Die Vermessung der Geschlechterwelt
Seite 2: Normal, anormal, egal
Biographen haben die Volten im Leben Kinseys so ausgelegt, dass er mit seinem Report gegen die puritanische Gesellschaft mit ihrer zwanghaften Doppelmoral rebelliert. Sein Vater verkörperte diese Moral. Der Puritanismus schlug zurück, nachdem Kinsey 1953 die noch anstößigere Untersuchung über Frauen veröffentlicht hatte. Der Vorwurf "unamerikanischer Umtriebe" stand im Raum. Wer so über Perversionen schreibt, kann nur selbst einer sein. Die seriösen Biographen stießen hingegen auf einen biederen Familienvater. Welche sexuellen Veranlagungen auch immer er gehabt haben mag, sie unterschieden sich hochgerechnet nicht von denen aller anderen.
Das ist bereits die Kernthese des Wälzers: Eine Unterscheidung zwischen normalem und abnormem Sexualverhalten ist obsolet. Die Beweisführung ist empirisch und bezogen auf soziologische Parameter wie Sozialstatus, Religion, Altersgruppe. Kinsey listet sechs Hauptquellen für den Orgasmus des Mannes auf: "Onanie, nächtliche Samenergüsse (Pollutionen), heterosexuelles Liebesspiel (Petting), heterosexueller Geschlechtsverkehr, homosexuelle Beziehungen und Sexualkontakte mit Tieren. Die Summe der Orgasmen, die aus diesen verschiedenen Quellen stammen, stellen die Gesamt-Triebbefriedigung des Individuums dar. Das ist der "Total Sexual Outlet".2
Kaum erstaunlich ist der Anteil der Onanie. Mehr als 90 % der Männer hatten Erfahrung mit ihr. Sie greift über die anderen Rubriken über, wie überhaupt viele der Praktiken mit anderen parallel, jedoch im Einzelfall zeitlich versetzt laufen können. Wenn zum Zeitpunkt der jeweiligen Befragung knapp 40% der Männer und 28% der Frauen gleichgeschlechtliche Erfahrungen hatten, so war das Team in diesem Fall überrascht von der hohen Zahl an "Doppelnennungen" sowohl homosexueller als auch heterosexueller Erfahrungen. Doch eines schließt das andere nicht aus.
Bisexualität war und ist weiter verbreitet, als es die Öffentlichkeit wahrhaben möchte. Kinsey entwarf eine Skala, welche die verschiedenen Mischungsverhältnisse aus homosexuellen und heterosexuellen Betätigungen schematisch darstellt. Sein Fazit: Die Dinge sind nicht nur schwarz oder weiß. Die Natur operiert nur selten mit scharfen Trennungen. Sogenannte sexuelle Perversionen sind eine biologische Normalität.
Nimmt man noch Praktiken wie "Zoophilie" oder weitere Verzweigungen wie Sadomasochismus hinzu, bleibt es bei Überschneidungen mit anderen Quellen der Triebbefriedigung bis zum Orgasmus. Das alles würde nicht weiter auffallen, wenn es in der puritanischen Gesellschaft nicht als Abweichung vom Pfad der Tugend gewertet würde. Es wird erst zum Delikt durch die Strafbewehrung. In den USA - und in Deutschland nicht minder - war außerehelicher und homosexueller Geschlechtsverkehr verboten. Sogar oral-genitaler Sex zwischen Ehepartnern war in den meisten Bundesstaaten unter Strafe gestellt.
Kinsey folgert in Anbetracht seiner Befunde, dass 95% der männlichen und 85% der weiblichen Population der Sittlichkeitsverbrechen geziehen werden könnten. Er hält dagegen: Abweichungen gehören zur Normalität. Wer das leugnet oder brandmarkt, für den - und nur für den - wird Anomie zur Hauptsache. Kinsey kommt nicht umhin, auf eine sexuelle Abnormität hinzuweisen, die sich seinen aufklärerischen Erkenntnissen zum Trotz erhält: den Zölibat. Der Vorwurf der Perversion und des Missbrauchs, mit dem die Kirche jahrhundertelang, etwa bei Hexenverfolgungen, hantiert hatte, fiel spätestens seit Kinsey auf die Kirche zurück.
Das Verdienst Kinseys, durch Fakten eine Sexual, Sozial- und Strafrechtsreform eingeleitet zu haben, ist aus Sicht des Fake-Zeitalters kaum noch nachvollziehbar. Aber in zwei Punkten hat er sich angreifbar gemacht: Erstens: sexueller Umgang mit Minderjährigen. Der Report wurde von sich philanthropisch gerierenden Organisationen wie der "Man-Boy Love Association" dankbar aufgegriffen. Die Grenzen zur Ausnutzung und Ausbeutung Abhängiger und zur Ausübung von physischer und psychischer Gewalt wurden verwischt. Der Verheimlichung des Missbrauchs Schutzbefohlener wurde nun ein pseudo-aufgeklärtes "Anything goes" entgegengesetzt. Beide Positionen gleichen sich in ihrer Schadenswirkung.
Die Debatte über Pädophilie/Päderastie kocht immer wieder hoch. Aber im Sinne Kinseys könnte der Disput entkrampft werden. Statt absolutistisch und mit Verdrängungsabsicht davon auszugehen, dass so etwas gar nicht sein darf, statt Gesetze gleichsam mit Präventivcharakter aufzustellen, sollte die Gesellschaft die Phänomene als seiend anerkennen und dann fragen, wie damit umzugehen sei. Die rechtliche Würdigung wäre demnach nur ein Aspekt.
Zweitens: Der Total Sexual Outlet konzentriert sich zur besseren Messbarkeit auf die Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, auf quantitative und naturwissenschaftliche Aspekte. Soziale und psychologische Aspekte werden hintangestellt oder nur nebenbei, als literarische Ergänzung dargestellt. Die Nahtstelle zum Sozialleben wird dann zur Bruchstelle. Dort entsteht Stress. Der lässt sich jedoch nicht durch auf den Körper bezogene Sexualtherapien überwinden.
Der wissenschaftliche Ansatz, den Kinsey und seine Nachfolger in Anschlag bringen, ist das Reiz/Reaktionsschema. Kurz gesagt, reagieren die Menschen nach Mechanismen, die letztlich aus dem Tierreich stammen. Auch ihre Kommunikationsformen und Geschlechtsbeziehungen sind darauf zurückzuführen. Indem sich Kinsey jedoch auf den Boden dieser Wissenschaft des Behaviorismus stellt, verengt er seinen Forschungshorizont.