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Die Welt ist in der Ukraine-Frage gespaltener, als sie scheint

Fakten statt Thesen: Der Westen in der eigenen Echokammer – aus dem Krieg des Nordens könnte der globale Süden Kapital schlagen

Your enemies are not our enemies.

Nelson Mandela

Die Schlagzeilen in der westlichen Presse sprechen eine klare Sprache: "Die Welt ist geeint gegen Russland"; "Russland isoliert"; "Es gibt keinen Ausweg gegen die Sanktionen"; "Alle gegen einen" – so oder so ähnlich titelten Medien des Westens im letzten Monat immer wieder und noch einmal in der vergangenen Woche, als die Uno-Generalversammlung mit klarer Stimmenmehrheit am Donnerstag den Zugang zu Hilfsgütern und den Schutz der Zivilbevölkerung in der Ukraine forderte und Russland für die Schaffung einer "katastrophalen" humanitären Situation nach dem Einmarsch Moskaus in das Nachbarland kritisierte.

"Die Uno-Vollversammlung isoliert Russland ein weiteres Mal überwältigend [1]", titelte dazu die britische Nachrichtenagentur Reuters.

Selbstbetrug des Westens oder gibt es objektive Gründe für dieses Urteil?

Die Botschaft ist klar: Politisch ist Russland isoliert und wirtschaftlich zieht sich die Schlinge um die Russische Föderation immer enger zu. Kurzfristig sind die Folgen erheblich, mittelfristig hat Russland keine Chance, als wirtschaftlich in die Knie zu gehen.

Nach nur vier Wochen wird die diplomatische Niederlage des Westens, die der russische Angriff auf die Ukraine besiegelte, in den politischen Erklärungen der Institutionen und in den Medien des Westens zunehmend in einen Sieg umgedeutet: Der Angriff sei ein "notwendiger" "Weckruf" gewesen, war beispielsweise aus dem Europaparlament zu hören [2]. Auf allen Ebenen [3] ist vom Umdenken [4] die Rede. Medien erkennen eine "Kehrtwende" [5] und behaupten "weltweite Solidarität" für die Ukraine [6]. Ist das purer Selbstbetrug des Westens oder gibt es objektive Gründe für dieses Urteil?

Nun sollen die Sanktionen und ihre Folgen nicht kleingeredet werden. Es soll auch nicht die Diplomatie kleingeredet werden oder die symbolische Wirkung, die das nicht-bindende und nicht-sanktionierbare Votum der Uno-Generalversammlung hat.

Rechnen wir mit dem "Worst Case" aus Sicht des Westens

Umgekehrt aber sollte man die Dinge aber auch nicht größer machen, als sie sind. Hieß es nicht unmittelbar nach dem 24. Februar gerade vonseiten der langjährigen Unterstützer der ukrainischen Regierungsposition, dass man sich im Westen Illusionen gemacht habe?

Da kann nicht jeder widersprechen, der in den letzten Monaten Verständnis für die Positionen und Interessen Russlands aufbrachte und dies von anderen forderte – gerade auch weil man mit mehr Verständnis, gepaart mit einem illusionslosen Blick und einer anderen Politik den russischen Angriff und die ganze Fehlentwicklung der russisch-westlichen Beziehungen im letzten Jahrzehnt womöglich hätte vermeiden können. Und, weil ohne ein solches gegenseitiges Verständnis auch in jenem "neuen Kalten Krieg", der jetzt allerorten ausgerufen wird, nichts zu gewinnen sein wird.

Versuchen wir also, uns diesmal keine Illusionen zu machen. Versuchen wir, das zu tun, von dem die Falken des Westens seit Langem behaupten, dass sie es seit jeher täten: Rechnen wir mit dem "Worst Case" aus Sicht des Westens.

Die Repräsentanten von über der Hälfte der Weltbevölkerung folgen dem Westen nicht

Tatsächlich stimmten am Donnerstag 140 Staaten für die Resolution, nur vier Staaten unterstützten die russische Gegenposition. 38 Staaten allerdings enthielten sich der Stimme, weitere 10 waren bei der Abstimmung gar nicht anwesend. Für die Resolution stimmten also immerhin 72,54 Prozent [7] der abstimmenden Staaten.

Bemerkenswert war dabei, dass mit Serbien ein traditioneller Verbündeter Moskaus für die Resolution stimmte. Dass sich unter den Abwesenden mit Venezuela ein Staat befand, der einerseits als langjähriger US-Gegner gilt, andererseits als wichtiger Öllieferant in der künftigen Ölwirtschaft ohne Russland wieder neu ins Spiel kommt. Abwesend blieb der Abstimmung mit Marokko auch ein wichtiger Verbündeter des Westens. Schon hier differenziert sich das Abstimmungsverhalten erheblich.

Ein ganz anderes Bild der Lage ergibt aber vor allem der Blick auf die Bevölkerungszahl und die Regionen, die durch die Abstimmung repräsentiert werden.

Die Weltbevölkerung umfasst derzeit gut 7,9 Milliarden Menschen. Zu jenen Staaten, die nicht mit den Nato-Verbündeten für eine Verurteilung Russlands stimmten, gehören drei der fünf bevölkerungsreichsten Staaten, zehn der 25 bevölkerungsreichsten Staaten der Welt [8], 19 afrikanische Staaten gehören dazu, vier Atommächte oder gar sechs, je nachdem, wie man die technischen Fähigkeiten von Nordkorea und dem Iran in dieser Hinsicht einschätzt.

Die Bevölkerungszahl jener, die nicht gegen Russland stimmten, liegt bei über 4,18 Milliarden Menschen – wir sprechen hier also von weit über der Hälfte der Weltbevölkerung, deren Repräsentanten der Position des Westens nicht folgen.

Wie gesagt: Man sollte realistisch bleiben. Dies bedeutet, dass man diesen Befund in beide Richtungen lesen muss.

Man wird einerseits darauf blicken müssen, dass jene Staaten, die gegen Russland stimmten und die Position Washingtons und seiner Verbündeten unterstützten, auch jene Staaten sind, die in nahezu allen modernen Technologien, egal, ob militärisch oder friedlich, egal, ob es sich um alte und klassische Industrien handelt, um Mobilität oder um Computertechnologie, um die neuen Energietechnologien oder um Konsumgüter, die klare Vormacht besitzen.

Von den allermeisten dieser bedeutenden Technologien sind auch die Nicht-Sanktions-Staaten abhängig. Die Staaten, die Russland sanktionieren, erwirtschaften etwa zwei Drittel des weltweiten Bruttosozialprodukts.

Auf der anderen Seite repräsentieren die großen Bevölkerungszahlen auch große Kundenzahlen, die in einer kapitalistischen Weltwirtschaft ein wesentlicher Faktor sind.

Und sie sind im Besitz der meisten Bodenschätze. Von den zehn Staaten der Erde mit den wertvollsten Bodenschatz-Vorkommen [9] liegen sieben im Globalen Süden. Nur die USA, China und der Rohstoffgigant Russland liegen im Norden.

Unter den anderen sind mit dem Iran und Venezuela zufälligerweise zwei "Lieblingsfeinde" der USA. Und auch der Irak. Schon zur Zeit des Golfkriegs wusste man, worum es tatsächlich ging: um Öl.

Wer beteiligt sich eigentlich an den Sanktionen gegen Russland?

Darum noch ein Blick auf einen zweiten wesentlichen Faktor, der sich nicht in den Abstimmungen der Uno-Generalversammlung widerspiegelt: Wer beteiligt sich eigentlich an den Sanktionen gegen Russland?

Von der Antwort auf diese Frage hängt der Erfolg der Sanktionen wesentlich ab. Und hier erscheint das Bild weitaus eindeutiger zuungunsten der Sanktions-Befürworter und Ukraine-Unterstützer im Westen.

Dem Prinzip der Sanktionen angeschlossen haben sich die Staaten der Europäischen Union, die USA sowie in einer innenpolitisch durchaus umstrittenen Entscheidung die Schweiz. Es sanktionieren auch Kanada, Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea, Taiwan. Die meisten dieser Sanktions-Staaten sind also Satrapen Washingtons.

Wer hingegen nicht sanktioniert, ist das komplette Lateinamerika. Also nicht etwa nur Kuba und Venezuela, von denen man das noch erwartet hätte, sondern alle. Also auch Mexiko, Brasilien, Argentinien, Chile, Uruguay und sogar Länder wie Guatemala, Panama und Puerto Rico, die mehr oder weniger von den USA abhängig sind. Damit sind bereits wesentliche Schlupflöcher und ökonomische "Brückenstaaten" eines kommenden kalten Wirtschaftskriegs benannt.

In Asien sind die Philippinen in einer ähnlichen Brücken-Situation, nicht angeschlossen haben sich aber auch Indonesien, Thailand, Vietnam, Laos, Kambodscha, Indien, Pakistan, Bangladesch und Sri Lanka. Im Nahen und Mittleren Osten bleibt sogar das Nato-Mitglied Türkei und der westlich-demokratische Außenposten Israel unbeteiligt. Ebenso aber auch die angeblichen US-Verbündeten Ägypten und Saudi-Arabien sowie Katar, die VAE und Oman.

Der gesamte afrikanische Kontinent macht über alle Feindschaften, Konflikte und regionalen Rivalitäten bei den Sanktionen nicht mit, also auch viele der Staaten, die für die oben beschriebene Resolution stimmten.

Chancen im Süden durch den Krieg des Nordens

Die Bilanz: Der komplette Globale Süden bleibt bei den Sanktionen außen vor. Diesem Globalen Süden erscheint der Ukraine-Krieg vor allem als ein Krieg, den Staaten des Nordens unter sich austragen - als Luxusproblem reicher Länder und die Ukraine erscheint aus dieser Perspektive keineswegs als ein Staat sympathischer Befreiungskämpfer, sondern als ein weiterer Ausbeuter.

Auch der offene Rassismus breiter europäischer Kreise in der ungleichen Behandlung weißer "kaukasischer" ukrainischer und schwarzer afrikanischer Flüchtlinge führt gerade nicht zu Sympathieboni zugunsten der Ukrainer. Da werden auf emotionaler Ebene schon eher die Ähnlichkeiten zwischen dem Vielvölkerstaat Russland und den ebenfalls ethnisch heterogenen afrikanischen Staaten erkannt.

Hinzu kommen handfeste Interessen: Russland hat sich in letzter Zeit verstärkt auf dem schwarzen Kontinent engagiert. Die Ernährung Afrikas hängt an Russland. Afrika hängt besonders in Bezug auf Getreide von Russland ab. Die Sanktionen des Westens beeinflussen die Lieferwege für Getreide stark und verteuern es um mindestens 30 Prozent. Durch die Sanktionen indizierte Hungerkrisen sind vorprogrammiert: Der Westen verteidigt seine Werte auf Kosten eines Berges afrikanischer Leichen.

Umgekehrt braucht Russland relativ wenig Bodenschätze aus Afrika. China braucht diese weit mehr. Russland ist relativ unabhängig in Bezug auf natürliche Bodenschätze – mit einigen Ausnahmen natürlich. Was Russland wirklich braucht, sind westliche Technologien für seine Industrie. Sowie Ersatzteile für seine alten und altmodischen Industrien. Es braucht die westliche Technik auch, um die eigenen natürlichen Ressourcen auszubeuten. Hierdurch dürften sich Afrika in Zukunft neue Möglichkeiten als Zwischenhändler bei der erwartbaren Sanktionsumgehung eröffnen.

Der Krieg des Nordens könnte dem Globalen Süden mittelbar also sogar neue Chancen eröffnen. Es werden allerdings Chancen der Wirtschaft und der Machtpolitik sein, nicht notwendig auch Chancen der Demokratie.

Jedes finanzpolitische Schwert ist zweischneidig: Alternativen zu Swift

Die wichtigste offene Frage dieses Themenkomplexes, die in diesem Text nicht vertieft werden kann, ist die nach den Zahlungsmodalitäten und Techniken der Finanztransaktion. Nachdem die EU die finanzpolitische "Atombombe" (Friedrich Merz), die Aussetzung des Swift-Verfahrens bereits früh gezündet hat, stellt sich umso dringender die Frage: Welche Alternativen gibt es eigentlich zum Swift-Verfahren? Außer der Möglichkeit, Geschäfte in Cash zu bezahlen oder auf Rohstoffe, Edelmetalle und Edelsteine umzusteigen? Oder gleich zur Tauschwirtschaft zurückzukehren?

In China spricht man verstärkt von CIPS [10], der Swift-Alternative aus dem Reich der Mitte. Einer der mächtigsten, aber auch unsichersten Kantonisten des westlichen Lagers, Saudi-Arabien "erwägt" laut Financial Times die Forderung Chinas, für sein Öl in Zukunft in Yuan bezahlt zu werden. Das würde die bereits angeschlagene Macht des Dollars weiter untergraben. Sowohl Saudi-Arabien als auch die Vereinigten Arabischen Emirate weigerten sich bereits, den Aufforderungen von Joe Biden nachzukommen, ihre Ölproduktion zu erhöhen – wer solche Freunde hat...

Mit SPFS hat Russland seit knapp zehn Jahren auch sein eigenes System für Finanztransaktionen entwickelt [11]. Zudem sind immer noch längst nicht alle Banken aus dem Swift-Verkehr ausgeschlossen.

Wie gesagt, man sollte realistisch bleiben. Dazu gehört auch, sich klarzumachen, dass der freiwillige Verzicht auf eine Technik automatisch die Nachfrage nach ihren Alternativen stärkt. Jedes finanzpolitische Schwert ist zweischneidig.

Zur Zeit laufe Amerika in Gefahr sich durch seine eigene PR verführen zu lassen warnte die Financial Times in Gestalt ihres Chefkommentators Edward Luce [12] "Es ist nicht das erste Mal, dass der Westen seine eigene Einheit mit einem globalen Konsens verwechselt [13]", so Luce in seinem pointierten Text.

Der größte Teil der Welt steht jedoch abseits und wartet ab, in welche Richtung es geht.

Edward Luce, FT

Vielen Staaten und ihrer Bevölkerung gehe der Westen mit seiner Doppelmoral und der Neigung, im Reich der Werte die unangefochtene Führerschaft zu beanspruchen, vor allem auf die Nerven. Hinzu komme, so Luce, dass gerade die Sanktionspolitik der letzten Wochen auch die Fähigkeit und den Willen des Westens demonstrierten, all jene gnadenlos zu bestrafen, die sich der eigenen Politik nicht fügen.

Luce empfiehlt den Regierungen des Westens, allen voran Washington, anstatt moralisch auf einem hohen Ross zu sitzen, von dem man leicht herunterfallen kann, lieber eine Rückkehr zu "effektiver Diplomatie".

"The West against the Rest"

Fazit: Von einer Isolation Russlands kann keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Gefahr ist, dass die Ukraine-Krise mittelfristig zu einer Stärkung der bislang politisch schwachen Staaten im Süden und der Feinde des Westens führt.

Sie haben zumindest das eine gemeinsame Interesse, sich gegen den stärksten Konkurrenten zu verbinden, und diesen nicht gewinnen zu lassen. "The West against the Rest" – diese 30 Jahre alte pessimistische Formel von Samuel Huntington erlebt gerade ihre Wiederauferstehung. Im Kampf Davids gegen Goliath heißt der Goliath im Weltmaßstab nicht Russland oder China, sondern USA.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6650205

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.reuters.com/world/un-general-assembly-adopts-ukraine-aid-resolution-criticizes-russia-2022-03-24/
[2] https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20220210IPR23007/russlands-bedrohung-der-ukraine-ist-ein-weckruf-fur-europa
[3] https://www.rnd.de/politik/krieg-in-ukraine-schutzbunker-in-deutschland-moegliches-umdenken-5HDBXMKTUUSKUBUM25QM66UDEE.html
[4] https://www.deutschlandfunk.de/nato-gipfel-es-ist-ein-dramatisches-umdenken-im-gange-100.html
[5] https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/extra_3/Ukraine-Krieg-Kehrtwende-in-der-deutschen-Aussenpolitik,extra20458.html
[6] https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-weltweite-solidaritaet-fuer-ukraine-stop-war-stop-putin-L7RISKQG3KDPI3JSFSIPQPIDTM.html
[7] https://www.blitzrechner.de/prozent/
[8] https://www.worldometers.info/world-population/population-by-country/
[9] https://www.finanzen100.de/finanznachrichten/wirtschaft/wertvoller-als-alles-gold-der-erde-diese-zehn-staaten-besitzen-die-wertvollsten-bodenschaetze-der-welt_H694537435_444373/
[10] https://www.finews.ch/news/banken/50391-swift-china-russland-banken-cips-zahlungssystem
[11] http://www.cbr.ru/eng/psystem/fin_msg_transfer_system/
[12] https://en.wikipedia.org/wiki/Edward_LuceAutor
[13] https://www.ft.com/content/d7baedc7-c3b2-4fa4-b8fc-6a634bea7f4d