"Die Wirkmächtigkeit von Pandemien oder Seuchen wird überschätzt"

Bild: NIAID/CC BY-2.0

Wissenschaftshistoriker David Rengeling über die Hongkong-Grippe, Covid-19 und den Umgang mit Pandemien

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Covid-19 hat zu nie dagewesenen Beschränkungen des täglichen Lebens seit 1945 geführt, Freiheitsrechte der Menschen wurden eingeschränkt, ebenso das wirtschaftliche Leben. Deutschland muss nun eine größere Krise bewältigen als die Finanzmarktkrise von 2008. Die Auswirkungen sind heute noch nicht absehbar. Gegen den so genannten Lockdown und die zahlreichen Beschränkungen wie dem Tragen von Masken gibt es immer häufiger Proteste, die Maßnahmen als zu übertrieben beurteilen oder diese sogar als unsinnig ablehnen.

David Rengeling, Historiker mit Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte, Weiterbildung insbesondere an einer medizinischen Hochschule, organisatorischer Verantwortung in wissenschaftlichen und öffentlichen Institutionen, hat sich in seiner Promotion mit der Geschichte der Influenza-Pandemien im 20. Jahrhundert befasst: Vom geduldigen Ausharren zur allumfassenden Prävention. Grippe-Pandemien im Spiel von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit, Nomos-Verlag 2017. Ein Schwerpunkt dabei war die sogenannte Hongkong-Grippe von 1968 bis 1970. Heute arbeitet Dr. David Rengeling im öffentlichen Dienst. Wir haben ihn zu Covid-19 befragt.

Was war der Anlass, Herr Rengeling, sich mit der Hongkong-Grippe zu beschäftigen?

David Rengeling: Das lag zuerst an meiner Master-Arbeit, die sich mit der Schweinegrippe-Pandemie von 2009/2010 befasste. Dabei fiel mir auf, dass die Risikowahrnehmung von Experten, wie die des Präsidenten des Robert Koch-Instituts, weit entfernt war von den Informationsbedürfnissen der Praktiker wie Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern. Die Risiken und Maßnahmen wurden meines Erachtens nicht deutlich dargestellt.

Sie haben sich dann genauer mit der Hongkong-Grippe von 1968-1970 beschäftigt.

David Rengeling: Ja. Die Politik ignorierte die Pandemie damals weitgehend. Sie meinte sogar, dass es gar keine Pandemie geben würde. Es wurden 200 Todesfälle durch Tests nachgewiesen. Das Staatliche Medizinaluntersuchungsamt in Hannover und Ärzte verwiesen aber darauf, dass diese Nachweise wenig stichhaltig sind und die Übersterblichkeit (die über den statistisch normalen Sterblichkeitsverlauf hinausgehende Zahl von Toten), die viel aussagekräftigere sei. Das bedeutete, dass in West- und Ostdeutschland damals Zehntausende von Menschen ums Leben kamen, vermutlich um die 50.000.

Die Pandemie wurde also von den Behörden verharmlost. Übrigens nahm die DDR die Pandemie wesentlich ernster, allerdings fehlten ihr die Kapazitäten, um ausreichend Impfstoffe und Medikamente bereitzustellen. Die Covid-19-Todesfälle werden aktuell vor allem durch Labornachweis und epidemiologischer Bestätigung, also z.B. Nachweis des Kontaktes zu einem Corona-Erkrankten, beziffert. Heute werden viel umfangreichere und fortschrittlichere Labortests vorgenommen als 1968 bis 1970. Eine Pandemie löst heute zudem einen deutlich größeren Alarmzustand aus.

Welche Konsequenzen gab es aufgrund der zahlreichen Toten durch die Hongkong-Grippe?

David Rengeling: In Westdeutschland gab es fast keine Konsequenzen. Es wurde lediglich ein Überwachungssystem aufgebaut, um Influenza-Fälle besser nachvollziehen zu können. Auch hier wurden in der DDR umfangreichere Maßnahmen erlassen, damals schon eine Art Pandemieplan, der in der Bundesrepublik in dieser Form erst 2005 vorgestellt wurde; und es sollten ausreichend Impfstoffe zur Verfügung gestellt werden, um zukünftig eine Herdenimmunität zu erreichen.

Wie reagierten andere Länder?

David Rengeling: In den USA fand 1976/1977 aufgrund eines neuen Virusfundes eine Impfkampagne statt, die in ihren Ausmaßen vermutlich bisher nie übertroffen wurde. Die USA nahm an, dass die 1976 neu aufgetretene Virusvariante vom Typ H1N1 mit der Spanischen Grippe verwandt sei, daher wurden 150 Millionen Impfungen durchgeführt. Dies kann man zweifelsohne eine "allumfassende Prävention" nennen. Hintergrund war, dass die USA durch die Spanische Grippe nach dem Ersten Weltkrieg etwa 675.000 Tote zu beklagen hatte. Dieses Ereignis hat sich tief in das kulturelle Gedächtnis der USA eingeprägt.

"Die westdeutsche Regierung sah die Influenza für Jahrzehnte nicht als Problem an"

In den vergangenen 50 Jahren gab es immer wieder saisonale Grippewellen, die alleine in Deutschland Tausende von Menschenleben gekostet haben. 1995/1996 sollen es fast 30.000 gewesen sein, in der Grippe-Saison 2017/2018 etwa 25.000, bei den europäischen Nachbarn zum Teil sogar noch mehr. Von diesen Grippewellen haben wir kaum etwas in den Medien gehört, die Politik hat nicht reagiert, zumindest ist davon öffentlich wenig bemerkt worden. Was waren die Gründe aus Ihrer Sicht?

David Rengeling: Die westdeutsche Regierung sah die Influenza für Jahrzehnte nicht als Problem an, weil die Katastrophe der Spanischen Grippe durch den verlorenen Krieg, die Revolution von 1918 und Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg nicht im Gedächtnis der Menschen verankert war. Daher zog man keine Vergleiche bei den Pandemien von 1957 und 1968 zur Spanischen Grippe.

Das änderte sich erst ab den 2000er Jahren: Die Grippe wurde weltweit als ein Großschadensereignis betrachtet. Man erwartete unter Umständen viele Millionen Todesopfer. Daher wurde 2005 auch ein neuer Pandemie-Plan veröffentlicht. Seitdem wird Influenza stärker beobachtet und digitale Systeme eingeführt, um influenzaähnliche Erkrankungen zu erfassen. Vor allem wird die jährliche Grippe-Impfung angeboten, um Menschen besser vor Grippe-Viren zu schützen. Allerdings lassen sich immer noch zu wenige Menschen über 60 Jahre impfen, und auch zu wenige der chronisch Kranken.

Zwar ist die Zahl der Grippe-Toten im Vergleich zu den mehr als 230.000 Todesfällen durch Krebs und 48.000 durch Herzinfarkte nicht so groß, dennoch könnte man die Influenza-Toten weiter verringern. Bisher haben sich zum Glück Pandemie-Szenarien nicht bewahrheitet, dabei müsste man alleine in Deutschland mit mehreren hunderttausend Todesfällen rechnen. Letzten Endes gab es während der Schweinegrippe-Pandemie 2009/2010 ca. 250 Todesfälle in Deutschland, die mit der Pandemischen Influenza in Verbindung gebracht wurden. Warum Influenza-Viren so unterschiedliche Auswirkungen haben, hängt mit den in der Bevölkerung vorhandenen Immunität und bisher unbekannten Faktoren zusammen, die immer noch intensiv zu erforschen wären.

Fast täglich werden die Infizierten-Zahlen im Fernsehen genannt. Verängstigen diese Zahlen die Menschen nicht zu sehr, denn die meisten Infizierten sterben ja nicht? Gibt es also Mängel bei der medialen Berichterstattung?

David Rengeling: Influenza wird stärker wahrgenommen als früher. Auch die Medien haben Influenza als Thema entdeckt, was die Aufmerksamkeit natürlich erhöht. Und die Spanische Grippe ist mittlerweile mit ihren damals 50-100 Mio. geschätzten Todesopfern im Bewusstsein von Verantwortlichen verankert. Auch durch die SARS-Epidemien von 2002/2003 und MERS 2012 hat das Thema "Krankheitserreger Virus", hier allerdings das Corona-Virus, Aufmerksamkeit erfahren. 730.000 Tote werden derzeit (Stand 12. August) dem Covid-19-Erreger zugeordnet, das ist immer noch weniger als durch Influenza 1957 und 1968 und viel weniger als die geschätzten 3,5 Millionen Toten alleine durch Mobilität (Unfälle, Luftverschmutzung). Ein weiteres Beispiel wäre der Alkoholismus, der in alleine in Deutschland zu einer geschätzten Übersterblichkeit von 74.000 Fällen pro Jahr führt.

Die mediale Aufmerksamkeit ist sicherlich nie passend zu der Anzahl an Todesfällen, die wir durch bestimmte Risiken in Kauf nehmen müssen. Ebenso verhält sich das aber auch mit der individuellen Aufmerksamkeit: Ein einzelner Massenunfall auf einer Autobahn ist eben deutlich sichtbarer als die ca. 3.000 Verkehrstoten aus der Jahresstatistik.

"Zu viele 'Experten' äußern sich derzeit, die keine einschlägigen epidemiologischen Erfahrungen haben"

Was halten Sie von dem Vorwurf, die Maßnahmen seien übertrieben, man habe zu panisch gehandelt?

David Rengeling: Mir ist bekannt, dass selbst niedergelassene Ärzte Covid-19 unterschätzen. Nach Auswertung von medizinischen Zeitschriften zeigt sich, dass niedergelassene Ärzte nicht immer die epidemiologischen Auswirkungen von Viren im Auge haben. Sie denken an das Wohl ihrer Patienten, was richtig ist, verkennen aber womöglich die statistische Dimension einer Pandemie. Zu viele "Experten" äußern sich derzeit, die keine einschlägigen epidemiologischen Erfahrungen haben.

Und wie sehen Sie die Konsequenzen, auch die medizinischen?

David Rengeling: Wie viele Menschen aufgrund von verschobenen Behandlungen sterben werden, kann ich nicht beurteilen. Aber man sollte den Leidensdruck chronisch Kranker nicht unterschätzen, auch der pflegebedürftigen Personen, die durch die Beschränkungen sicher stärkerer Belastung und Isolation ausgesetzt sind. Hier müssen für die Zukunft bessere Pläne ausgearbeitet werden.

Gleichwohl mutet es seltsam an, wenn bei zirka 20 Millionen Infektionen weltweit zeitweise mehr als 2 Milliarden Arbeitnehmer durch Corona-Maßnahmen eingeschränkt wurden, was möglicherweise wenig durchdacht war und sicherlich schwere ökonomische Auswirkungen haben wird. In Deutschland trifft das Minijobber, die keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben, oder Studierende, Selbstständige, manche Mittelständler und natürlich Kleinstunternehmer.

"Alles mit Vorerkrankungen zu erklären, ist eine Unterschätzung des Potentials von Infektionskrankheiten"

Wir haben unterschiedlich betroffene Menschen, manche sind schwer erkrankt, andere weniger. Covid-19 zum Beispiel trifft eher alte Menschen. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, vor allem diese Menschen zu schützen und andere - wie in Schweden die Schulkinder - kaum Beschränkungen auszusetzen? Denn in Schweden sind ebenfalls ältere Menschen betroffen.

David Rengeling: Darüber muss in der Nachschau kritisch diskutiert werden, ob Fehler gemacht wurden. Wir müssen aber auch sehen, dass durch die Spanische Grippe vor allem die 20- bis 40-Jährigen gestorben sind, die damals nicht adipös waren, zu alt oder vorerkrankt. Die gängige Erklärung dafür ist, dass das Immunsystem junger Menschen kaum Kontakt zu Virusstämmen hatte und daher kaum vorbereitet war. Aggressive Krankheitserreger können eben auch junge Menschen in kurzer Zeit töten.

Alles mit Vorerkrankungen zu erklären, ist daher meines Erachtens eine Unterschätzung des Potentials von Infektionskrankheiten. Für die Zukunft ist es wichtig, mehrere Parameter zu untersuchen wie Vorerkrankungen oder Zigarettenrauchen, welche die Abwehr herabsetzen, und die Massentierhaltung , welche den Viren Tür und Tor öffnen können. Ein gangbarer Weg sollte in Zukunft auf jeden Fall die Impfung sein, die zwar keine hundertprozentige, aber eine gute Abwehr gegen Grippe- und auch andere Viren ist.

Viele Menschen haben Angst bezüglich der ökonomischen Zukunft. Manche Firmen werden sich erst in vielen Jahren erholen, andere vielleicht schon 2021. Wie sehen Sie diese Probleme?

David Rengeling: Die Corona-Pandemie zeigt eigentlich nur die Schwächen unserer Wirtschaft besonders deutlich. Da ist die Exportabhängigkeit der deutschen Industrie, unsere Schwäche in den Schlüsselindustrien wie der Digitalisierung, auch der Autoindustrie, nicht zuletzt ist die Vermögensungleichheit zu nennen sowie die Probleme der Integration von Zuwanderern.

Allerdings bin ich der Meinung, dass die Wirkmächtigkeit von Pandemien oder Seuchen überschätzt wird, zum Beispiel, dass ohne Spanische Grippe die Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg besser verlaufen wären. Denn Krankheiten verändern nicht grundsätzlich politische Entscheidungen, Zwänge oder Notwendigkeiten. Gesellschaftliche Entwicklungen unterliegen zumeist einer sehr großen Komplexität von Millionen von Einzelentscheidungen und unvorhersehbarer Ereignisse.

Könnte es aus Ihrer Sicht einen Wendpunkt geben, wo die Corona-Maßnahmen mehr Schaden als Nutzen anrichten?

David Rengeling: Das vermag ich jetzt nicht zu sagen. Falls die Wirtschaft so sehr beeinträchtigt würde, dass die Versorgung der Kranken und lebenswichtiger Infrastruktur ernsthaft gefährdet sein würde, die Lebensmittelversorgung sowie die Wirtschaft noch viel deutlicher einbrechen würde als zurzeit, dann könnte es unvermeidbar sein, die Beschränkungen aufzuheben oder die Maßnahmen ganz anders aufzustellen. Aber so weit sind wir noch nicht, wenngleich der deutliche Rückgang des Bruttoinlandsprodukts eine schwere Last ist.

Was müssen wir in der Rückschau von Covid-19 für Konsequenzen ziehen?

David Rengeling: Wichtig wäre genauer zu definieren, wann eine Pandemie beginnt und wann sie endet, wann also der Krisenmodus vorbei ist. Auch muss genau erforscht werden, wie die Risikoeinschätzung zur Corona-Pandemie entstanden ist, welche Akteure beteiligt waren, welche Modelle, Szenarien, Vergleichswerte herangezogen wurden, auch welche negative oder positive Rolle die Medien gespielt haben, insbesondere Medien wie Twitter, Facebook, die kaum einer Kontrolle unterliegen. Auch sollte überlegt werden, wie man die Bevölkerung bei Entscheidungen einbeziehen kann.

Ferner: War die Risikoeinschätzung im Vergleich zu anderen (globalen) Risiken verhältnismäßig, wurde womöglich dramatisiert? Und wurde der nationale Pandemieplan zur Bewertung der Risiken herangezogen und war dieser Vergleich verhältnismäßig? Welche Maßnahmen waren sinnvoll, welche nicht? Welche Menschen sind besonders vom Virus betroffen gewesen, nur ältere, vorerkrankte, und warum erkranken manche schwerer als andere? Weshalb sind manche Länder stärker infiziert worden? Und schließlich: Wie müsste in Zukunft ein Pandemieplan aussehen, der möglichst viele Leben schützt bei einer gleichzeitigen Minimalisierung sozial-ökonomischer Folgen?

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