Die Zweierbeziehung im Kapitalismus

Seite 2: Übergriffigkeit

Wenn die Partner die darüber einsetzende Ernüchterung und Enttäuschung weder ihrer materiellen Lage noch dem falschen kompensatorischen Anspruch zur Last legen, sondern wechselweise sich selbst, liegt der Übergang nahe, dem anderen die Vernachlässigung oder Verweigerung seiner Liebespflichten vorzuwerfen und das als moralischen Rechtsbruch zu ahnden. Die Berechtigung dazu lässt sich aus einem Pool ideologischer Titel unschwer herausfischen, also biologisch, psychisch, historisch oder ökonomisch illustrieren.

Wo der Mann die Rolle des Häuptlings beansprucht und sich als Anhänger des "Patriarchats" zu erkennen gibt, entspricht das einem Bild, benennt aber nicht den Grund seines Verhaltens. Für sich genommen folgt nichts daraus, der Hauptverdiener oder der körperlich Überlegene zu sein. Um zu den moralischen Schuldzuweisungen und den sie ahndenden Übergriffen fortzuschreiten, braucht es die beschriebenen Übergänge.

Dabei ist eine männliche Asymmetrie nicht zu übersehen. Aber auch Frauen wissen, welches Verhaltensrepertoire und welche Metaphern der Ungehörigkeit, der Schuld und des Versagens dem Geliebten von einst gegenüber ins Schwarze treffen. Über die Partnerschaft hinaus kann sich das beanspruchte Recht auf die in Rede stehenden "Liebespflichten" auf weitere Personen erstrecken, gänzlich fremde eingeschlossen, und überwiegend in männlicher Dominanz, die von der sexistischen Anmache bis zur unmittelbaren Gewalt reicht.

Noch einmal: Dieses Erzwingen von Dienstbarkeit daheim und auswärts zeugt sehr gegenteilig zu dem, was landläufig darüber gesagt wird, nicht von einem Mangel an Moralität, sondern von einem Überschuss an derselben.

Homophobie

Das "Unbehagen der Geschlechter" betrifft auch einen Bereich, der eher vermittelt daraus hervorgeht, dass der Staat die Familie als seine Keimzelle betrachtet und von ihr die Reproduktion der Bevölkerung und des Arbeitsvermögens erwartet. Daraus ging das Abtreibungsverbot des § 218 StGB hervor, der nicht abgeschafft, sondern nach dem Anschluss der DDR de facto straffrei gestellt ist (und in seiner polnischen Fassung eine Renaissance erlebt).

Daraus ergab und ergibt sich auch die Grundlage für die – modern "heteronormativ" genannte – staatliche und öffentliche Geschlechtsmoral. Gleichgeschlechtlich orientierte Menschen und Paare traf und trifft der Vorwurf, sich der Normalität dieser Pflicht entziehen zu wollen, obwohl sie doch nur einer privaten und individuellen Regung nachgehen.

Mit dem §175 StGB stellte der bürgerliche Staat deutscher Prägung dies als sittliche Abweichung bei den Männern unter Strafe, befestigte damit aber zugleich die geschlechterübergreifende Übersetzung solcher Neigungen in die "krankhafte" und verachtenswerte Eigenschaft der Betroffenen.

Deshalb taugen die Bezeichnungen "Schwuler" und "Lesbe" auch 26 Jahre nach Abschaffung des Paragrafen noch immer zur Beleidigung und Herabsetzung.

Ob Beschädigungen darüber hinaus mit der vergangenen Kriminalisierung und gebliebenen Stigmatisierung verbunden sind, hängt – wie auch bei "der Frau" – sehr vom sozialen Status ab. Die Populisten z.B. in Osteuropa regieren überdies eine neue Aktualität der Homophobie herbei, die auch in der liberalen BRD noch "gesellschaftlich verankert" (SZ) ist.

Es dürfte klar sein, dass sich in diesem vermittelten Bereich ebenfalls die Quelle der Diskriminierung von Trans- und Intersexuellen findet, auch wenn die historisch in Deutschland nicht strafbewehrt, sondern "pathologisierend" erfolgte1.

"Tradition"

Der im ersten Teil einleitend zitierte Vorbehalt, "die patriarchale Geschlechterordnung (sei) mit politökonomischen Kategorien nicht zu erfassen", ist also eine methodische Vorschrift, die der sog. Frauenfrage eine psycho-analytische Scheinerklärung eröffnet. Ähnliches gilt auch für den verbreiteten Rückgriff auf die Historie des Patriarchats. Die Tradition der toten Geschlechter, die wie ein Albtraum auf den Hirnen der Lebenden lastet2, mag ihren Teil zu den sittlichen Frauen- und Männerbildern und ihren Folgen beigetragen haben.

Man geht auch nicht fehl, wenn man diesen bösen Spuk in unserem Kulturkreis anteilig dem Christentum zurechnet, das seinen heteronormativen Moralismus zuerst in eigener Machtvollkommenheit und später in Abhängigkeit vom bürgerlichen Staat etablieren konnte. Es wäre aber falsch, bei den tradierten Vorurteilen zu übersehen, wie sehr sie sich wegen der gegebenen Verhältnisse, also durch willentliches, gegenwärtiges Handeln erneuern bzw. modifizieren.

In diesem Sinn schickt Marx dem zitierten Satz voraus, dass die Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber nicht unter selbstgewählten, sondern unter vorgefundenen Umständen3.

Ideologische Urteile gibt es, sie können auch ihre historischen Voraussetzungen überdauern, sie aber modern als "kontingente" Hinterlassenschaften gestriger oder ewiggestriger "Narrative" zu betrachten, behauptet, dass nicht die Menschen, sondern die Geschichten die Geschichte machen. Es sind mächtige Interessen, die ihre Selbstgewissheiten praktisch ins Werk setzen, also bewahrheiten können. Deswegen sind die herrschenden Ideen die Ideen der Herrschenden4, die sich leider nicht durch neue "Episteme" verscheuchen lassen.

"Paradigmenwechsel"

Bevor nun die Auslegungen besprochen werden, wie sie die Frauen- bzw. Gender-Bewegungen der beschriebenen "Basis" und ihrem "Überbau" zugedacht haben, noch eine zusammenfassende Bemerkung. Wo immer die Staatsgewalt – sei sie dazu gedrängt worden, sei es aus ihren Gründen – Änderungen im wirtschaftlichen, politischen oder gesellschaftlichen Gefüge vornimmt, wird das in der öffentlichen Meinung als "Paradigmenwechsel" wahrgenommen.

Die rechtliche Gleichstellung der Frau hat ihr nicht nur neue Konkurrenzbedingungen eröffnet, sondern zugleich das überkommene Rollenbild deutlich verändert. Die Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen hat auch Menschen aus diesem Personenkreis ministrabel gemacht. Auch das BVerfG-Urteil zur Intersexualität ist Bestandteil der Anerkennung von Rechten sexueller Minderheiten, die sich in den letzten 20 Jahren vollzogen und z.B. zur "Ehe für alle" geführt hat.

Überhaupt hat die demokratisch verfasste Marktwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg und dann nach 1945 ein paar Konfrontationen bereinigt, durch die sie bei Teilen ihrer Bevölkerung die politische oder gesellschaftliche Teilhabe eingeschränkt, private Verhaltensweisen sanktioniert und damit Streitfälle eröffnet hat, die vom Standpunkt des später erreichten öffentlichen Friedens als unnötig und daher verfehlt erschienen.

Nach den Leistungen der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts war die Frauenbewegung in einen weiteren sozialen und politischen Konfliktfall eingemischt. Als die Frauen dann gleichberechtigt aktiv und passiv wählen durften und die damit geforderte gesellschaftliche Anerkennung verankert war, wählten sie ungefähr so wie die Männer.

Die Verbesserung der sozialen Lage, die nicht vom Geschlecht, sondern von den Erwerbsmitteln abhängt, hat sich daher bis zum heutigen Gender Pay Gap als politisches Dauerprojekt erwiesen.

Bei Menschen beiderlei Geschlechts, die nicht der heterosexuellen Staatsmoral entsprachen, merkte der Gesetzgeber mit Verzögerungen ebenfalls, dass sie ansonsten ganz brauchbare Bürger waren. Das führte neben der eingeforderten und gewährten, aber kostenneutralen Anerkennung zu einer zunehmenden Gleichberechtigung und affizierte die Hierarchie der Berufe vornehmlich in der oberen Hälfte.

Auch das Phänomen Alice Weidel – gleichgeschlechtlich verbandelt mit einer Person of Color und an der Spitze einer Partei zur Rettung der abendländischen Familie – gehört hierher. Und wenn jetzt sogar Bundesbehörden, diesmal ohne größeren Druck, gelernt haben, "nicht nur Männer und Frauen anzusprechen, sondern auch diejenigen, die sich in diesem Schema nicht wiederfinden können"5, dann liegen in Asterisk, Unterstrich oder Doppelpunkt die passenden Sonderzeichen für diese zeitgemäße Komplettierung der Würdigung des bürgerlichen Individuums vor. Dem kann sich auch die bürgerliche FAZ nicht verschließen:

Die Gesellschaft insgesamt (...) muss anerkennen, dass es mehr gibt auf der Welt als nur Männer und Frauen und dass diese Einsicht eine soziale und kulturelle Bereicherung darstellt und keine Bedrohung.

Es soll bei solcher Hochstimmung aber nicht vergessen werden, dass die staatliche Gewalt – und nicht die "Gesellschaft insgesamt" – über die Gültigkeit der "Paradigmen" und ihre Auswechslung entscheidet. (Dazu auch die Schlussbetrachtung im fünften Teil.)

Die öffentliche Anerkennung und Aufwertung, die der Feminismus wie die Gender-Bewegung erfahren haben, sowie die Rolle, die vor allem Letzterer im links-alternativen und universitären Leben zukommt, und auch der Streit darum, sollen als Gründe dafür reichen, dass sich die beiden folgenden Abschnitte nun Gegenständen zuwenden, die sich vom Alltagsleben der meisten Frauen zunehmend entfernen.

Lesen Sie daher im dritten Teil: Die Auslegung der Sache durch den Feminismus – Die Frauen als diskriminiertes Kollektiv.

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