren Eigenschaft es ist, überall und nirgends sein zu können, so exotisch sie auch sein mögen. Und die Ersetzung der Arbeit durch Maschinen und Programme muß durch Spiel und Spektakel kompensiert werden. Entertainment wäre gewiß die Zukunft der meisten Menschen, wenn sie es sich denn leisten können, wenn also eine gesellschaftliche Umverteilung des Wohlstands zu realisieren wäre. Demgemäß müßte die Welt zu einem Ort des Ereignisses umstrukturiert werden, wobei Themen- und Freizeitparks deren Vorschein wären.
Das scheint in den Köpfen von vielen festzusitzen. Nach der Arbeit kommt das Spiel und nach dem Industrieviertel der Themenpark. Bremerhaven, eine im Schwarzen Loch der Informationsgesellschaft gefangene, einstmalige Hafen- und Werftenstadt mit jetzt über 20 Prozent Arbeitslosen sieht denn ihre Chance einzig darin, ihre funktionslos gewordene Innenstadt - 60 Hektar einer ausgedienten Hafenfläche - in einen riesigen, auf eine Milliarde Mark veranschlagten Themenpark mit Attraktionen umzuwandeln, die es bis jetzt nirgendwo anders gibt - auch wenn bereits das benachbarte Wilhelmshaven ein ähnliches Projekt baut. Arbeitsplätze sollen daraus entstehen, ein neues Image wird erwartet - nicht mehr Industrie-, sondern Freizeitstadt -, Millionen von Besuchern sollen kommen und in ihrem Schweif weitere Investitionen "Ocean-Park" soll der Freizeitpark in der Weltsprache Englisch heißen und bis zur EXPO in Hannover zur Jahrtausendwende fertig sein. Geplant sind große Aquarien, die man in gläsernen Tunnels durchlaufen kann, eine "original erschaffene" Regenwald-Landschaft, immersive 3D-Simulationen der Erde aus der Satellitenperspektive oder von Meeren, ein nostalgisches Hafendorf mit Hotels und Vergnügungsmöglichkeiten wie Kinos oder Diskotheken und natürlich eine in einer Kuppel eingeschlossene tropische Badelandschaft mit Palmen, wie man sie schon überall findet. Daß Bremerhaven auf Maritimes setzt, verdankt sich natürlich seiner Lage, aber eigentlich wäre es wie beim "Tropicum" völlig egal, ob sich der Freizeitpark in der Wüste, in Bergen, in der Karibik oder auf dem Mond befindet.
Der Ocean Park ist nicht nur eine Großattraktion, sondern die Bündelung von vielen unterschiedlichen Attraktionen: unterhaltsame, starke Themen-Erlebnisse; Infotainment und Edutainment; Erlebnis-Gastronomie und Erlebnis-Hotellerie; Abendunterhaltung wie Kino, Spiele und Shows; Erholung, entspannung und Urlaub; Wohnen und Arbeiten und vieles mehr.
Bremerhaven über Ocean Park
Geht man allerdings von der Verfallsgeschwindigkeit der Innovationen in der Informationsgesellschaft aus, wird die in die Realität umgesetzte Innovation bereits veraltet sein, wenn sie fertiggestellt ist, wenn man einmal davon absieht, wer denn noch die zahlungsfähigen Kunden des Freizeitangebots sein werden, wenn die Rationalisierung der Arbeit so weitergeht wie bisher und den Verantwortlichen für Strukturwandel nichts anderes einfällt, als Freizeitpark neben Freizeitpark zu bauen. Natürlich, die Investitionen in die künstlichen Welten ziehen Geld, Kreativität und Aufmerksamkeit von der realen Welt ab, die allmählich immer mehr verfallen könnte und so die Attraktivität nicht nur von künstlichen Freizeitwelten, sondern auch von neuen abgeschlossenen Siedlungen fördert, die wie die Disney-Stadt Alltag und Freizeitpark zu einem neuen Amalgam verbindet. Auch in Japan soll sich aus der künstlich nachgebauten holländischen Stadt Huis Ten Bosch bei Nagasaki, die jetzt noch ein Freizeitpark ist, eine echte Stadt entwickeln, in der dann über 100000 Japaner in einem einheitlichen europäischen Ambiente der Vergangenheit mit Grachten und Windmühlen leben sollen. Angeblich sei schon über die Hälfte des Geländes an künftige einwohner verkauft.
Attraktiv aber werden solche künstlichen Freizeit- und Lebenswelten nur sein, solange sie eine Ausnahme darstellen. Doch Wegwerfen wie einen PC, der von einem leistungsstärkeren überholt wird, oder einmal schnell dem neuesten Stand der Technik anpassen, lassen sich wohl solche riesigen, in Hardware betonierten Inseln nicht so einfach. So steht zu vermuten, daß die jetzt zu Freizeitparks umgewandelten Industriebrachen schon demnächst die Brachen der kaum begonnenen Informationsgesellschaft sein werden. Fragt sich bloß, was sich mit den ganzen Bürogebäuden anstellen läßt.