Die auditive Wende
Auf der Tagung "Hörstürze" ging es um akustische Gewalt
Im Zuge der industriellen Moderne wurde der Mensch auditiv so überfordert, dass der Hörsturz - dem Duden zufolge eine plötzliche, meist einseitig auftretende Hörverschlechterung, die bis zur akuten Ertaubung führen kann - zur Zivilisationskrankheit avanciert ist. Eine Entwicklung, die Grund genug ist, um den Titel einer wissenschaftlichen Tagung rund um das Thema Ohr zu stiften. Das finden jedenfalls Nicola Gess, Florian Schreiner und Manuela Schulz, die Organisatoren von Hörstürze.
Eine Treppe führt hinauf. Als sich die Tür automatisch schließt, überkommt einen schnell das Gefühl von Klaustrophobie. Nichts ist zu hören, nicht mal die Bewegung der Luft. Alles steht still, kein Echo. Man hört auch seine eigenen Schritte nicht. Zur Klaustrophobie gesellt sich bald die Orientierungslosigkeit. Es ist, als würde man langsam aber sicher sein Körpergleichgewicht verlieren.
Gut, dass ein Stuhl zur Hand ist. Er ist, neben ein paar Lautsprechern, der einzige Gegenstand im ansonsten vollkommen leeren Raum. Sobald man sich hinsetzt, beginnt Seiko Mikamis Hightech-Apparatur zu arbeiten.
Auditive Kompetenz
World, Membrane and the Dismembered Body, eine Installation, die erstmals am 18.04.1997 bei der Eröffnung des ICC in Tokio zu erleben war, hatte zum Ziel, die Aufmerksamkeit des Ausstellungsbesuchers auf sein Ohr zu lenken. Ein Organ, das laut Mikami gegenüber dem Auge sträflich vernachlässigt wird und aus diesem Grund in ihrer Versuchsanordnung zur Schnittstelle erhoben wurde: Die Geräusche innerhalb des Körpers wurden über diese Schnittstelle mit den resultierenden Bewegungen innerhalb des echofreien Raumes in Beziehung zu einander gesetzt. Man sollte das Gefühl bekommen, sich in einem riesigen Ohr aufzuhalten. Die Komplexität der auditiven Wahrnehmung wurde via Projektionen räumlich veranschaulicht.
Was manch einen Besucher schlichtweg überforderte und teilweise sogar paranoide Fluchtreaktionen verursachte, ist auch für die Problematik der Tagung "Hörstürze" ausschlaggebend gewesen. Die Ausgangsthese der Organisatoren besagt, dass die Dominanz des Sehsinns im abendländischen Erkenntnisprozess unhinterfragt immer weiter fortgeschrieben werde. Gleichzeitig lasse sich in den letzten Jahrzehnten die Tendenz beobachten, "die Sphäre der auditiven Wahrnehmung zum esoterischen Gegenpol der modernen Welt [...] zu stilisieren".
Gerade diese defensiv-isolationistische Tendenz lässt es plausibel erscheinen, dass der Gewaltdiskurs als Grundlage für die "Hörstürze"-Tagung diente. Innerhalb dieser Tendenz wird schließlich besonders vehement ausgeblendet, dass Gewalt heutzutage nicht nur visuell, sondern auch auditiv codiert ist. Folglich fragte man: Wie wird Gewalt eigentlich akustisch vermittelt?
Wer nicht hören will, muss fühlen
Das Spektrum der Tagung war, ganz im Geiste interdisziplinärer Forschung, sehr breit angelegt. Die ReferentInnen hatte man zwischen Iowa City und Rostock rekrutiert, mit Kompetenzen, die vermutlich genauso divergent wie ihre Herkunft ausgerichtet waren: Politikwissenschaftler, Klangarchitekten und Juristen trafen an zwei aufeinander folgenden Tagen im Grünen Salon der Volksbühne aufeinander und sprachen über so unterschiedliche Themen wie "Das Ohr als Einbruchstelle des Traumas" oder die "Verschränkung von Gewalt, Musik und Medien in Salman Rushdies 'The ground beneath their feet'".
Physiologisch gesehen ist der Hörsinn besonders anfällig für Gewalterfahrungen, denn das Ohr ist - im Vergleich zum Auge - extrem sensibel, weitreichend und lässt sich nicht verschließen. Es fungiert deshalb auch als körperliches Frühwarnsystem für Gefahr. Über Geräusche lässt sich einerseits Furcht erzeugen, andererseits affizieren akustische Phänomene den Körper des Hörers unmittelbar, da die Schallwellen nicht nur das Ohr, sondern auch den Körper selbst als Resonanzraum zu penetrieren vermögen.
Begriffen wurde auditive Gewalt in erster Linie als eine Frage von unerträglicher Lautstärke. Doch gab es auch vereinzelte Ansätze, die an die Fragestellung aus einem anderen Blickwinkel herangingen. So zum Beispiel Claudia Benthien, die in ihrem Vortrag "Eisiges Schweigen, stummes Gedenken" Schweigen und Stille, also den Entzug des Akustischen, als auditive Gewalt reflektierte. Ihre These, die sie anhand von Beispielen anschaulich machte (darunter Ingmar Bergmanns "Das Schweigen"), sah sie nicht zuletzt durch den populären Sprachgebrauch bestätigt, etwa in der Rede von der "Ruhe vor dem Sturm" oder dem Herrschen andächtiger Stille.
Nachtigallen, die schmerzen
Etwas früher hatte Wolfgang Müller, Gründungsmitglied der Tödlichen Doris, auf die gewalttätige Wirkung von Nachtigallen hingewiesen und damit eine Ausgangsthese der meisten Beiträge grundsätzlich in Frage gestellt: Nämlich ob nicht bereits vor der industriellen Moderne akustische Gewalt einen Ausdruck hatte. Fragen wie diese waren es, die die "Hörstürze"-Tagung erst richtig interessant machten, weil sie wiederum weitere und weiterreichendere Fragen auslösten und zum Nachdenken über das dort dargebotene Thema einluden.
Als Florian Schreiner in einer Diskussion am Rande einwarf, dass akustische Gewalt dann neu gedacht werden muss, wenn die Schmerzgrenze für das menschliche Ohr erreicht ist, wurde deutlich, dass es nicht reicht, auditive Gewalt als ein rein auditives Phänomen zu begreifen: Denn wenn das Ohr aus Schmerzgründen aussetzt, werden die anderen Sinne Entladungen der Gewalt ausgesetzt. Ein Film wie "Blue Velvet" (David Lynch, 1986) hat sehr deutlich aufgezeigt, wie das System der Sinne in dieser Hinsicht zusammenhängt.
Man mag "Blue Velvet" auch einen Film über die Beziehung zwischen dem Sehen, dem Hören und dem Schmecken nennen; oder einen Film über die Beziehung zwischen dem Auge, dem Ohr und dem Mund. Wie wir aus den vorherigen Filmen Lynchs wissen, ist das Ohr das archaischere und ungeschütztere Organ als das Auge; vom Ohr über das Auge zum Mund geht die Reise, eine Bewegung der Zivilisation und des Verlustes.
Georg Seesslen
Ein Vortrag wie Susanne Baers "Lauschangriff. Akustische Kontrollen im Sicherheitsstaat" machte wiederum deutlich, dass das Ohr nicht nur als ein rein passives, sondern auch als ein invasives, Gewalt ausübendes Organ gedacht werden kann. Und vermutlich auch gedacht werden muss.