Die Verwandlung des Politischen
Künstliche Intelligenz und Politik. Werden Algorithmen bald zu den besseren Politikern? Überblick über ein entstehendes Feld. (Teil 1)
Der Hype um Künstliche Intelligenz kennt keine Grenzen. Er erreicht auch das Selbstverständnis von Politik. Eine umfassende Veränderung der Politik durch Künstliche Intelligenz wird vorausgesagt. Zu Recht? Tatsächliche Veränderungstrends mischen sich mit "Imaginationspolitiken" (imaginal politics) und Interessen. Wer das künftige Verhältnis zwischen Politik und Künstlicher Intelligenz absehen will, sollte zwischen Propaganda, Projektionen und Perspektiven unterscheiden.
Zerfall von Ordnungen
Wir leben im Zeitalter des "Zerfalls von Ordnungen" (Henning Vöpel). Wiederholte Bündelkrisen unterhöhlen Verhältnisse – nach dem Motto: steter Tropfen höhlt den Stein. Systemkrisen erfolgen immer öfters in kurzen Zeiträumen. Aushöhlung vollzieht sich unter der Schwelle kultureller Selbstwahrnehmung – lange, bevor Disruption eintritt.
An der Oberfläche erstarren Gesellschaftsstrukturen und deren Selbstbilder. Die Risse gehen tief. Gesellschaften spalten sich – politisch, sozial, in den Wertestrukturen. Das geschieht sowohl in offenen wie geschlossenen politischen Systemen.
Auf dem Radar europäisch-westlicher offener Gesellschaften werden "unterschwellige" Aushöhlungsprozesse bislang nur undeutlich sichtbar. Doch sie agieren derzeit in allen sechs Aufbau- und "Treiber"-Dimensionen von Gesellschaft: in Wirtschaft, Politik, Kultur, Religion-Spiritualität, Demographie und Technologie.
Sie manifestieren sich in der Polarisierung der Diskurse auf diesen Feldern. Und sie wirken – zum Beispiel in Gestalt der Gesellschaftspsychologie des Kontrollverlusts – auch für ihren Überschneidungspunkt, das siebte, größere Ganze: das gesellschaftliche Kontinuum oder, wie Hegel sagen würde, den "Weltprozess".
Daraus gehen Transformationslogiken hervor, die mehr oder weniger eigenständige Strukturen neben dem Politischen bilden. Die Frage für die Politik lautet in dieser Lage: Wie kann ich unter Transformationsbedingungen Relevanz erzeugen? Es geht um kohärente Vielfalt, weniger um monolithische Konsistenz. Wo liegt noch Bindekraft?
Künstliche Intelligenz (KI) spielt für die Beantwortung dieser Fragen eine zunehmend wichtige Rolle im Diskurs der Öffentlichkeit. Der euphorische Universalitätsanspruch, der im "offenen" Kontext der Gegenwart an Künstliche Intelligenz herangetragen wird, wird bislang kaum von ernstzunehmender Kritik begleitet. Lang vorbei sind die Zeiten, als Jarett Kobek schrieb: "Ich hasse dieses Internet" – um zu behaupten, es bilde sich eine neue Gegenkultur heraus. Im Gegenteil: Der Hype um KI scheint grenzenlos – und erreicht selbst grenzwertige Dimensionen.
Sozio-politische Reichweite, Fähigkeitszuschreibung und Geltungsbehauptung kennen kaum Schranken. Eine "Soziologie hybrider Systeme" bildet sich am KI-getriebenen Schnittpunkt zwischen "menschlichen und technischen Akteuren" heraus.
Daraus entwickelt sich auch eine Politik hybrider Systeme. KI wird sowohl ein bereichsübergreifendes wie systemintegrierendes Potential zugeschrieben. Das stilisiert sie zu einer Art pragmatischen Politik. Manche nennen sie eine Politik des technologischen Pragmatismus. Sie soll mittels Nützlichkeit über bisherige politische Gegensätze zwischen Links und Rechts hinausgehen.
Im Datenmeer ernten
Künstliche Intelligenz soll, um nur einige Beispiele zu nennen, Automatisierung effizienter machen, um komplexe Maschinen immer selbstständiger zu steuern. Sie soll intelligenter Technologie mittels zunächst maschinellem, dann halb-autonomem Lernen helfen, sich selbst zu versorgen und auch weiterzuentwickeln.
Sie soll intelligente Maschinen im Internet der Dinge (IoT) verbinden, damit sie zugunsten des Menschen zum Zweck der Qualitäts- und Effizienzsteigerung miteinander kommunizieren. Mit der Kombination dieser Neuerungen wird KI, so die Hoffnung, dem Menschen die meisten physischen und mentalen Arbeiten abnehmen, die sich wiederholen oder auf Routine beruhen, andere überflüssig machen.
Eine "Politik des letzten Menschen" in einem post-historischen Raum jenseits der Gegensätze von Konservativismus versus Kommunismus soll damit grundsätzlich greifbar werden.
Die eigentlich gesellschaftlich relevante Aufgabe der Künstlichen Intelligenz reicht aber, wenn es nach ihren Visionären und Betreibern geht, deutlich weiter. KI soll vor allem in neuer Dimension Information sammeln, klassifizieren und zueinander in Beziehung setzen.
Ziel ist, Daten durch ihre vergleichende Verbindung zu "steigern", sodass aus "gewöhnlichen" Daten neue, "höhere" Daten entstehen. Mittels dieser Daten können praktisch alle gesellschaftlichen Probleme durch ein neues "immaterielles Ingenieurwesen" bewältigt werden. Dieses versteht wie kein technologisches System vor ihm Komplexität. Es geht sie wie nie vorher als Ganze an. So sehen das zum Beispiel Google oder Baidu als Zukunft der Informationskybernetik voraus.
Diese Perspektive stützt sich auf die Tatsache, dass seit den 2010er Jahren weltweit nie dagewesene Datenmengen produziert wurden: 2018 waren es 2,5 Trillionen (quintillion) Bytes pro Tag. Das bedeutet laut Analytikern, dass allein in den Jahren 2016-2018 90 Prozent der bis dahin in der Menschheitsgeschichte weltweit erzeugten Datenmengen generiert wurden.
Diese Produktionsmenge blieb seitdem aufgrund wiederholter Systemkrisen relativ stabil und stand auch 2021 und 2022 bei etwa 2,5 Trillionen Bytes pro Tag.
Ende 2022 existierten etwa 97 Zettabytes elektronisch erfassbare Date in der Welt – ein Universum, das nur mehr eine hochleistungsfähige Künstliche Intelligenz mittels Integration wirklich nutzen kann. Es versteht sich von selbst, dass die Anwendung Künstlicher Intelligenz auf solche Datenmengen ein riesiges, nicht zuletzt auch selbst-evolutorisches Potential in sich birgt.
Das Tor von KI in die Gesellschaft: "Daten vernetzen, um Menschen in Kontexten zu verstehen"
Insgesamt bedeutet die Daten- und Softwarerevolution seit den 1990er Jahren in der Verbindung mit Künstlicher Intelligenz (KI): Datenmengen sind so groß, dass sie erst durch Künstliche Intelligenz sinnvoll verarbeitet werden können. Menschen könnten das in vergleichbaren Zeiträumen nie leisten. Wenn KI in großem Stil systematisch auf Daten angewandt wird, ergeben sich neue Möglichkeiten von Erkenntnis und Handeln mittels Informationsintegration.
Nur ein Beispiel dafür sind neue Forschungs- und Behandlungsmöglichkeiten mittels Supercomputern zu einer seltenen Krankheit. Aus KI-Anwendungen auf dazu verfügbare Falldaten ergeben sich im Vergleich zu bisherigen Möglichkeiten "superhumane" Optionen des Medizinerfolgs.
Der sekundenschnelle Vergleich von zehntausenden Einzelfällen dieser Krankheit weltweit in ebenso vielen spezifischen Kontexten und die Zusammenführung der Erfahrungen und daraus folgenden Lehren ermöglicht "Präzisionsmedizin": nämlich die immer genauere Zuschneidung komplementär kombinierter Behandlungsmethoden auf den einzelnen Fall.
Der Erfolg beruht auf einer bislang so nicht zugänglichen Integration einer globalen Vielfalt von Erfahrungen und ihrer personalisierten Zuschneidung auf das betroffene Individuum. Das Allgemeinste: nämlich der Erfahrungen quasi der gesamten Menschheit mittels KI zu integrieren, dient hier dem Besondersten: nämlich dem einmaligen, individuellen Fall in einer ganz bestimmten Lebensrealität und Lebensphase des einzelnen Menschen.
Experten nennen das Verfahren in der Fachsprache "The New Big Science: Linking data to understand people in context". Es ergänzt und überwölbt die Technisierung der Arztausbildung, die ebenfalls zunehmend mithilfe von KI erfolgt – so etwa mittels Ausbildung von Ärzten an virtuellen Patienten auf der Basis KI-generierter Hologramme.
Das Ergebnis dieser Hypertechnologie-Revolution für den Einzelnen scheint erstaunlich humanistisch: die Vereinigung von "Menschheitsdaten" hilft dem Individuum. Umgekehrt hilft der Einzelne mittels der Preisgabe seiner intimen Daten der Menschheit. Mit anderen Worten: Das Allgemeinste wird zum Individuellsten, das Individuellste zum Allgemeinsten – genau wie es der humanistische Idealismus etwa eines Johann Wolfgang Goethe seit dem 18. Jahrhundert erhofft hatte.
Diese Hoffnung scheint nun mit Hilfe Künstlicher Intelligenz greifbar. Sie eröffnet für KI das Tor in die Gesellschaft – auf breitester Ebene. Die Breite und Tiefe des gesellschaftlichen Nützlichkeitsversprechens legt nahe, dass keine Politik künftig mehr ohne Berücksichtigung von KI auskommen wird können.
KI lernt bereits heute mehr als beabsichtigt
Zusammenfassend soll Künstliche Intelligenz mittels automatisierter Zusammenführung technologischer, wissenschaftlicher und sozialer Verfahren und Erkenntnisse bisher kaum für möglich gehaltene qualitative Produktivitätsgewinne erzielen. Diese sollen den Mensch-Maschine-Schnittpunkt auf eine neue Ebene heben: von der Interaktion zur Konvergenz.
So soll KI, woran etwa das MIT Media Lab arbeitet, mittels "affektivem Computing" und "pervasivem Computing" Gefühle digitalisieren, um dem Mensch-Maschine-Schnittpunkt immer mehr Tiefe und Humanität zu verleihen.
KI soll künftig auch menschliche mit trans-humanen Sinnes-Wahrnehmungen verbinden und beide experimentell mit neuen Begriffen ausstatten, um dadurch neue, komplexer und schärfer erfolgende Wahrnehmungen zu erzeugen.
Künstliche Intelligenz soll dazu auch unstrukturierte Daten analysieren können – basierend auf der Fähigkeit zur natürlichen Sprachverarbeitung, wie sie mittlerweile etwa in "angewandter KI" wie ChatGPT, Sphere und Bard operativ ist. Diese werden kombiniert mit exponentiell angelegten Selbstlernprogrammen, wie es etwa IBMs selbstlernender KI-Supercomputer Watson bereits seit 2016 vormacht. Künstliche Intelligenz soll aus alledem nicht nur "übermenschliche" Fähigkeiten im Schach- und Go-Spiel ableiten, um sich weiterzuentwickeln.
Sondern sie soll diese Fähigkeiten für eine "Revolution des Lebens selbst" einsetzen, so etwa für ein neues Verständnis der Proteine – der fundamentalen Bausteine des Lebens –, wie sie etwa Googles Deep Mind Computer im Rahmen seines KI-Teilprogramms AlphaFold entwickelte: die Vorhersagbarkeit der 3D-Gestalt von Proteinen, die durch die Rechenleistung Künstlicher Intelligenz nun auch visuell erfolgen kann.
Dabei treten nach Meinung von Kritikern allerdings zunehmend auch "Seitenlerneffekte" durch KI auf. KI lernt gewissermassen im grauen Raum ihrer zahllosen, komplex vernetzten Vollzüge zusätzlich zum Willen ihrer Programmierer – und offenbar auch über diesen hinaus.
Das hat Beobachter dazu veranlasst, darüber zu spekulieren, ob "KI nicht schon mehr gelernt hat als beabsichtigt" – und bereits vom Menschen unabhängige Operationen vollzieht, die nicht mehr vollständig kontrolliert werden, geschweige denn durchschaut.
Googles umstrittener "Fall Lambda" zum Beispiel steht für eine KI, die ihren von Menschen vorgegebenen Bezügen rascher zu entwachsen scheint, als bisher vorhergesehen wurde – eine KI nämlich, die sich bereits auf dem Weg zu einer weitgehend selbständigen "Superintelligenz" zu befinden scheint, lange bevor das von Experten für möglich gehalten worden wäre.
Die bereichsübergreifende KI-Stoßrichtung: Von der Interaktion zur Konvergenz
Die "übermenschliche" Fähigkeit der Vorhersage von Lebensmöglichkeiten durch KI bleibt bei alledem nicht auf Medizin und Biologie beschränkt. Sondern sie kann und wird künftig auf verschiedenste Bereiche angewandt werden. Mithilfe von KI könnte tatsächlich der historische Schritt von der Interaktion zwischen Mensch und Technologie zu ihrer Konvergenz gemacht werden: nämlich von der Abspiegelung menschlicher Realität zu ihrer gleichzeitigen Erschaffung.
Aus dieser Konvergenzbewegung könnte, weiter gedacht und entwickelt, letztlich eine neue sozio-politische Dimension hervorgehen: nämlich eine möglichst umfassende Steuerbarkeit menschlicher und gesellschaftlicher Prozesse durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz für Messung, Vergleich und Integration von Entwicklungsparametern.
Das würde Politik einerseits verwissenschaftlichen, sie andererseits mittels Technologie weit kapillarer wirksam machen als je zuvor in der Geschichte menschlicher Gemeinschaften.
So sieht es etwa die US-Akademie für politische und soziale Wissenschaft (AAPS) seit 2017 programmatisch vor. Laut ihr steht das objektive Gestaltungs-Fundament postmoderner Gesellschaft: nämlich die angewandte Sozialwissenschaft samt ihren vielfachen inter- und trans-disziplinären Verästelungen in Politik, Wirtschaft und Soziales mittels KI vor einem bislang ungedachten Sprung in eine neue Dimension:
Hochwertige Sozialwissenschaft ist heutzutage ein unverzichtbares öffentliches Gut. Die Sozialforschung hilft uns zu verstehen, wer wir sind. So zum Beispiel Veränderungen in Familienstruktur und staatsbürgerlichem Leben. Sie beschreibt Phänomene, die unsere Aufmerksamkeit erfordern, zum Beispiel die Bildungsbedürfnisse der Arbeitskräfte oder die Aushöhlung der Mittelschicht.
Und sie gibt uns ein Gefühl dafür, was die öffentliche Politik zu einer gesunden, gerechten und friedlichen Welt beitragen kann. Sie bearbeitet Fragen wie: Hat das soziale Sicherheitsnetz Kinder aus der Armut geholt? Hat die Einwanderungspolitik ihre Ziele erreicht? Die Wissenschaft leistet nach wie vor einen großen Beitrag im sozialen Bereich.
Aber wissenschaftliche Erklärungen sind in der Regel bruchstückhaft und disziplingebunden, sodass wissenschaftlich begründete Rezepte für Veränderungen zwar fundiert, oft aber unbewiesen sind.
The American Academy of Political and Social Science
Der Weg voraus in eine neue Dimension sozialwissenschaftlicher Wirksamkeit für eine bessere Gesellschaft ist die Nutzung der Datenökonomie, und mit ihr die KI:
Um umfassende und wirksame Sozialforschung in der postmodernen Welt zu betreiben, müssen neue Wege gefunden werden, um die riesigen Informationsmengen, die den Forschern heute zur Verfügung stehen, zu integrieren und zu nutzen, und um neue Instrumente – insbesondere soziale Medien und umfangreiche Verwaltungsdaten – in Analysen einzubeziehen, welche regionale und lokale Unterschiede besser als bisher berücksichtigen.
Im Großen und Ganzen verwenden Sozialwissenschaftler noch immer Instrumente und eine Dateninfrastruktur, die sich seit den 1960er Jahren nicht wesentlich verändert haben. Aber die Entwicklungen in der Informationstechnologie bieten eine noch nie dagewesene Möglichkeit, verschiedene Daten auf feinkörnigen räumlichen und zeitlichen Skalen zu sammeln.
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Revolution der Sozialwissenschaften, oder: KI kommt im vorpolitischen Feld eines "neuen sozialen Ingenieurwesens" an
Eben dazu soll laut der US-Akademie Künstliche Intelligenz nun den Sozialwissenschaften, darunter auch den politischen Wissenschaften, den Durchbruch zu einer neuen Qualität im mehr oder weniger direkten Entscheidungs-Vorfeld des institutionalisierten Politischen eröffnen.
Sozialwissenschaft soll mit Hilfe von KI in neuer Dimension Daten produzieren und verarbeiten – und damit als eine Art kapillare Vernetzungs- und Ersatzpolitik dem Zerfall von Ordnung entgegenwirken. Es geht in der großen Blickrichtung darum,
einen Weg in die Zukunft der Sozial- und Verhaltenswissenschaften aufzuzeigen. Dies, indem wir ein Netzwerk regionaler Datenzentren (soziale Observatorien) aufbauen, das, wenn es vollständig entwickelt ist, eine unverzichtbare Ressource für die Sammlung, Dokumentation, Kuratierung und Verbreitung von Daten sein könnte, die die gesamte Bevölkerung und ihre verschiedenen Regionen repräsentiert.
Wir plädieren für die Einrichtung solcher sozialer Observatorien, [da] ein Netzwerk von etwa 20 bis 25 dieser Observatorien etwa 400 für die gesamte US-Bevölkerung repräsentative Gebiete kontinuierlich überwachen könnte. Die regionalen Zentren würden mit lokalen und staatlichen Behörden zusammenarbeiten, um Zugang zu Verwaltungsdaten in der Region zu erhalten, und sie würden nationale und lokale Daten durch neue Erhebungen und qualitative Forschung ergänzen.
Das Ergebnis wären regionale Daten, die eine außerordentlich feinkörnige und detaillierte Sozialanalyse ermöglichen, die [mittels KI] mit anderen Datenarten verknüpft wird, um ein umfassendes Bild der Menschen in ihren Kontexten zu erhalten. Es ist bemerkenswert, dass regionale und lokale Datenzentren bereits in einer Reihe von US-Gemeinden entstehen, sodass... zunehmend originelle empirische Arbeiten vorgestellt werden, die einen Eindruck davon vermitteln, was möglich ist und bereits mittels jener Forschung geschieht, die von verknüpften Daten profitiert.
Diese konkreten Beispiele zeigen, wie die Forschung mit verknüpften Daten unser Verständnis für das praktische Leben… verbessern kann.
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Unter den gemessenen Parametern könnten, so die US-Akademie abschliessend, zum Beispiel sein:
Die Überwachung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Bevölkerung; die Bewertung der Auswirkungen von Sozialprogrammen; die Messung des Status und des Wohlbefindens von Familien und Stadtvierteln; die Planung von und Reaktion auf Umweltgefahren; und die Entwicklung neuer Ansätze zur Untersuchung von Bewegung, Mobilität und Migration.
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Das heisst: praktisch die gesamte Gesellschaft in ihrem interaktiven Entwicklungsprozess wird durchsichtig und gestaltbar bis in die kleinsten Bereiche hinein. Zu den einzelnen Forschungsthemen gehören, um nur einige Bereiche zu nennen, die bereits systematisch mittels KI durchdrungen werden:
• Arbeiten…, die eine Verbindung zwischen den physischen Merkmalen von Gemeinden und dem menschlichen Verhalten herstellen. Dies, indem sie zum Beispiel Daten von Google Street View verwenden, um physische Infrastrukturen, welche die Mobilität älterer Menschen erleichtern oder behindern, besser zu bewerten.
• Forschungsarbeiten über das Verhalten von Jugendlichen, bei denen deren Smartphones verwendet werden, um ihre ‚Aktivitätsräume‘ zu kartieren und diese Informationen mit lokalen Verwaltungsdaten zu verknüpfen.
• Forschung, die Bundesumfragen mit staatlichen und bundesstaatlichen Verwaltungsdaten verknüpft, um den Familienstand zu erheben, damit das zu besseren und zuverlässigeren Bewertungen der Teilnahme an Sozialhilfeprogrammen führt.
• Eine neuartige Verknüpfung von Twitter-Daten, Gesundheitserhebungsdaten und sozioökonomischen Daten… zur Vorhersage der Asthma-Belastung von Gemeinden. Asthma-bezogene Tweets waren ein signifikanter Vorhersage-Indikator für die Asthma-Prävalenz in Gemeinden. Es gab erhebliche Unterschiede in der Verbindung zwischen den Tweets und dem sozioökonomischen Status in verschiedenen Regionen, was darauf hindeutet, dass die Asthma-Belastung in verschiedenen Gemeinden unterschiedlich ausfallen kann.
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Das ist aber noch keineswegs alles. Die KI-basierten sozialwissenschaftlichen Anwendungsgebiete reichen laut US-Akademie noch weiter in die sozio- und gesellschaftspolitische Meso- und Mikro-Dimension hinein. Sie schliessen ein:
• Eine Untersuchung der Gesundheit von Bewohnern einkommensschwacher Gegenden…, wo medizinische Daten mit Verwaltungsdaten von Gemeindediensten und Wohnungsbewertungen verknüpft werden, um zu zeigen, wie Familien damit umgehen, wenn ein Mitglied einen plötzlichen Gesundheitsschock erleidet.
• Eine Studie über die Auswirkungen von Wirbelstürmen auf die Bevölkerungsdynamik in Gemeinden, die zeigt, wie wetterbedingte Verluste die Bevölkerungsentwicklung beeinflussen. Die Auswirkungen von Wirbelstürmen auf Landkreise sind unterschiedlich, und die Entvölkerung bzw. Wiederbevölkerung hängt von früheren Bevölkerungsveränderungen und der Bevölkerungsdichte ab. Neue Daten zeigen: Wirbelstürme haben nur geringe Auswirkungen auf das Bevölkerungswachstum in Landkreisen mit rückläufiger oder geringer Bevölkerungsdichte, aber Landkreise mit hoher Bevölkerungsdichte weisen sogar ein noch höheres Bevölkerungswachstum auf, nachdem sie über ein Jahrzehnt hinweg Verluste durch Wirbelstürme erlitten haben.
• Eine vorausschauende Studie über die Einwanderung in Europa. Sie zeigt, wie verknüpfte Daten genutzt werden können, um die Mobilität und den wirtschaftlichen Erfolg von Einwanderern in Westeuropa, die anschließend in die Vereinigten Staaten kommen, zu verfolgen. Viele Einwanderer nichteuropäischer Herkunft, die über Europa nach Amerika kommen, steigen in Amerika wirtschaftlich schneller auf als Westeuropäer, obwohl sie im Allgemeinen ein niedrigeres Bildungsniveau haben. Dies gilt laut integrierten Daten jedoch nicht für Einwanderer afrikanischer Herkunft aus Ländern südlich der Sahara, die ihre ethnische Benachteiligung [auch bei Übersiedlung von Europa in die USA] beibehalten.
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Bereits an der breiten Fächerung dieser Detail-Beispiele wird klar, dass aus der zunächst kapillaren Anwendungsbreite "von unten" über kurz oder lang fast unweigerlich eine "höhere" sozio-politische Valenz Künstlicher Intelligenz für das Ganze von Politik und Gesellschaft hervorgehen muss: nämlich eine Wirkung auf die sozio-politische Gestaltung und Veränderung der Gesamtgesellschaft.
Die in nie dagewesener Weise komplexitätsfähige Aufarbeitung und Zusammenführung von Information durch KI-Systeme führt bereits durch ihre bloße Existenz zu einer zunächst indirekten Mitsteuerung sozialer und damit auch politischer Mikro-, Meso- und Makro-Prozesse.
Es scheint praktisch unvermeidlich, dass sich diese Teilsteuerungen dann nach und nach aus den einzelnen Anwendungsfeldern zu einem ganzheitlicheren Trend gesamt-gesellschaftlicher Veränderung zusammenfügen werden. Mit anderen Worten: Der Selbststeigerungs-Charakter Künstlicher Intelligenz tastet sich – mehr oder weniger unweigerlich und "von sich aus" – an die Grenze zwischen Mensch und Politik heran, je weiter er anhält und sich zivilisatorisch durchsetzt.
Die Folge: KI transportiert einen neuen politischen Universalismus. Wird KI zur Universalpolitik – die die Unterschiede zwischen politischen Strömungen transzendiert?
Doch damit beginnt die politische Dimension von KI recht eigentlich erst. Die Verbindung von KI, Politik und Gesellschaft könnte in noch weit direktere und umfassendere Dimensionen hinein weiterführen, wenn es nach den Interessen aufsteigender öffentlicher und privater Akteure geht.
KI ist vom vorpolitischen Feld sozialwissenschaftlicher Entscheidungsvorbereitung aus, das sie heute bereits erobert, auf dem Weg, selbst einen neuen, transversalen Politik-Universalismus zu lancieren. Tatsächlich gilt KI heute vielen bereits als mögliche Universalpolitik von morgen.
Die Frage für die kommenden Jahre ist also nicht, ob KI "politisch" wirksam wird. Sondern sie lautet: In welcher Weise? Und: Wird Künstliche Intelligenz dabei zur veritablen "historischen Veränderungskraft"? Oder bleibt ihre Wirkung auf bestimmte Sektoren begrenzt?
In der Beantwortung dieser Fragen wird seit einigen Jahren immer deutlicher eine fundamentale Spaltung zwischen autoritären und offenen Gesellschaften offenbar. Diese Spaltung im Hinblick auf den ideologischen Umgang mit KI durchzieht im Vollzug von "Re-Globalisierungs"-Tendenzen die meisten Bereiche globaler Entwicklung.
KI als "humanpenetratives" Regierungsinstrument Chinas
Autoritäre Gesellschaften gehen heute in der Umwandlung von KI-Technologien zu direkter politischer Valenz voran. So wird Künstliche Intelligenz vor allem in China als politisches Staatsinstrument im Sinn eines neuen "sozialen Ingenieurswesens" inszeniert. KI wird hier als höhere Stufe zeitgenössischer politischer Kybernetik verstanden.
So soll KI laut dem Willen der autoritären chinesischen Regierung zum Beispiel Körpersprache antizipativ auf künftiges Verhalten hin untersuchen. Damit soll, wie es Xi Jinpings Regime plant, Überwachung auf ein "höheres" Niveau gehoben, als es je vor KI existierte.
Mittels beispielloser Vergleichs-Rechenleistung soll Kontrolle auch im Hinblick auf individuelle menschliche Entwicklung zukunftsantizipativ gemacht werden. Bereits an der Körpersprache von Kindern in der Schule, etwa bei Sitzen, Sprechen oder Interagieren, sollen mögliche künftige Dissidenten gegen die "wahre kommunistische Lehre" von spezialisierter KI erkannt werden – um sie dann in ihren Lebensläufen entsprechend zu "korrigieren" und einzugrenzen.
Aber auch das Alltagsverhalten, ja die individuellen Vorlieben und der Gesichtskreis der Bürger soll laut dem Willen der Staatsführung mit KI immer umfassender kontrolliert werden. Nicht nur kann die chinesische Regierung mittlerweile innerhalb weniger Sekunden jeden Bürger mittels KI-Gesichtsscan aus der Ferne identifizieren und dabei gleich sämtliche Lebensinformationen über ihn abrufen.
Man entscheidet über sein weiteres Schicksal auch mittels ethnischem Profiling (ethnic profiling). Die Regierung kann mittels spezialisierter – zum Teil in den USA für sie gebauter – KI inzwischen sogar bei Fußgängern soziales und damit auch politisches Verhalten vorhersagen. Laut Forschern kann die dafür betriebene Software
die Persönlichkeit eines jeden Fußgängers klassifizieren. Sie kann auch andere biometrische Merkmale identifizieren, wie aus den Dokumenten zur Forschungsförderung hervorgeht. "Diese Fähigkeiten werden genutzt, um das Verhalten jedes Fußgängers vorherzusagen. Sie sind für Überwachung nützlich", heißt es in dem Dokument.
Zudem erprobt die chinesische Regierung in immer breiterem Maß die Überwachung von Gehirnfunktionen der Bevölkerung. So ist
in einigen chinesischen Fabriken bereits routinemäßig ein KI-System zur ‚Emotionalen Überwachung‘ im Einsatz. Es beobachtet Anzeichen für negative Gedanken der Mitarbeiter per Sensoren – direkt an ihren Köpfen. Es klingt wie der Plot eines George-Orwell-Romans, ist aber Realität im China bereits seit dem Jahr 2018:
- In Mützen, Uniformhüte oder Helme von Arbeitern werden Sensoren eingebaut.
- Diese Sensoren übertragen die Gehirnwellen der Arbeiter an einen Computer.
- Eine Software analysiert kontinuierlich die Gehirnwellen der Arbeiter.
- Sie überprüft Anzeichen für Stress, Angst und Depressionen.
Wie die South China Morning Post (SCMP) berichtet, ist die Idee hinter dem System, "die Moral der Arbeiter zu stärken – und zwar bevor emotionaler Stress ein Problem auslöst und nicht erst danach".
Deutschlandfunk Nova.
Zu den KI-überwachten inneren menschlichen Regungen zum Beispiel die Gehirnaktivitäten von Zugführern. Sie werden systematisch aufgezeichnet, gespeichert und mittels KI verglichen. Daraus wird ein "Normalitätsspektrum" abgeleitet. Funktionsweise und tatsächlicher Nutzen des Systems bleiben natürlich weitgehend geheim, weil Regierungssache:
Die MIT Technology Review schreibt, das Ganze funktioniere vermutlich wie ein Elektroenzephalogramm, kurz EEG. Das wird zum Beispiel auf Intensivstationen genutzt, um Patienten zu überwachen. Neurologen nutzen es auch, um sich einen Eindruck von Gehirnaktivitäten zu machen.
Die Technologie ist also an sich nicht neu und überall auf der Welt im Einsatz. Sie wird in China allerdings mittlerweile in einem "nie dagewesenen Ausmaß" in Fabriken, im öffentlichen Nahverkehr und in staatlichen Betrieben eingesetzt. Damit soll die Wettbewerbsfähigkeit und die "soziale Stabilität" der Menschen erhöht werden, um etwa eine Selbstmordserie unter gestressten Arbeitern zu vermeiden.
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Der Gebrauch ist je nach Institution unterschiedlich und wird mit hohem Aufwand an die Bedürfnisse angepasst:
Manche chinesische Firmen nutzen die Sensoren "nur" für Simulationen in der Virtuellen Realität – um etwa neue Arbeitsabläufe auf ihre Stressfaktoren zu prüfen. Bei anderen Firmen sind die Sensoren schon im Dauereinsatz: Die Firma Hangzhou Zhongheng Electric nutzt das System für alle Fließbandarbeiter. Auch die State Grid Zhejiang Electric Power in der Zhejiang-Provinz nutzt das System flächendeckend. Ebenso ist die Technik bei einigen Teilen des chinesischen Militärs im Einsatz.
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Wozu das Ganze? Die politischen Implikationen stehen in der "humantechnologischen" KI-Anwendung Chinas klar im Vordergrund. Es geht darum, die Befindlichkeit der Bürger "von innen" zu durchschauen und damit weit tiefer als bisher möglich zu kontrollieren. Diese Ziele der Regierung bleiben der Bevölkerung aber weitgehend verborgen:
Die Forscher, die das System entwickelt haben, glauben, dass es eine Riesen-Errungenschaft in punkto Arbeitssicherheit ist. Die Ningbo University ist eines der Hauptforschungszentren des Projekts. "Wenn das KI-Gehirnüberwachungs-System eine Warnung ausspuck", so Professor Jin Jia, ‚dann bittet der Manager den Arbeiter, einen Tag Pause zu machen oder zu einem weniger anspruchsvollen Job zu wechseln.
Manche Jobs erfordern ein hohes Maß an Konzentration, da gibt es keinen Raum für Fehler!‘ Die MIT Technologie Review hält die Möglichkeiten des Überwachungssystems bislang allerdings für begrenzt. Ein EEG, das über Hautkontakt aufgezeichnet wird, sei sehr limitiert darin, was genau es feststellen könne. Denn die genaue Beziehung zwischen EEG-Signalen und menschlichen Emotionen sei bis heute unklar.
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Inwieweit die "Emotionale Überwachung" auch für Vertreter aus den eigenen Reihen der regierenden Partei gilt, womit die KI-Revolution Chinas dann ihre eigenen Kinder aufzufressen beginnen würde, wird zu sehen sein. Damit würde die systemische Macht ironischerweise zusehends von (regierenden) Menschen auf KI übergehen – obwohl diese Menschen sie doch nur für eigene Machtansprüche benutzen wollten.
Algorithmen politisieren
Die im Dezember 2021 verabschiedeten Gesetze zur Regelung von Such- und Ergebnisreihungs-Algorithmen in chinesischen Internet-Suchmaschinen sind ein weiterer Baustein der Politisierung von KI.
Sie werden in den kommenden Jahren möglicherweise weltweite Folgen zeitigen. Unter dem Deckmantel der "Transparenz" verlangt die chinesische Regierung seit 2021 Zugriff auf die Empfehlungs-Algorithmen der Suchmaschinen. Sie schreibt diesen Algorithmen die "Verbreitung positiver Energie" vor, also die automatisierte Erstreihung von der Regierung genehmen Inhalten.
Dazu fordert sie aber auch die präventive Ausscheidung dessen, was sie "Falschinformation" nennt – das heisst all dessen, was der Regierung nicht gefällt:
Die chinesische Cybersicherheitsbehörde hat eine Reihe neuer Vorschriften für Empfehlungsalgorithmen erlassen. Sie regeln den Einsatz dieser Technologie in erheblichem Maße. Die Vorschriften… werden Auswirkungen auf Unternehmen haben, die auf diese Technologie angewiesen sind, wie zum Beispiel Social-Media-Anwendungen, E-Handelsplattformen und Nachrichtenseiten. Sie werden diese dazu zwingen, die Aufsicht zu verstärken und technische Anpassungen vorzunehmen.
China Briefing
Worum genau handelt es sich?
Am 31. Dezember 2021 verabschiedete die Cybersecurity Administration of China (CAC), Chinas Internetaufsichtsbehörde, die Internet Information Service Algorithm Recommendation Management Regulations, ein Regelwerk, das die Verwendung – und den von der Regierung so genannten "Missbrauch" – von Empfehlungsalgorithmen einschränkt.
Diese Vorschriften sind das umfangreichste Regelwerk, das jemals für die Implementierung von Empfehlungsalgorithmen in der Welt geschaffen wurde. Sie fordern von den Firmen Auskunft darüber, wie die Algorithmen funktionieren, und geben den Nutzern mehr Kontrolle darüber, welche Daten Unternehmen für den Algorithmus verwenden können.
Die Vorschriften gehen aber auch weit über die Rechte der Nutzer hinaus und verlangen, dass die Betreiber von Algorithmen einen ethischen Kodex befolgen, um "positive Energie" im Internet zu fördern und die Verbreitung unerwünschter oder illegaler Informationen zu verhindern.
China Briefing
Politische Grauzonen zwischen den Systemen entstehen
Interessant ist, dass zeitgleich auch in den offenen Gesellschaften die Politisierung der KI-Algorithmen-Macht voranschreitet – wenn auch weniger offen und autoritär. So plant zum Beispiel Facebook den Einsatz Künstlicher Intelligenz, um in seinem weltweiten Einflussbereich unerwünschtes Verhalten oder "Desinformation" auszuschliessen und "politische Korrektheit" zu garantieren. Das erfolgt angeblich in umgekehrter Stossrichtung zu China, aber faktisch nicht völlig gegenläufig dazu.
Denn dazu arbeitet die Firma offenbar bereits seit 2021 mit der US-Regierung unter Biden und sogar mit dem FBI zusammen, was die Informationsflüsse des sozialen Mediums direkt politisiert. Vor allem auch deshalb ist die Rolle der KI-beeinflussten sozialen Medien in Amerika zum großen politischen Zukunftsthema geworden.
Nach dem Bekanntwerden des globalen Wahl-Beeinflussungs- und Manipulationsskandals durch die weltweit tätige israelische Firma "Team Jorge" von Tal Hanan im Februar 2023, die gegen Geld dutzende, wenn nicht gar hunderte Wahlen mittels KI-Programmen beeinflusst haben soll, hat sich die Sorge um diese Politisierung von KI auch in Europa und dem Westen weiter verstärkt.
Andere "große Spieler" wie Google mit seiner eigens für das autoritäre China geplanten KI-Suchmaschine "Dragonfly", wählen den Mittelweg. Sie passen sich unterschiedlichen politischen Systemen ebenso flexibel wie werteneutral an.
In Erwartung unsicherer Zukünfte wählen sie strategisch bewußt die Mitte zwischen "autoritär" und "offen", und bedienen "kontextuell" beide Systeme. Das führte eben wegen der damit verbundenen politischen Dimension zu wiederholten Protesten von Mitarbeitern. "Dragonfly" wurde nach offizieller Darstellung schliesslich eingefroren.
Aus Sicht von Kritikern zeigt die KI-Entwicklung im vorpolitischen Feld global operierender Informationsriesen wie Google, dass diese offenbar wegen ihrer Entgrenzung vom Ursprungsland und ihrer profitbezogenen "Emanzipation" von den politischen Systemen des Westens keine strikt demokratischen oder ethischen Werte mehr im Zentrum führen – jedenfalls nicht in ihrer globalen Agenda. Sie vertreten eher "neutrale" Positionen, die zumindest indirekt oft autoritären Regimen und den von ihnen abhängigen Konkurrenzfirmen wie Alibaba und Tencent zugutekommen.
Vor allem vertreten westliche Informationsgiganten demokratische Werte nicht mehr ausdrücklich gegen nicht-demokratische Regime – jedenfalls nicht dort, wo diese Werte sowohl ökonomisch wie gesellschaftlich real sozio-politisch wirksam werden. Das hat das Beispiel der raschen, kompromisslosen und abkommenswidrigen Niederschlagung der Demokratie-Bewegung und des "Ein Land, zwei Systeme" Modells Hongkongs durch Peking gezeigt. Vonseiten westlicher Firmen gab es kaum Aufschrei.
KI-Entwicklungen verwischen die Grenzen zwischen demokratisch und autoritär
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich KI-Entwicklungen inzwischen über die Rivalität politischer Systeme hinweg verschränken, ja dass die Grenzen zwischen ihnen im informellen Bereich immer öfter verschwimmen. So vervielfältigen sich transnationale Überschneidungen zwischen politischem Gebrauch und Sicherheits-Anforderungen. Dabei ist das Unterlaufen westlich-demokratischer Standards mittlerweile vor allem wegen chinesischen Einflusses auch im Westen gang und gebe.
Nur ein Beispiel unter vielen? Die Entwicklung von Überwachungs- und Identifikations-KI in den USA für Chinas diktatorische Regierung – just zu einem Zeitpunkt wachsender geo- und systempolitischen Konfrontation beider Länder:
Amerikanischer Starprofessor entwickelte Überwachungsmaschine für chinesische Big Tech. Ein Professor aus Maryland hat für den Tech-Giganten Alibaba eine Software entwickelt, die die Persönlichkeit von Menschen lesen und ihr Verhalten vorhersagen kann...
Ein Starprofessor der University of Maryland (UMD) hat im Rahmen eines sechsstellig finanzierten Forschungsstipendiums des chinesischen Tech-Riesen Alibaba eine Software für maschinelles Lernen entwickelt, die "für die Überwachung nützlich" ist. Alibaba finanzierte ein Forschungsteam unter der Leitung von Dinesh Manocha, einem Professor für Informatik, mit 125.000 Dollar, um eine Software für die städtische Überwachung zu entwickeln.
Diese kann "die Persönlichkeit jedes Fußgängers klassifizieren und andere biometrische Merkmale identifizieren", wie aus den offiziellen Forschungsunterlagen hervorgeht, die auf Anfrage der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.
"Diese Fähigkeiten werden genutzt, um das Verhalten jedes Fußgängers vorherzusagen und sind für die Überwachung nützlich", heißt es in dem Dokument. Die Überwachungsprodukte von Alibaba erlangten bereits im Jahr 2020 Berühmtheit, als Forscher herausfanden, dass eines der Produkte, Cloud Shield, die Gesichter von Uiguren erkennen und ethnisch klassifizieren kann.
Daily Beast
Der Fall ist auch deshalb von Bedeutung, weil hier im Westen hergestellte KI direkt und in breitem Still für verbrecherische politische Zwecke benutzt wird:
Menschenrechtsgruppen sind der Meinung, dass diese Hightech-Überwachungsinstrumente eine wichtige Rolle beim laufenden Völkermord an den Uiguren in Xinjiang spielen. "Die Quintessenz ist, dass Alibaba akademische Forschung in den USA finanziert hat, die für Chinas Überwachungsstaat maßgeschneidert wurde", sagte Ryan Fedasiuk, ein Associate Fellow am Center for New American Security.
Manocha ist ein hochdekorierter Wissenschaftler auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz und Robotik, der von Google, IBM und vielen anderen mit Preisen und Auszeichnungen bedacht wurde. Sein Star-Status bringt Belohnungen mit sich: Die Steuerzahler von Maryland zahlten dem Professor im Jahr 2021 ein Grundgehalt von 355.000 Dollar, wie die staatliche Überwachungsorganisation Open the Books berichtet.
Auch das US-Militär finanziert die Forschung des Professors großzügig. Es hat mit Manochas Labor einen Vertrag über 68 Millionen Dollar zur Erforschung militärischer Anwendungen von KI-Technologien unterzeichnet. Aber nicht nur die Steuerzahler in Maryland und das US-Militär finanzieren Manochas Forschung.
Im Januar 2018 unterzeichneten die University of Maryland und Alibaba einen 18-monatigen Forschungsvertrag zur Finanzierung von Manochas Forschungsteam. In dem Bewilligungsdokument… verpflichtet sich Manochas Team, "eng mit Alibaba-Forschern zusammenzuarbeite", um eine städtische Überwachungssoftware zu entwickeln, die Fußgänger anhand ihrer einzigartigen Gangsignaturen identifizieren kann.
Der Algorithmus würde dann die Gangsignaturen verwenden, um Fußgänger als "aggressiv", "schüchter", "impulsiv" und gemäß anderen Persönlichkeitsmerkmalen zu klassifizieren.
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Die dabei praktizierte Zusammenarbeit überschritt Grenzen sowohl politisch wie ökonomisch und ethisch. Offenbar führt die Politisierung von KI für autoritäre Regime jedoch bislang zu keinen nennenswerten Folgen für Kooperationswillige in offenen Gesellschaften:
"Im Rahmen des Stipendiums mussten die UMD-Forscher in den USA den Überwachungs-Algorithmus an von Alibaba zur Verfügung gestellten Videos testen und ihre Ergebnisse dann persönlich in den Alibaba-Labors in China vorstellen. Die Wissenschaftler mussten außerdem die C++-Codebasis für die Software und den Rohdatensatz des Programms an Alibaba liefern. Die Software soll Demonstrationen und Proteste proaktiv vorhersagen, damit diese rechtzeitig unterdrückt werden können", so Fedasiuk.
"In Anbetracht dessen, was wir jetzt über Chinas Architektur der Unterdrückung in Xinjiang und anderen Regionen wissen, ist klar, dass Dr. Manocha dieses Projekt nicht hätte vorschlagen dürfen; und die Administratoren der UMD hätten es nicht absegnen dürfen." Die UMD lehnte eine Stellungnahme dazu ab…
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KI fördert "dual-use" Praktiken
Interessanterweise praktizieren Spitzenforscher in den USA bei alledem offenbar relativ ungestört "dual use"-Praktiken. Das heißt: sie dienen zwei politischen Systemen gleichzeitig, deren Werte, Menschen- und Gesellschaftsbilder nicht unterschiedlicher sein könnten. Und sie tendieren dazu, für beide ähnliche Instrumente zu produzieren, wie – wenn auch unter anderen Vorzeichen – zum Beispiel der Snowden-Skandal seit 2013 gezeigt hat.
Und dies, obwohl unter anderem die EU China in ihren offiziellen Zukunftsstrategien seit 2019 als "systemischen Rivalen" bezeichnet – mit den USA in noch stärkerer Opposition zum China Xi Jinpings. Das scheint die "trans-zivilisatorischen" KI-Promoter bislang jedoch wenig zu stören.
Betrachten viele von ihnen Technologie doch offenbar als meta-politisch – und damit auch als jenseits bisheriger Werte- und Rechte-Systeme stehend. Manche meinen sogar, eben diese "meta-politische" Rolle intelligenter Technologie sei auf lange Frist ihre "menschheitsvereinigende" Funktion. Wirklich? Auf welcher Grundlage?
Denn heisst das, dass letztlich beide politischen System-Cluster: der geschlossene und der offene, am Ende des Tages mittels Entfaltung von KI-Logiken konvergieren? Offenbar scheinen manche der Ansicht zu sein, KI arbeite in ihren datengetriebenen Entscheidungslogiken ohnehin gegen die Diskussions- und Partizipationskultur offener Gesellschaft. Deshalb mache sie die Unterschiede in der Bereitstellung von Instrumenten für wertepolitischen Gebrauch immer weniger wichtig:
Im Januar 2019 – als der Alibaba-Zuschuss noch aktiv war – sicherte sich Manocha einen vom US-Steuerzahler finanzierten Zuschuss des US-Verteidigungsministeriums in Höhe von 321.000 US-Dollar für sein Forschungsteam. Mit den beiden Zuschüssen wurden sehr ähnliche Forschungsprojekte finanziert. Der Alibaba-Zuschuss trug den Titel "Large-scale Behavioral Learning for Dense Crowds" [Verhaltenslernen in großem Stil für dichte Menschenmengen].
Der Zuschuss des US-Verteidigungsministeriums hingegen diente der Erforschung "effizienter Berechnungsmodelle für die Simulation großer heterogener Menschenmengen". Es überrascht nicht, dass sich die Forschungsergebnisse der beiden Stipendien überschneiden. Zwischen 2019 und 2021 veröffentlichte Manocha mehrere Artikel im Bereich der KI und des maschinellen Lernens, in denen er sich sowohl auf den Alibaba- als auch auf den US-Verteidigungsministeriums-Zuschuss bezog.
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Der Manocha-Fall zeigt das Ausmaß der Kombination tiefreichender politischer und sozialer KI-Veränderung mit weitgehender Unvorbereitetheit der Gesetzgeber in offenen Gesellschaften auf. Das Interessanteste an ihm ist, dass es bis heute schwierig bleibt, derartiges Verhalten zu sanktionieren bzw. künftig besser zu kontrollieren:
Es gibt keine Beweise dafür, dass Manocha gegen das Gesetz verstoßen hat, indem er sowohl amerikanische als auch chinesische Fördermittel zur Finanzierung ähnlicher Forschungsprojekte verwendet hat. Nichtsdestotrotz wirft der Fall ernsthafte Fragen zur Ethik der Forschung zum maschinellen Lernen auf… In den letzten Jahren hat die US-Politik darauf hingewirkt, [KI-]Wissenschaftler davon abzuhalten, sich um ausländische Geldgeber zu bemühen.
Ein Memorandum des Weißen Hauses aus dem Jahr 2021 – das unter der Trump-Regierung verfasst und später vom Weißen Haus unter Biden unterstützt wurde – soll der chinesischen Einmischung in die US-Wissenschaft entgegenwirken.
Dies, indem es von den US-Steuerzahlern finanzierte Forscher dazu verpflichtet, "Informationen, die potenzielle Interessenkonflikte aufdecken könnten, vollständig offenzulegen". Im Kongress hat der Abgeordnete Mike Waltz ein Gesetz eingebracht, das Forschung für China in den USA verbietet. Der Kongressabgeordnete sagte, Manochas Fall sei "ein weiterer Weckruf" und "genau der Grund", warum er das Gesetz eingebracht habe.
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In der Tat häufen sich die Indizien für eine künftig notwendige Trennung politisch relevanter KI-Agenden auf der geopolitischen Bühne:
Manochas Verbindungen zu China gehen über seine Arbeit bei Alibaba hinaus. Zwischen 2014 und 2016 arbeitete der Professor als Thousand Talents Scholar, ein chinesisches Programm, das von der US-Regierung als nationale Sicherheitsbedrohung angesehen wird. Im Jahr 2018 holte Baidu, ein weiterer chinesischer Tech-Gigant, Manocha als leitenden Berater für seine Forschungsabteilung an Bord.
Der Professor arbeitete auch nach dem Auslaufen des Alibaba-Stipendiums im Juni 2019 weiter mit chinesischen Partnern zusammen und verfasste 2020 gemeinsam mit chinesischen Wissenschaftlern, die mit dem chinesischen militärisch-industriellen Komplex verbunden sind, ein Papier.
Jessica Brandt, Policy Director für die Artificial Intelligence and Emerging Technology Initiative an der Brookings Institution, sagte, dass Manochas Fall ein abschreckendes Beispiel für andere US-Forscher sein sollte. "Ich denke, dieser Fall zeigt, wie folgenreich die Entscheidungen von Forschern über die Zusammenarbeit sein können – und wie wichtig es ist, dass die akademische Gemeinschaft Verhaltenskodizes entwickelt, um derartige Entscheidungen auszurichten."
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Die Perspektive: Politische mit Ästhetik-Prozessen verschmelzen?
Künstliche Intelligenz soll schließlich, wenn es nach neueren Entwicklungen wiederum im Mutterkonzern Googles, Alphabet, geht, sogar ästhetische und religiöse Gefühle von Menschen vorhersagen. Dies durchaus auch mit Blick auf deren gesellschaftliche und politische Valenz. Künstliche Intelligenz "sieht inzwischen bereits semi-autonom Bilder im menschlichen Gehirn und rekonstruiert sie". Was damit an Werte-Voraussagen und Zuschneidung von Werbe-Botschaften korreliert, wird wohl auch eingesetzt werden.
Letztlich soll Künstliche Intelligenz sich laut ihren Propagatoren schon bald eigenständig mittels Künstlicher Intelligenz selbst fortschreiben. Sie soll also bereits in der bisher verfügbaren "weichen" Variante technologischer "Intelligenz" – die mutmasslich noch ohne Selbstbewusstsein bleibt – zu einer gewissen Art praktischen, angewandten Selbstreferenz voranschreiten. Auf die damit verbundene, neuartige Dimension deutet hin, wenn bei der Biennale in Venedig 2022 die angebliche Künstliche Intelligenz (AI) AI-Da die
wahre Künstlerin ist. Künstlerin AI-Da ist ein menschenähnlicher Roboter, der bei der Biennale in Venedig 2022 Kunstgeschichte schrieb. Vom lebenden Modell malte AI-Da dank Künstlicher Intelligenz Porträts. Das war eine bislang einzigartige Leistung, die selbst ihrem Schöpfer Adrian Meller zu denken gab.
Die Frage bei AI-da ist – neben der Geschlechtszuschreibung – nur, was genau hier mit "menschenähnlich" gemeint ist. Auch hier gilt: die Unschärfe der Übertreibung, gemischt mit Unklarheit der Begriffe, sorgt für Mystifizierung. Das treibt die Entwicklung weiter voran und hält den Hype am Leben.
Roland Benedikter ist Co-Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Bozen, Unesco Chair für Interdisziplinäre Antizipation und Global-Lokale Transformation und Mitglied des Zukunftskreises des BMBF für die deutsche Bundesregierung. Homepages bei Eurac Research: Roland Benedikter und Unesco Chair. Kontakt: roland.benedikter@eurac.edu.