Die Wissenschaft des Glücks: Verbundenheit oder Vermögen?

Andreas von Westphalen
Zwei Hände halten fürsorglich eine Hand

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Welche Auswirkungen hat unsere Lebenseinstellung auf Gesundheit und Wohlbefinden, wenn wir unsere Mitmenschen ins Zentrum unserer Lebensführung stellen?

Die Ergebnisse zahlloser wissenschaftlicher Studien offenbaren, dass eine materialistische Lebenseinstellung, wie sie gemeinhin im Kapitalismus als selbstverständlich vorausgesetzt wird, für Gesundheit und Wohlbefinden katastrophale Folgen hat.

Daher drängt sich die Frage auf, ob eine Lebenseinstellung, die der materialistischen entgegengestellt ist und die Mitmenschen ins Zentrum des eigenen Lebens nimmt, positiv auf Gesundheit und Wohlbefinden wirkt. Sollte solch eine Einstellung vielleicht sogar von jedem Arzt dringend empfohlen werden, der seine Patienten möglichst selten sehen möchte.

Eine der wichtigsten Langzeitstudien der Geschichte

Im Jahr 1938 begann die "Harvard Study of Adult Development", die bis zum heutigen Tag fortgesetzt wird. Anfangs wurden 268 Studenten aus Harvard untersucht. Parallel dazu lief eine Studie mit einer zweiten Gruppe, die 456 Menschen aus sozial schwachen Gegenden in Boston umfasste.

Inzwischen ist auch eine dritte Generation Gegenstand der Untersuchung. Die Wissenschaftler nahmen und nehmen regelmäßig zahllose medizinische Untersuchungen der Probanden vor und führen alle zwei Jahre ausgesprochen ausführliche Interviews durch: Welche Faktoren bedingen eine gute Gesundheit, hohe Lebenserwartung und Wohlbefinden?

Das Ergebnis nach 84 Jahren Forschung, gleichsam ein Zwischenstand dieser Langzeitstudie, führen Robert Waldinger, Leiter der Studie, und sein Stellvertreter Marc Schulz in der Einleitung ihres Buches "The Good Life" aus:

"In all den Jahren der Studie hat sich ein Faktor als absolut entscheidend für die körperliche Gesundheit, die psychische Gesundheit und die Lebensdauer erwiesen. Und dieser Faktor ist im Gegensatz zu dem, was wahrscheinlich viele Menschen glauben, nicht der berufliche Erfolg, die regelmäßige Bewegung oder die gesunde Ernährung.

Damit wir uns nicht missverstehen: Diese Dinge sind wichtig, sogar sehr wichtig. Doch eines ist noch wichtiger: erfüllende Beziehungen. Gute, erfüllende Beziehungen sind sogar so wichtig, dass wir die gesamten 84 Studienjahre auf dieses eine Lebensprinzip (…) eindampfen könnten, wenn wir müssten."

Ein weiteres zu einem Klassiker avanciertes Experiment belegt eine besondere Wirkung wichtiger sozialer Beziehungen. Das wissenschaftliche Team rund um Sheldon Cohen setzte die Probanden mit Hilfe eines Nasensprays dafür gezielt Erkältungsviren (https://people.stat.sc.edu/hansont/stat770/CohenEtAl.pdf aus.

Das Erstaunliche: Menschen, die ein enges Verhältnis zu Familie, Freunden und Arbeitskollegen hatten, also ein hohes an Maß sozialer Verbundenheit, zeigten ein deutlich besseres Immunsystem und erkrankten seltener an einer Erkältung, produzierten weniger Nasenschleim und schieden weniger Viren aus.

Heilende Verbundenheit und Großzügigkeit, die gut tut

Die kanadische Psychologin Elizabeth Dunn führte ein inzwischen klassisches Experiment über die Auswirkung von Großzügigkeit auf unser Wohlbefinden (https://www.researchgate.net/profile/Lara-Aknin-2/publication/5494996_Spending_Money_on_Others_Promotes_Happiness/links/0c960536bc4c368a69000000/Spending-Money-on-Others-Promotes-Happiness.pdf durch. Sie machte 632 repräsentativ ausgewählten US-Amerikanern ein unverhofftes Geldgeschenk.

Die eine Hälfte musste das Geld noch am selben Tag für eigene Wünsche verwenden. Die andere Hälfte hatte die Aufgabe, das Geld am selben Tag für andere Menschen auszugeben. Am Abend wurden die Testpersonen nach ihrem Wohlbefinden gefragt. Entgegen den Annahmen der klassischen Wirtschaftswissenschaften waren Menschen, die mit dem geschenkten Geld anderen eine Freude gemacht haben, abends in besserer Stimmung als diejenigen, die sich selbst etwas Gutes tun durften.

Ein sprechender Vergleich zwischen materialistischer und prosozialer Lebenseinstellung.

Blick ins Rattenparadies

Einen besonders faszinierenden Einblick in die Bedeutung sozialer Beziehungen ergibt erstaunlicherweise ein klassisches Experiment mit Ratten. In den 1970er Jahre führte ein Team um den Psychologen Bruce Alexander an der Universität Vancouver eine Experimenten-Reihe durch, um die Natur von Drogensucht besser zu begreifen.

Zu diesem Zeitpunkt hatten Forscher bereits bewiesen, dass Ratten, die allein in einen Käfig gesetzt wurden, und denen zwei Wasserflaschen angeboten wurden – eine mit Wasser, die andere mit Heroin oder Kokain –, sich den Drogen zuwandten, bis sie schließlich an einer Überdosis starben. Alexander fragte sich, ob die Abhängigkeit an der Natur des Tieres beziehungsweise der Droge lag, oder an der Tatsache, dass die Ratte allein – entgegen ihrer Natur – in einem geschlossenen Käfig gefangen leben musste.

Daher überprüfte er diese Frage, indem er einen Rattenpark baute, der gleichsam einem Paradies für die Tiere glich, wo Tiere miteinander leben, spielen, essen und Sex haben konnten. Zu diesem Rattenparadies gehörten auch wieder die beiden Flaschen: mit Wasser und Drogen. Das Resultat? Die Tiere probierten neugierig auch die Drogen, interessierten sich aber kaum dafür und kein Tier wurde abhängig. Drogen waren offenbar eine Antwort auf Einsamkeit.

Heroin nur in Vietnam

Vermag dieses Experiment auch etwas über die Natur des Menschen auszusagen? Ein Blick auf den Vietnam-Krieg gab die Antwort: Während des Krieges war der Drogenkonsum unter den US-amerikanischen Soldaten extrem hoch. Jeder Dritte hatte Heroin probiert und jeder Fünfte war heroinabhängig.

Deshalb erwartete man am Ende des Krieges ein massives Drogenproblem auf den Straßen der USA. Tatsächlich aber hatte ein Großteil der heimkehrenden US-amerikanischen Soldaten des Vietnam-Kriegs überhaupt kein Problem, in der Heimat auf Heroin zu verzichten. Der Publizist Johann Hari kommt in seinem Buch über Drogensucht daher zum Schluss: "Das Gegenteil von Sucht ist nicht Nüchternheit. Das Gegenteil von Sucht ist Verbundenheit."

Aktivität der Risikogene einschränken

Die sogenannten Risikogene sind ein bedeutender Faktor der schädlichen Wirkungen der materialistischen Lebenseinstellung auf Körper und Geist. Die naheliegende Vermutung, dass eine Lebenseinstellung, die von der Suche nach Lebenssinn, Verbundenheit und Dankbarkeit geleitet wird, die Aktivität von Risikogenen vermindert und Wohlbefinden und Gesundheit steigert, lässt sich inzwischen wissenschaftlich belegen.

Die positiven Auswirkungen von sozialer Verbundenheit, prosozialem Verhalten, kurz einer Lebenseinstellung, die den Mitmenschen ins Zentrum rückt, hat - wissenschaftlich belegt - positive Auswirkungen auf Gesundheit, Lebenserwartung und Wohlbefinden, die so zahlreich und vielschichtig sind, das hier nur eine kurze Auswahl präsentiert werden kann:

Zusammenfassen kann man all diese wissenschaftlichen Erkenntnisse mit den Worten von Johann Hari: "Je mehr Sie glauben, dass Glück eine soziale Angelegenheit ist, desto besser geht es Ihnen."

Fazit

All die wissenschaftlichen Studien kommen in ihrer Einschätzung, welche Lebenseinstellung und welches Verhalten gesundheitsfördernd und lebensverlängernd wirkt und das Wohlbefinden steigert, zu einem eindeutigen Ergebnis.

Ebenso eindeutig ist leider auch die Schlussfolgerung, dass unsere Gesellschaft und Wirtschaft auf eine destruktive und ungesunde Lebenseinstellung aufsetzt und entsprechendes Verhalten fördert und fordert, das unsere Gesundheit gefährdet, unser Leben verkürzt und nicht zuletzt auch negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden hat.

Die Publizistin Celeste Headlee warnt:

"Im Grunde genommen arbeiten wir uns aus dem Glück und dem Wohlbefinden heraus. Wir haben das Gleichgewicht zwischen dem Streben nach Verbesserung und dem Gefühl der Dankbarkeit für das, was wir haben, verloren. Wir haben den Kontakt zu den Dingen verloren, die unser Leben wirklich bereichern und uns ein Gefühl der Zufriedenheit vermitteln. (…)

Wir graben uns immer tiefer in ein Loch, das uns schließlich begraben wird, wenn wir nicht aufhören. Der Einsatz könnte nicht höher sein. Es geht um den Verlust unserer eigenen Menschlichkeit."

Es ist schon erstaunlich. Ein Großteil der Menschen in den Industriegesellschaften ist überzeugt davon, dass eine materialistische Lebenseinstellung ebenso natürlich wie der Kapitalismus selbstverständlich ist. So wählen diese Menschen eine Wirtschaftsform und damit einhergehend auch eine Gesellschaftsform, die in jeder Hinsicht zutiefst ungesund ist.

Obwohl die Ergebnisse eine ebenso klare Sprache sprechen wie Studien über die Schäden durch Rauchen, Alkohol oder fehlende Bewegung, werden keinerlei Konsequenzen gezogen. Im Gegenteil. Clever ist das nicht, denn die Kulturhistorikerin Riane Eisler hat Recht: "Wirtschaftssysteme werden von Menschen geschaffen. Sie ändern sich und können geändert werden." Wäre es unsere Gesundheit, Lebenserwartung und unser Wohlbefinden entsprechende Änderungen nicht wert?