Die Verfassung des Staates

Der Grundrechte-Report 2002 zieht eine ernüchternde Bilanz der Bürgerrechte in Deutschland

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Dass sich seit dem 11.September 2001 in Deutschland innenpolitisch einiges geändert hat, ist nicht zu übersehen. Kaum eine Äußerung eines Politikers oder einer Politikerin, die ohne Verweis auf einen "Kampf gegen den Terror" auskommt, gerade so, als sei die Bundesrepublik das primäre Ziel von Terroristen . Die Ergebnisse dieser Politik analysieren die AutorInnen des Grundrechte-Reports 2002, der eben in Hamburg der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Ein roter Aufkleber auf dem Umschlag des Buches zeigt die Richtung an, in die es geht: Schwerpunkt Antiterrorgesetze. Doch darin erschöpft sich nicht der Inhalt des als "alternativer Verfassungsschutzbericht" bezeichneten Grundrechte-Reports. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und seine fortgesetzte Belastung durch die staatlichen Organe ist sein Thema. Insofern entspricht die Ausrichtung eigentlich eher dem, was man sich unter Verfassungsschutz vorstellen könnte, verglichen mit der eher staatsschützenden Tätigkeit des tatsächlichen Verfassungsschutzes und seiner Berichte.

In kurzen Artikeln geben die AutorInnen einen Einblick in fragwürdige Entwicklungen, die Geist und teilweise auch Wort des Grundgesetzes zuwider laufen. Thematisch sind die einzelnen Beiträge grob nach den Artikeln der Verfassung gegliedert, von dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, den Gleichheitsgrundsatz, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Videoüberwachung bis zum Recht auf freie Meinungsäußerung reichen.

Im Bericht finden sich auch Themen, die in diesem Zusammenhang sonst bestenfalls am Rande Erwähnung finden, wie Sozialpolitik, Tarifautonomie oder die Rechte alter, pflegebedürftiger Menschen, die im Pflegebereich oft brutalst missachtet werden. Auch das deutsche Bildungsproblem (s. PISA) wird als grundrechtliche Frage interpretiert, denn schließlich gibt es ein Grundrecht auf Bildung. In diesem Zusammenhang erscheinen dann auch Beiträge zur Gestaltung von Lehrbüchern, "Kopftuch-Debatten" oder zum Umgang mit kritischen LehrerInnen nach dem 11. September in einem anderen Licht.

Unter dem Terrorismusbekämpfungsgesetz haben nun vor allem Ausländer zu leiden, was in vielen Artikeln zurecht als ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz interpretiert wird, der ja nicht nur für Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft gilt. Überhaupt ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ein ständig wiederkehrendes Thema, ob es nun um Videoüberwachung, Rasterfahndung oder Datenbanken mit DNA-Identifizierungsmustern geht. Wenn Burkhard Hirsch die "Limo" beschreibt, die Datei "Linksmotivierter Gewalttäter", dann geht das ins Groteske: kaum ein Abgeordneter weiß etwas über diese Datei, sie ist kaum gesetzlichen Regelungen unterworfen und kann von der Grenzpolizei für beliebige Ausreiseverbote herangezogen werden, wie viele Fälle im Umfeld des EU-Gipfels in Genua zeigen.

Der Grundrechte-Report erscheint nun schon zum sechsten Mal, mit einer gewachsenen Zahl an Herausgebern: die Humanistische Union, die Gustav Heinemann-Initiative, das Komitee für Grundrechte und Demokratie, der Bundesarbeitskreis kritischer Juragruppen, Pro Asyl, der Republikanischer Anwaltsverein und die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen. Dem entsprechende ist die Bandbreite der AutorInnen groß: von CCC-Sprecher Andy Müller-Maguhn, über den Rechtsprofessor Wolf-Dieter Narr bis zu Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Ex-Bundestags-Vizepräsident Burkhard Hirsch ist zusätzlich mit einem längeren, lesenswerten Beitrag vertreten, in dem er die Einführung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes kommentiert.

Die AutorInnen bewegen sich auf dem soliden Boden des Rechtsstaates und sind sicher nicht als Staatsfeinde verdächtig. In seinen Analysen ist der Grundrechte-Report außerdem um einiges differenzierter, was sich beispielsweise in der Diskussion um das Demonstrationsrecht für NPD und Gegendemonstranten zeigt. Auch wenn Autoren wie Martin Kutscha ihre Abneigung gegen Neonazis deutlich machen, betonen sie, dass auch deren Recht auf Meinungsäußerung, die berühmte "Freiheit der Andersdenkenden", nicht von vornherein durch den Inhalt ihrer Meinung zunichte gemacht wird. Mit solchen Beiträgen bewegt sich der Grundrechte-Report auf einer Ebene, der nicht nur vom Verfassungsschutzbericht, sondern auch von der herrschenden Politik nur selten erreicht wird.

Grundrechte-Report 2002. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Rowohlt Taschenbuch Verlag. (Reihe aktuell, Nr. 23058), ISBN 3-499-23058-5, 272 S. 9.90 Euro