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Die deutsche Mondlandung

Werbeprospekt "Die Olympia-Sonnenbrillen", Metzler international, 1972; © Münchner Stadtmuseum

Die heiteren Spiele und die weiteren Spiele: Die Münchner Olympiade 1972 war das wichtigste deutsche Nachkriegsereignis zwischen "Stunde Null" und Mauerfall

München, 26. August 1972, frühmorgens. In wenigen Stunden beginnt hier das größte Sportfest der Welt, ziehen unter diesem Dach Athleten von 122 Nationen ein.

BR, 26. 8. 1972

Heute vor 50 Jahren: Es war 15 Uhr, da ging es los. Das ZDF sendete bereits seit 10 Uhr morgens ununterbrochen Live-Bilder aus der bayerischen Landeshauptstadt, drei Stunden vor Beginn begann sich das neue Stadion zu füllen. Der Stadionsprecher Joachim "Blacky" Fuchsberger wendete sich bereits seit einer halben Stunde regelmäßig ans Publikum.

Mit ruhiger, getragener Stimme und gelegentlichen Scherzen, irgendwie zwischen Münchner Lässigkeit und getragenem deutschen Pathos sprach er die Menschen direkt an, legte ihnen nahe, "ab jetzt am besten nur noch zu lächeln", weil doch so viele Kameras im Stadion seien – worauf die Fernsehkameras einen lächelnden Bundeskanzler Willy Brandt in Nahaufnahme zeigten. Man kann das alles verfolgen, wenn man in den Mediatheken der Sender und den anderen Quellen das zahlreich Verfügbare alte Material der XX. Olympiade, von München 1972 anschaut.

Kameras überall

"Olympia 72" war nicht zuletzt auch ein Medien- und Designereignis: Kameras waren überall, und die Idee des damaligen BR-Fernsehchefs Robert Lemke, dass das Fernsehen 24/7 senden sollte war zukunftsweisend - noch in ihrer perversen Verkehrung, dass beim Terror-Anschlag am 5. September die Kameras nicht ausgingen, sondern alles Erdenkliche, sogar den ersten missglückten Befreiungsversuch der Polizei gedankenlos in Echtzeit übertrugen und damit die Geiselnehmer warnten - woran natürlich auch jene Schuld trugen, die vergaßen, den Terroristen den Strom abzustellen.

Das Zeltdach des Stadions, die schwungvolle Parklandschaft, die Piktogramme [1] Otl Aichers, der Weitsprung von Heide Rosendahl und der Hochsprung von Ulrike Meyfarth, der Speer von Klaus Wolfermann und das Finale der 100m- Frauenstaffel, die russische Turnerin Olga Korbut und der US-Schwimmer Mark Spitz. Aber auch die Musik von Kurt Edelhagens Big Band [2], die bunten Kostüme der Mitarbeiter, die vom Pariser Couturier André Courrèges [3] designed wurden und die blauweißen Minirock-Dirndl der Olympiahostessen, aber auch der Mann mit der Strumpfmaske auf dem Balkon der Conollystraße 31 - diese und viele andere Bilder haben sich eingeprägt in unser kollektives Gedächtnis, und es über ein halbes Jahrhundert nicht verlassen.

Zwischen den ersten zehn Tagen der "heiteren Spiele" mit ihrer universalen Fröhlichkeit und befreiten Lässigkeit und der bleiernen Leere der "weiteren Spiele" die noch fünf Tage andauerten, schwankt diese Erinnerung.

"München 72" war ein weltgeschichtlicher Augenblick, der in der kollektiven Erinnerung nicht nur der Bundesrepublik und der Welt tiefe Spuren hinterlassen hat – weit über die Tatsache hinaus, dass damals zum bislang letzten Mal auf deutschem Boden Olympische Spiele stattgefunden haben. Die Geschichte dieser Spiele wäre nicht vollständig, wenn man sie nur auf die gut zwei Wochen im Spätsommer 1972 beschränkte.

Es waren tatsächlich "die Spiele des Jahrhunderts", wie Roman Deininger und Uwe Ritzer ihr Buch genannt haben. Hier verdichteten sich in 17 Tagen die gesamten knapp 30 Jahre europäischer Nachkriegszeit zu einem Panorama aus Bilderspektakel, Selbstberauschung, guten Absichten und der Wiederkehr des Verdrängten.

Jahre der Befreiung

In diesen 26. August 1972 und eine Eröffnung [4], die über zwei Stunden dauerte und von über einer Milliarde Menschen damals rund ein Viertel der Menschheit – an den oft erstmals in bunten Farben leuchtenden Fernsehbildschirmen verfolgt wurde, mündete eine große gemeinsame Begeisterung, ein Projekt, das weit über ein Sportereignis hinausging.

Für Westdeutschland waren die zweiten Olympischen Sommerspiele auf deutschem Boden "das erste Weltereignis in der Bundesrepublik: München 72 bot die einmalige Chance, Westdeutschland als modernes und geläutertes Land zu präsentieren", so Markus Brauckmann und Gregor Schöllgen in ihrem Buch "München 72 - Ein deutscher Sommer".

"München 72" das war nichts weniger als ein weitere Stunde null, eine zweite Selbsterfindung Deutschlands. Plötzlich bot sich nach dem 2. Weltkrieg die Chance, "das moderne Deutschland vorzuzeigen", wie Brauckmann/Schöllgen schreiben. Für die Bundesbürger sei Olympia das gewesen, "was die Mondlandung für die Amerikaner war: ein Aufbruch in eine neue Zeit."

"münchen wird moderner" – Bau der Fußgängerzone zwischen Stachus und Marienplatz © Stadtarchiv München, DE-1992-FS-STR-136

Der neuen Zeit Gestalt geben

Vorausgegangen war eine Idee: Willi Daume, der deutsche Olympia-Politiker heckte sie aus, erkannte, dass 1966, als sich nach dem Mauerbau die Kulturrevolte von 1967/68 schon andeutete und die westlichen Gesellschaften sich allerorten modernisierten, die einmalige Chance gekommen war, andere Spiele zu veranstalten und der neuen Zeit Gestalt zu geben.

Er überzeugte Münchens jungen Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel. Als der in einer mehr als improvisierten Bewerbung die Spiele in seine Stadt holen konnte – mit der knappen Mehrheit von nur einer Stimme vor Montreal, das dann vier Jahre später zum Zuge kam –, begann ein beispielloses Modernisierungsprogramm [5].

Seine Köpfe waren neben Vogel selbst der Architekt Günther Behnisch [6], der Bauvisionär Frei Otto, der Designerstar Otl Aicher [7], der aus dem Umfeld der Widerstandsbewegung "Weiße Rose" kam. Für alle diese Gestalter der Spiele war der Gedanke zentral, dass sie ein Gegenmodell zum Nazi-Olympia 1936 in Berlin sein sollten – ohne den Referenzpunkt der Hitler-Spiele von Berlin ist das, was 1972 versucht wurde, nicht zu verstehen.

Symbolisch zeigte sich das nirgendwo so klar wie im Farbdesign Otl Aichers: Rot und Schwarz, die Farben der Diktaturen wurden vermieden, wie überhaupt Primärfarben. Stattdessen Pastelltöne: Hellblau, Wiesengrün, Orange, Sonnengelb. Auch die Architektur des Stadions drückt das aus: Keine Kampfarena für Gladiatoren, sondern ein offen in die Naturlandschaft eingefügter Treffpunkt aus natürlichen organischen Formen, ohne Härte und Schwere, Ecken und Kanten, stattdessen weich und offen.

Behnisch & Partner, Ideen- und Bauwettbewerb für die Bauten und Anlagen der XX.Olympischen Spiele München 1972, Modell M 1:1000, 1967 © Architekturmuseum der TUM

Mit dem neugebauten Olympiagelände einher ging eine Kulturrevolution, eine rasante Modernisierung und Veränderung der ganzen Stadt München, die in nur sechs Jahren von der sehr konservativen, ein bisschen Dumpfsinn, Schwabinger Bohème und Pseudogriechen-Pathos mischenden ehemaligen "Hauptstadt der Bewegung" zum modernsten Metropole in Deutschland wurde, zur "Weltstadt mit Herz".

Olympiastadion in München vom Olympiaturm; Bild (08/2018) [8]: GraphyArchy/CC BY-SA 4.0 [9]

Es waren auch sonst Jahre einer grundsätzlichen Befreiung. Breitenwirksame Zeichen dafür sind zum Beispiel die erste deutsche Ausgabe des Playboy, die im Sommer 72 herauskam. Oder dass Uschi Glas, einer der ersten weiblichen Filmstars jenseits das Industriekinos der 1950er, im Olympia Sommer Covergirl der "Bravo" war. Mit "Zur Sache Schätzchen" von 1968 wurde sie im Minikleid und mit schwarzem Wuschelkopf berühmt. "Zur Sache Schätzchen" schrieb deutsche Filmgeschichte und lockte sechseinhalb Millionen Zuschauer in die deutschen Kinos.

Vielleicht hat die Leichtigkeit dieser "Jet Generation" (Eckhard Schmidt) auch etwas zu tun mit der Olympiade und nicht umgekehrt. Vielleicht war dieser Blick der ganzen Welt auf München auch der Auslöser für einen inneren Wandel, der sich in den Filmen niederschlug. Jedenfalls sind diese sechs olympischen Jahre 1966 bis 1972 auch die beste Zeit des deutschen Films. Danach kam es zur "Tendenzwende" in jeder Hinsicht. Der Blick wendete sich von der Zukunft ab.

Die Grazie der Frauen

Später schloss sich auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) dieser Grundhaltung, ein Gegenstück zu 1936 zu bilden, an: In der sehr bezeichnenden Handlung, den offiziellen Olympiafilm, den es tatsächlich bereits seit 1912 gibt, erstmals einem Kollektiv anzuvertrauen: acht Regisseuren aus der ganzen Welt, alle Meister ihres Fachs, manche weltberühmt wie Arthur Penn ("Bonnie & Clyde") oder der Tscheche Milos Forman, der Franzose Claude Lelouch.

Aus Deutschland war Michael Pfleghar dabei, damals eine wichtige Stimme des Neuen Deutschen Films und aus München. Dies war in vieler Hinsicht auch ein Gegenstück zu dem so weltbekannten wie berüchtigten "Olympia"-Film von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. "Visions of Eight", der während der Olympiade entstand, ist ein Gemeinschaftsfilm, der genau durch seine Vielzahl mit einer Stimme spricht, nämlich mit der Stimme einer Generation. Alles ist geprägt von der Unschuld des Augenblicks.

Die stärkste und wichtigste Beitrag des Films stammt vom Deutschen Michael Pfleghar. Pfleghar erzählt von den Frauen der Spiele. Das scheint zu dem Regisseur der jungen Mädchen zu passen, der Pfleghar war. Die Frauen, nicht die Männer waren aber tatsächlich die Stars bei dieser Olympiade: Sie hießen Heide Rosendahl und Olga Korbut, Ulrike Meyfarth und Shane Gould, Ljudmilla Bragina und Heidi Schüller.

Bei Pfleghar sieht man die Körperlichkeit der Sportlerinnen, man erkennt sie aber auch als Personen. Ein Hauch der "heiteren Spiele" ist hier am stärksten spürbar. Manche der Frauen dürfen sexy aussehen, viele hübsch, alle schön.

Der Regisseur zeigt die jungen Frauen auch dabei, wie sie sich am Rande des Sportfelds schminken, kurz vor dem Wettkampf in den Spiegel schauen; er zeigt zugleich auf überaus humane Weise Anspannung und den Stress: Etwa bei Ulrike Meyfarth vor ihrem berühmten Hochsprung - das ist noch spannender zu sehen, weil man weiß, was kommen wird. Und dann das Siegerinnen-Gesicht der Heide Rosenthal nach ihrem Weitsprung.

Immer wieder aber die Konzentration vor dem Kampf. Auch Frauen kämpfen - auch das ist etwas, was man in diesen Gesichtern sieht, so wie Michael Pfleghar sie zeigt. Insofern ist dies ein emanzipatorischer Film - durch seine Bilder, nicht allerdings durch seine Musik, die gelegentlich an ein Platzkonzert erinnert.

Unbekannt, Sprinterinnen beim Zieleinlauf, 1972, privat; © Münchner Stadtmuseum

Ljudmila Turischtschewa, dem einen von zwei sowjetischen Turnstars, deren Ausstrahlung die ganze Welt bezauberte. Eine Übung am Reck wird zum Höhepunkt des Films, auch dies in Zeitlupe, die Kraft mit Anmut mischend und ausgleichend. Und Turischtschewa lächelt fast nie.

Trotzdem verliebt sich das Münchener Publikum in der ausverkauften Sporthalle in die 20-jährige. Aber sie hatte Konkurrenz: Neben Ljudmila Turischtschewa war da noch die 17-jährige Olga Korbut. "Ein Lausbub", nannte der ARD-Reporter diesen "Spatz von Minsk": Zwei kleine kurze Zöpfe, links und rechts. Sie sah aus wie 13, klein, graziös, hübsch. Hinter der kindlichen Fassade steckte ein Vollprofi, die, wie Brauckmann/Schöllgen berichten, vor den Spielen "eine Publicity Tour durch die USA [unternimmt], die auf viel Interesse in den Medien stößt. Ein geschickter Schachzug, ... schließlich hat Turnen in den Bewertungen einen hohen subjektiven Faktor."

In München wird Olga zum Darling und erntet die Früchte ihrer Arbeit: "Sie ist der Spaß in Person und jedermanns Liebling", schreibt der Stern, "Sie kann sich kringeln vor Vergnügen." Und herzergreifend weinen: In München hat sie nach einer verpatzten Übung in ihr rosa Handtuch geschluchzt – und die Herzen der Zuschauer gebrochen. "Die Vielgeliebte", textete eine deutsche Zeitschrift.

Dann kam der Terror, der alles veränderte.

Kollektiverfahrung des Unheils

Es verspricht ein schöner, sonniger Tag zu werden. Um 4.40 Uhr haben Monteure gesehen, wie ein paar Männer mit großen Tragetaschen über den Zaun des Olympischen Dorfes kletterten. Sie halten sie für heimkehrende Sportler. Aber: Es sind palästinensischen Terroristen."

Deininger/Ritzler

Der terroristische Überfall auf das olympische Dorf, die Geiselnahme von 11 israelische Sportlern, die am Abend sämtlich während einer dilettantisch missglückten Befreiungsaktion ermordet wurden, zerstörten den Traum von den heiteren Spielen.

Leo Dübber, Trauerbeflaggung nach dem Attentat auf die israelische Olympiamannschaft, 1972, privat. © Münchner Stadtmuseum

Der Tag des Attentats, das sich ja quasi durch die Live-Übertragung im Fernsehen vor den Augen der Welt entfaltet hat, dieses Kommen-Sehen des Unheils. Das war eine Kollektiv-Erfahrung, die für viele die Ankunft des internationalen Terrorismus signalisiert hat. Es gab vorher Terrorismus, aber die Wahrnehmung hat damit angefangen. Und das ist ein Ereignis, dass ich durchaus mit der einschneidenden Wirkung von 9/11 vergleichen würde.

Roman Deininger

Das Schwellenjahr 1972

Das Jahr 1972 erscheint im Rückblick als ein Schwellenjahr, ein Kipppunkt nicht nur der Sport- sondern der Kultur- und Politik-Geschichte. Aus heutiger Sicht war es das Ende der Euphorie. Der Beginn der "Grenzen des Wachstums". Aus heutiger Sicht ist dies auch das Jahr, in dem das Zeitalter des Terrors begann, des internationalen Terrorismus, der die demokratischen Gesellschaften seitdem nicht mehr losgelassen hat.

Alle diese Ereignisse von "München 72" und ihre Nachwehen warfen einen Schatten auf die beteiligten Menschen, der bis heute nicht vergehen will. Allerdings: Es bleibt auch die Erinnerung an die heiteren Spiele. Es gibt keinen Schatten ohne Licht.

Bücher:

Markus Brauckmann, Gregor Schöllgen: "München 72 – Ein deutscher Sommer"; 366 Seiten; Penguin Vlg. 2022.

Roman Deininger, Uwe Ritzer: "Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland"; 527 Seiten, dtv.

Sven Felix Kellerhoff: "Anschlag auf Olympia". 238 S.; wbg Theiss.

Ausstellungen:

Die Olympiastadt München [10], Architekturmuseum der TUM, Pinakothek-der-Moderne München. Bis 8. Januar 2023.

Menschen, Mode und Musik [11]; Münchner Stadtmuseum

Olympia 72 in Bildern [12] – Fotografien aus den Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek; bis 4. September 2022, Bayerische Staatsbibliothek, Prachttreppenhaus und Fürstensaal


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Links in diesem Artikel:
[1] https://www.piktogramm.de/de/
[2] https://www.youtube.com/watch?v=y2Epwrlx-Qg
[3] https://www.mvhs.de/programm/kultur-kunst-kreativitaet/mvhs-im-museum.6552/O212312
[4] https://www.youtube.com/watch?v=zL33-YoBa5o&t=932s
[5] https://www.architekturmuseum.de/ausstellungen/die-olympiastadt-muenchen/
[6] https://elib.uni-stuttgart.de/handle/11682/51
[7] https://www.designtagebuch.de/piktogramme-der-olympischen-spiele-2014-in-sochi/1972-otl-aicher-piktogramme/
[8] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:GraphyArchy_-_Wikipedia_00018.jpg
[9] https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en
[10] https://www.architekturmuseum.de/ausstellungen/die-olympiastadt-muenchen/
[11] https://www.muenchner-stadtmuseum.de/sonderausstellungen/muenchen-72-mode-menschen-und-musik
[12] https://www.bsb-muenchen.de/veranstaltungen-und-ausstellungen/article/olympische-sommerspiele-muenchen-1972-fotoausstellung-4032/