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Die drei Gesichter des Mario Bava (Teil 1)

Ein Buch, viele Filme und die Bundesprüfstelle

Mario Bava, der Lehrmeister von Quentin Tarantino und Tim Burton, ist einer der großen Regisseure des europäischen Kinos. In einem der schönsten und umfangreichsten Filmbücher aller Zeiten kann man jetzt nachlesen, warum das mehr ist als nur das Wunschdenken seiner Fans.

Das Buch war schon legendär, noch ehe es erschienen war: Mario Bava – All the Colors of the Dark. Ein Coffeetable Book, ein Fanbuch und ein filmhistorisches Standardwerk, alles in einem. Das Filmbuch des Jahres 2007. Minutiös recherchiert, mit Informationen aus über 100 Interviews. 1128 Seiten, durchgängig illustriert. 30,1 cm hoch, 27,6 cm breit, 6,7 cm dick, 5,45 kg schwer. Einziger Kritikpunkt: Es ist so groß und schwer, dass man es im Bett nicht lesen kann. Teuer ist es leider auch (für Europäer: $ 290 inklusive Porto), aber Qualität hat eben ihren Preis. Der Autor: Tim Lucas.

Zum Buch [1] gibt es das informative, immer wieder sehr anrührende Blog [2]. Man kann sehen, wie Tim und seine Frau Donna (für die Herstellung verantwortlich) das Buch endlich, nach vielen Jahren Arbeit, in Empfang nehmen dürfen (Riccardo Fredas Vorwort ist von 1984). Lamberto Bava, Marios Sohn (und ebenfalls Regisseur), hat einen Brief geschickt und ein Photo von sich, seiner Familie und dem Bava-Buch. Es gibt eine Bava-Weihnachtskarte. Bava-Fans jeden Alters haben sich im Büro, im Arbeitszimmer oder vor einem Kino mit dem Bava-Buch photographieren lassen. Einer hat sich als Mario Bava verkleidet, ein anderer hat das Buch zusammen mit seiner Tochter photographiert, die 2007 geboren wurde. Das müssen verblendete Menschen sein. Offenbar haben sie keine Ahnung, wen sie da verehren. Das wissen nur wir. Denn nur wir haben eine Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien. (Dazu später mehr.)

Lucas ist der Gründer der auf Kult- und Horrorfilme spezialisierten Zeitschrift Video Watchdog, die es sich zum Ziel gemacht hat, den Konsumenten darüber aufzuklären, was er wirklich kriegt, wenn er eine Videokassette, eine DVD oder mittlerweile eine Blu-ray kauft. Der Watchdog nennt sich selbst „The Perfectionist’s Guide to Fantastic Video“, und damit dürfte einer der Gründe genannt sein, warum es so lange gedauert hat, bis All the Colors of the Dark fertig war. Lucas begann 1972 mit der Recherche zu dem Buch, und während die Jahre vergingen, mehrte sich die Zahl der Lästerer, die spöttelten, dass der Autor sein Werk nie vollenden werde, weil sich immer noch ein Starlet finden würde, das zu einem Kurzauftritt in einem der Bava-Filme befragt werden müsse.

Eine Familie von Filmemachern

Mario Bavas Vater Eugenio war Bildhauer, Maler, Kameramann und der Vater der Spezialeffekte im italienischen Kino. Er war für viele der technischen Innovationen in Quo Vadis? (1913) verantwortlich, durch die Italien zum bedeutenden Filmland wurde, und er schuf den heute noch beeindruckenden Vulkanausbruch in Cabiria (1914), den Eugen Schüfftan bei der Vorbereitung auf Metropolis studierte. Eugenio Bava war der geheime Ideengeber hinter einigen der optischen Effekte, die später zum Ruhm des deutschen Stummfilms beitrugen. In Operazione paura, einem der Meisterwerke des phantastischen Films, erlaubt sich Mario Bava eine kleine Spitze, indem er enthüllt, dass die Heldin nicht wirklich die Tochter eines Herrn Schüfftan ist, für die sie sich bisher gehalten hat (so wie Eugenio Bava für sich in Anspruch nehmen konnte, der wahre Vater des „Schüfftan-Effekts“ zu sein).

Von Eugenio lernte Mario sein Handwerk. Er arbeitete als Kameramann für Roberto Rossellini, G.W. Pabst und viele andere, und weil der Workaholic oft ohne Namensnennung tätig war, ist seine Filmographie höchst lückenhaft; auch dank der Bemühungen von Tim Lucas wird sie allerdings immer länger. Mario Bava scheint ein äußerst hilfsbereiter und bescheidener, nicht sonderlich ehrgeiziger Mensch gewesen zu sein; ein leidenschaftlicher Filmemacher, der nie im Rampenlicht stehen wollte. Er lief zur Hochform auf, wenn kostenlose Spezialeffekte ausgetüftelt werden mussten, weil der Regisseur das Budget aufgebraucht hatte, oder wenn schnell und möglichst billig ein Film gerettet werden musste, den andere in den Sand gesetzt hatten. Bava wurde zu einer treibenden Kraft bei der Wiederbelebung des Sandalenfilms, weil er die meisten der nach wie vor sehenswerten Sequenzen in Die unglaublichen Abenteuer des Herakles (1957) inszenierte, während der Regisseur mit den Stars posierte und noch größere Teile von Herkules und die Königin der Amazonen (1958) in Szene setzte, während der Regisseur Siesta hielt. Und Mario Bava inszenierte die Schlacht von Marathon im gleichnamigen Film neu - mit 40 Statisten, in etwas mehr als einer Woche und fast umsonst-, weil in der bereits abgedrehten Schlacht die Streitwagenfahrer Zigaretten rauchten und die Krieger die Sandalen über ihren Stiefeln trugen.

Der Maestro des Makabren

In den 1920ern hatte Mussolini alle Leinwand-Ungeheuer generell verboten, und seit dem verschollenen Il mostro di Frankenstein (1920) war in Italien kein Horrorfilm mehr gedreht worden. Anfang der 1950er durften erstmals die alten Universal-Klassiker Dracula und Frankenstein gezeigt werden - in stark gekürzten Fassungen. Bava und seinen Freund, den Regisseur Riccardo Freda, brachte das auf die Idee, das in Italien ausgestorbene Genre wiederzubeleben. Statt amerikanische Vorbilder zu plündern, wollten die beiden Freunde an eine europäische Filmtradition anknüpfen, die der Franzose Louis Feuillade mit Fantômas (1913) und Les Vampires (1915) begründet und Fritz Lang in Deutschland fortgeführt hatte. Schon der Titel ihres Werks enthält eine Hommage an Feuillade: I Vampiri.

Richtige Vampire gibt es in I Vampiri so wenig wie in Feuillades Les Vampires. Ein Wissenschaftler schenkt einer Verwandten der Gräfin Bathory die ewige Jugend, wofür einige Jungfrauen ihr Blut geben müssen. Dieses Blut ist nie zu sehen, gestorben wird im Off, zur Sicherheit wurde das Ganze nach Paris verlegt (einem Film konnte die Exportgenehmigung verweigert werden, wenn er dem Ruf Italiens im Ausland schadete), und geküsst wird auch nicht, weil das als unmoralisch galt. Freda fand Geldgeber, weil er versprach, den Film in 12 Tagen drehen zu können. Als er nach zehn Tagen erst die Hälfte geschafft hatte und die Produzenten eine Verlängerung der Drehzeit verweigerten, ging er verärgert nach Hause. Bava musste das bisher Gedrehte so zu einer gestrafften Version der Geschichte kombinieren, dass sich in den verbleibenden zwei Tagen ein kompletter Film daraus machen ließ. Das ist ihm erstaunlich gut gelungen.

Für Bava war I Vampiri eine prägende Erfahrung. Wenn es möglich war, unter solchen Umständen einen qualitativ anspruchsvollen Film herzustellen, musste man sich nicht sklavisch an ein Drehbuch halten. Auch die Dialoge konnte man nachträglich ändern. Da im italienischen Kino kaum mit Direktton gearbeitet wurde, musste später ohnehin nachsynchronisiert werden. Das ließ viel Raum für Improvisation, und der intuitiv arbeitende Bava liebte es, einer spontanen Eingebung zu folgen. Wenn man den realistischen, auf stringente Charakterentwicklung setzenden Film mag, kann man an seinem Verfahren viel bemängeln. Aber sein Kino ist eines der visuellen Intensität, ein enthusiastisches Erkunden der Möglichkeiten der Kinematographie – nicht das abgefilmte Theater, das oft zur wahren Filmkunst erklärt wird, weil es besser zum Kulturbegriff des Bildungsbürgertums passt.

In einer der eindrucksvollsten Szenen von I Vampiri sieht man in einer Totalen die gebrechliche Herzogin, wie sie mühsam durch die große Halle ihres Schlosses geht, flankiert von Säulen, an denen weiße, leinwandgleiche Vorhänge flattern wie Geister im Wind. Diese lange Einstellung hat keine narrative Funktion. Kritiker könnten sagen, dass sie nur eingefügt wurde, um auf mehr Laufzeit zu kommen. Und doch erschließt sich von hier aus der gesamte Film. „Dieser eine Moment“, schreibt Tim Lucas, „mit seinem Akzent auf der Atmosphäre gegenüber dem Inhalt, auf der Umgebung gegenüber dem menschlichen Element, bleibt ein herausragendes Beispiel für das, was am italienischen Horrorfilm am besten ist.“ Bei I Vampiri kommt noch ein typisches Bava-Element hinzu: die Übermächtigung der Gegenwart durch eine sinistre und verdrängte Vergangenheit. Zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das hochaktuell. Man sollte nicht glauben, dass Bava ein unpolitischer Regisseur war, nur weil er Horror- und Kostümfilme gedreht hat.

In Caltiki il mostro immortale (1959) erforscht ein britischer Archäologe den Untergang der Maya, und weil der Film stark von The Quatermass Xperiment der Firma Hammer inspiriert ist, steckt ein schwammartiges Ungeheuer dahinter, das durch Radioaktivität aus seinem Tiefschlaf erwacht, riesengroß wird und schließlich Mexico City bedroht. Diesmal war Freda wütend darüber, wie sein Freund von anderen Regisseuren ausgebeutet wurde. Deshalb ging er bei Caltiki schon nach zwei Tagen (und nachdem er fast das ganze Budget aufgebraucht hatte) nach Hause, um Mario auf den Regiestuhl zu locken. Der schaffte es wieder, den Film zu beenden, und er brachte sogar noch einige der für ihn typischen selbstreflexiven Elemente unter, die nie aufdringlich sind, weil er stets eine elegante visuelle Entsprechung für seine Gedanken zum Kino findet. Es lohnt sich, daran zu denken, wenn man die Filme sieht.

Endlich auch offiziell: Bava wird Regisseur

Der schüchterne Bava war 45 und seit 25 Jahren als Kameramann tätig, als er endlich ein Projekt in Angriff nahm, bei dem er von Anfang an als Regisseur firmierte. La maschera del demonio machte Barbara Steele zur Kultfigur. Der Kritiker Raymond Durgnat hat einmal geschrieben, sie sei die einzige Frau auf der Leinwand mit Augenlidern wie gefletschten Zähnen. Schon allein deshalb war sie die Idealbesetzung für einen Film, in dem es dauernd um Augen geht, um Risiken und Nebenwirkungen des Sehens. In einer Doppelrolle spielt Steele die als Hexe verbrannte Asa und ihre Verwandte Katia, der die Untote 200 Jahre später die Lebenskraft aussaugen will. Bei Bava wird daraus eine sehr sinnliche Abhandlung über Eros und Thanatos sowie über die männliche Angst vor der weiblichen Sexualität, die den Frauen nur diese Optionen lässt: sie müssen Heilige oder Hure sein, Jungfrau Maria oder Hexe.

Mit seinen vielen, präzise getimten Kamerafahrten und der opulent wirkenden Schwarzweiß-Photographie (das Licht wurde millimetergenau gesetzt wie für einen Farbfilm, weil das genauer abgestufte Grautöne ergab) sieht La maschera – wie alles von Bava – so aus, als habe er ein Vielfaches von dem gekostet, was tatsächlich zur Verfügung stand. Wer wissen will, aus wie wenig Bava so viel machte, sollte die Kutschfahrt durch den nächtlichen Wald studieren. Gedreht wurde auf einer Studiobühne, die so klein war, dass sich das Gefährt nur acht Schritte vor oder zurück bewegen konnte. Der Wald besteht aus Kameratricks und ein paar Zweigen, die von Helfern an der Kutsche vorbeigetragen wurden. (Wie das gemacht wurde, zeigt Bava im selbstironischen Ende von I tre volti della paura.)

Samuel Z. Arkoff und James H. Nicholson, die Chefs der Firma American International Pictures, flogen seit 1959 regelmäßig nach Rom, um dort Sandalen- und sonstige Genrefilme billig einzukaufen. La maschera del demonio erwarben sie für $ 100.000, ohne zu ahnen, dass sie damit bereits mehr als die gesamten Produktionskosten bezahlt hatten. Die gelieferte Synchronfassung fanden sie „technisch unakzeptabel“, weshalb Arkoffs Schwager in New York eine neue herstellte – ohne Barbara Steele, auch wenn diese später behauptete, sich selbst nachsynchronisiert zu haben (nur ein Originalschrei ist in dieser Fassung geblieben). Mit „technisch unakzeptabel“ war gemeint, dass der AIP einige Elemente (v.a. die sexuellen) als unpassend für ihre jugendliche Zielgruppe erschienen. Also wurde gekürzt und umgetextet.

Javutich, der mit Prinzessin Asa eine sexuelle Beziehung hatte und mit ihr am Anfang des Films gemeinsam hingerichtet wird, ist in der italienischen Version ihr Bruder. Bei der AIP wurde er zum Diener degradiert. Mit dem Inzest wurde auch gleich eine weitere Bedeutungsebene entfernt, denn der Großinquisitor ist ebenfalls Asas Bruder, und zwar der Zweitgeborene. Es geht also nicht zuletzt um Geld und Macht, wenn dieser Herr das Urteil an seinen Geschwistern vollstrecken lässt. Deutsche Synchronfassungen zeichnen sich übrigens dadurch aus, dass sie sexuelle Elemente lieber dezent zurücknehmen, statt sie – wie die Amerikaner – ganz zu entfernen. In der deutschen Version (Die Stunde wenn Dracula kommt) ist der Mann, der mit Asa geschlafen hat, nicht mehr ihr Bruder, sondern ihr Vetter.

Der Film, der als Black Sunday in die US-Kinos kam, war amerikanisiert worden, hatte neben einigen nun in Schwarzblenden verschwindenden Gewaltsequenzen auch seine Ambiguitäten verloren. Statt der eher sparsam eingesetzten Musik von Roberto Nicolosi, die Bavas Bildern ihre Eigenständigkeit ließ, wurde der Film mit einer Neukomposition von Les Baxter zugedonnert (einiges davon ist von Nicolosi geklaut und uminstrumentiert), die das Publikum lenkt und zeigt, dass man bei der AIP kein Verständnis für Bavas Entscheidung hatte, in manchen Szenen auf Toneffekte ohne Musik zu vertrauen. Diese Eingriffe machten den Film kommerzieller. Die AIP verdiente viel Geld mit Black Sunday, was sich für Bava insofern positiv auswirkte, als Arkoff und Nicholson an weiteren Filmen interessiert waren. In Italien hatte La maschera del demonio kaum die Produktionskosten eingespielt. Ohne die Amerikaner wäre seine – nun offizielle – Regiekarriere vielleicht sehr schnell wieder vorbei gewesen.

Bava auf DVD

La maschera verbindet die schwarzweiße Märchenwald-Atmosphäre der alten Universal-Filme mit den expliziteren Gewaltdarstellungen der Hammer-Produktionen. Als die DVD eingeführt wurde, erwies sich das als sehr bedeutend. Unter den schon früh zum Umstieg bereiten Käufern gab es viele, die auf ihrem neuen Player gern Horrorfilme sehen wollten. Die Universal- und Hammer-Filme fehlten aber auf dem Markt; z.T. dauerte es Jahre, bis sie angeboten wurden. Für kleinere Labels eröffnete das die Möglichkeit, eine Marktnische zu besetzen. La maschera del demonio war das ideale Pilotprojekt. Im Dezember 1999 brachte die Firma Image Entertainment den Film in den USA auf DVD heraus. Obwohl als Black Sunday veröffentlicht, war auf der DVD (in einem hervorragenden Transfer) die von Bava hergestellte Schnittfassung zu sehen – wahlweise mit italienischem Originalton oder in der englischen Synchronfassung, die damals für den Export hergestellt worden und von der AIP verworfen worden war. Dazu gab es einen Audiokommentar von Tim Lucas, der sich als Autor eines umfangreichen Bava-Buches vorstellte, das im folgenden Jahr erscheinen würde (es hat dann doch ein bisschen länger gedauert).

Die Image-DVD ist bis heute vorbildlich. Lucas’ Kommentar ist anregend, äußerst informativ und eine Pionierleistung. Der Ruf des Horrorfilms leidet noch immer darunter, dass das Genre als unseriös gilt, weil es – verglichen mit der kanonisierten „Filmkunst“ – zu wenig seriöse Auseinandersetzungen damit gibt. Eine Ausnahme war Frankreich. Dort publizierte Eric Losfeld die Zeitschrift Midi-Minuit Fantastique (eine Art Cahiers du cinéma für Liebhaber des phantastischen Films), in der Autoren wie Raymond Durgnat, einer der Großen der europäischen Filmkritik, über das schrieben, was vom Mainstream vernachlässigt oder rundheraus abgelehnt wurde. Die Zeitschrift Positif widmete La maschera del demonio eine Titelgeschichte, und es ist bezeichnend, dass die Filme Mario Bavas in Frankreich, wo man sie mit dem Namen des Regisseurs verknüpfte (so wie man auch die etablierten Künste mit einem Urheber verbindet), viel weniger mit Zensur zu kämpfen hatten als in anderen Ländern. Der Grund dafür war nicht, dass es in Frankreich mehr Sadisten, Perverse und Dauerpubertierende gäbe als anderswo. Es gab dort aber eine ernstzunehmende Vermittlungsinstanz, die für mehr Verständnis dem Genre gegenüber sorgte und mit einigen liebgewordenen Vorurteilen aufräumte.

Lucas knüpft an diese Tradition an. Er demonstriert, dass man sich auf intellektuell anspruchsvolle Weise mit dem Horrorfilm beschäftigen kann – und dass das Genre eine solche Beschäftigung auch verdient. Auf dem deutschen DVD-Markt ist Vergleichbares zumindest insofern möglich, als einige Titel der bei Image erschienenen „Mario Bava Collection“ von der Firma e-m-s übernommen wurden: mit eigenem Zusatzmaterial, mehreren Tonspuren und mit Audiokommentaren von Tim Lucas (letztere leider ohne Untertitel). V.a. Lucas ist es wohl zu danken, dass inzwischen alle Hauptwerke Bavas in oft mustergültigen DVD-Editionen vorliegen. Manch einem Leser von Filmgeschichten mag das mitunter sogar absurd erscheinen: Von einem eher minderen Bava-Werk wie Eine Handvoll blanker Messer, einem Remake des Westerns Shane als Wikingerfilm, gibt es eine sorgfältig gemachte DVD. Dagegen wartet man seit Jahren auf Fritz Langs While the City Sleeps ebenso vergeblich wie auf fast alles von Max Ophüls, einem anderen Genie des deutschen Films. Und falls irgendwann G.W. Pabsts Cose da pazzi oder die frühen Kurzfilme von Roberto Rossellini wieder zugänglich gemacht werden, so vermutlich nur, weil Bava dort an der Kamera stand.

Pionier des Giallo

Die „Mario Bava Collection“ hat auch andere Anbieter motiviert, Filme des „Maestro des Makabren“ auf DVD herauszubringen. Zumindest seine offizielle Filmographie war aber endlich. Allerdings gab es da noch Sei donne per l’assassino, sozusagen die Mutter aller Gialli, jener auf stilvolle Eleganz, Schauwerte und stilisierte Gewalt setzenden Mischung aus Kriminal- und Horrorfilm. Wenn Bava schon vergeben ist, scheinen sich einige US-Firmen gedacht zu haben, dann bringen wir eben Gialli von Lucio Fulci, Sergio Martino oder Dario Argento auf sorgfältig gemachten DVDs heraus. So ist wieder einmal das eingetreten, was sich auch in anderen Fällen beobachten lässt: die Amerikaner machen sich weit mehr um die Bewahrung unseres filmischen Erbes verdient als wir, die Europäer. Wenn bei uns einer der von Bava inspirierten Gialli auf DVD erscheint, landet er meistens auf dem Index. Eigentlich ist das recht beschämend.

Der Name Giallo (das italienische Wort für gelb) kommt, indirekt, aus England. Der Verlag Hodder & Stoughton veröffentlichte dort die „Yellow Jackets“, eine Reihe von Kriminalromanen mit gelben Umschlägen, auf denen eine schauerliche Szene (am besten eine Jungfrau in Not) sowie, in Anlehnung an The Crimson Circle von Edgar Wallace, ein roter Kreis abgebildet waren. In Italien übernahm der Verlag Mondadori diese Aufmachung für seine eigene Reihe mit Thrillern (kurz: gialli) zumeist britischer oder amerikanischer Autoren.

Der erste Film-Giallo wurde vermutlich gedreht, als es den Begriff noch gar nicht gab: Carmela (1916) von Elvira Montari. 1933 entstand eine Wallace-Verfilmung mit dem Titel Giallo, und auch Bavas La ragazza che sapeva troppo gehört dem Subgenre an (ein Spielzeugflugzeug fliegt nach Rom, Adriano Celentano singt „Furore“ dazu, und anschließend wird die amerikanische Heldin mit der düsteren Seite der Schauplätze aus Fellinis La dolce vita und einer bizarren Kriminalhandlung konfrontiert, die vielleicht nur einer Marihuana-Phantasie entsprungen ist). Sei donne (Blutige Seide) ist also nicht der erste aller Gialli, aber doch der, der Maßstäbe setzte. Ein Mörder, der sich unter Mantel, Hut und weißer Gesichtsmaske verbirgt, tötet, wie schon der italienische Titel sagt, sechs Frauen. Bava führt in 88 Leinwandminuten fast alles ein, was seither den Giallo ausmacht. Dazu ein Zitat aus dem Buch von Tim Lucas:

Aus den Instrumenten des Verbrechens einen Fetisch machen; das beschleunigte und plötzlich zum Stehen kommende Atmen von halbnackten, vollbusigen Opfern erotisieren; eine Atmosphäre des Schreckens aus der Schönheit der Schauplätze heraus erschaffen und romantisieren; den Tod wie einen Orgasmus filmen und Leichen wie Engel … daraus wurden die Markenzeichen der besten Gialli, die auf Sei donne per l’assassino folgten.

Der Schluss drängt sich auf: So etwas kann nur, so etwas muss frauenfeindlich sein. Aber stimmt das auch? Jeder der Morde ist ein filmisches Bravourstück und als visuelles Erlebnis inszeniert: mit eleganten, äußerst präzisen Kamerafahrten, in grellem Rot (für Blut) und geistergleichem Grün (für Tod). Der Inspektor weiß gleich, dass wir es mit einem perversen Sexualverbrecher zu tun haben, der seine Lust befriedigt, indem er schöne Frauen umbringt. Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Feststellung, dass hier ein Regisseur Frauen umbringt, damit das (männliche) Publikum seine Befriedigung daraus ziehen kann. Nur: Die Polizei ist im Giallo primär dazu da, das scheinbar Offensichtliche zu Protokoll zu geben, das anschließend als allzu schlicht entlarvt wird. (Pedro Almodóvar macht sich am Anfang von Matador über solche Interpretationsansätze lustig, indem er Antonio Banderas beim Betrachten von Sei donne masturbieren lässt.)

Alle Verbrechen geschehen im Umfeld eines Modesalons. Hinter dieser Fassade des Schönen finden allerlei unattraktive Aktivitäten statt (das Morden ist nur eine davon). Der Film führt vor, wie die Modeindustrie Frauen zu Objekten macht. Bava verfällt dabei auf den Kunstgriff, dass er sterbende und tote Frauen so zeigt, wie man sie sonst nur zu sehen bekommt, wenn sie am Leben sind (er benutzt dabei seine „Madonna-Ausleuchtung“, die nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, dass aus Gina Lollobrigida ein Star wurde). Das wirft die Frage auf, was generell von der Art zu halten ist, wie wir unsere ästhetischen Vorstellungen auf die Frauen anwenden. Wenn sie im Tod anstößig ist, wie ist das dann im Leben?

Sei donne per l’assassino hat man oft vorgeworfen, dass es nur um das Zeigen von Morden geht, verknüpft durch eine extrem rudimentäre Handlung. Man kann das auch freundlicher formulieren. Bava kommt ohne die übliche Heuchelei aus, versteckt die Gewalt nicht hinter glaubwürdigen Geschichten und psychologisch ausgearbeiteten Charakteren. Das ist gelegentlich schwer auszuhalten. Aber wäre es so viel besser, wenn der Mörder im Rahmen eines ausgeklügelten Szenarios töten würde, und wenn die Opfer ohne Loch in der Bluse sterben würden wie die Banditen in Bonanza, wenn sie von Little Joe vom Pferd geschossen werden? Es gibt Filme mit Frauenmördern, die Über- oder Untermenschen sind und die man leicht in eine Ecke stellen kann, weil sie nichts mit uns zu tun haben. Bavas Killer trägt ein weißes Tuch und wird damit zur Projektionsfläche für uns, das Publikum. So ist Sei donne auch ein Film über die Schaulust und die weniger reputierlichen Aspekte der Kinematographie.

Kino und Magie

Bei Bava gibt es dauernd Häuser, Burgen und Paläste an irgendeinem Strand (meistens ist es derselbe Strand, der für ihn so etwas war wie Monument Valley bei John Ford). Diese Gebäude sind pure Illusion. Er konnte aus ein paar Pappfelsen, Farbfiltern und Spiegeln die griechische Unterwelt zaubern (Vampire gegen Herakles), und dann, mit denselben Felsen, einen fremden Planeten (Planet der Vampire). Neben der technischen Brillanz gehörte dazu ein profundes Wissen über optische Täuschungen und Zuschauerpsychologie. Man muss also damit rechnen, von ihm ausgetrickst zu werden.

Sei donne lädt dazu ein, ihn rein visuell zu interpretieren – also auf der Ebene, wo der Film ganz Film ist (für Leute, die das Kino lieber nach den Kriterien von Roman und Theater beurteilen, ist das irritierend). Es gibt auch nicht die branchenübliche Bevormundung des Publikums. Wir erhalten visuelle Informationen, aus denen wir unsere eigenen Schlüsse ziehen können. Danach zeigt uns Bava, wie trügerisch das sein kann, was wir sehen. Genau genommen erweist es sich sogar als trügerisch, dass der Film keinem richtigen Drehbuch folgt. Anfang und Ende des formal streng durchgestalteten Films sind symmetrisch. Das sollte einen stutzig machen. Und für jene, denen das alles zu kompliziert ist, gibt es obendrein noch eine schöne, klare Aussage: es lohnt sich nicht, das, was wir tun, am Primat des Geldverdienens auszurichten. Bava, der dauernd umsonst gearbeitet hat oder für lächerlich geringe Gagen, war das wichtig.

Vielleicht beschreibt man Mario Bava am besten so: Er war ein Perfektionist, der unter Produktionsbedingungen arbeitete, die alles andere als perfekt waren. Operazione paura ist eine jener Filmperlen, bei denen es schon ein Wunder ist, dass sie überhaupt entstanden sind; das letzte Meisterwerk aus dem „Goldenen Zeitalter“ (1957-1966) des italienischen Horrorfilms. Es geht um die Versuche von Gesetz, Medizin und Religion, Sinn aus den Phänomenen unserer Welt zu machen; um die Sünden der Vergangenheit; und, an der Oberfläche, um den Geist eines Kindes, der sich an den Bewohnern eines Dorfes rächt, indem er diese in den Selbstmord treibt. Gedreht wurde nach einem mehrseitigen Exposé. Die Darsteller erhielten vage Angaben zur Handlung und wurden von Bava ermuntert, ihre Dialoge zu improvisieren. Nach zwei Wochen ging den Produzenten das Geld aus. Bava wollte den Film abbrechen. Dann erklärten sich alle Beteiligten spontan bereit, Operazione paura ohne Bezahlung zu beenden. Das muss ein großer Moment in der Karriere von Mario Bava gewesen sein, der kein in der Öffentlichkeit stehender Star wie Fellini war, aber in Fachkreisen – als Regisseur wie als Mensch – einen glänzenden Ruf hatte. Für so jemanden arbeitete man zur Not auch umsonst.

Bava, schreibt Martin Scorsese (in seinem Vorwort zum Buch von Tim Lucas), sei

ein bescheidener Mensch gewesen, einer, der wider Willen ein Künstler war, der innerhalb der am übelsten beleumundeten Filmgenres arbeitete – Horror, Slasherfilme, Sandalenepen, Science Fiction, Sex-Komödien, Western. Wir müssen uns der Idee hinter der offiziellen Filmgeschichte widersetzen, dieser würdevollen Prozession von „wichtigen Werken“, die einige der aufregendsten Filme und Filmemacher im Schatten versteckt hält. Bavas Karriere […] zeigt das Befreiende daran, wenn man ohne Ansehen arbeitet und so, dass einem dabei nicht die Bedeutsamkeit der eigenen Arbeit über dem Kopf schwebt. Je anrüchiger das Genre, und je niedriger das Budget, desto weniger hat man zu verlieren und desto mehr Freiheit hat man, zu experimentieren und neue Bereiche zu erforschen.

Vom Handwerk zur Filmkunst

Filme mit Träumen zu vergleichen, ist ein Gemeinplatz (die Kinematographie und Freuds Traumdeutung sind gleichzeitig entstanden). Bei Bava kann man erfahren, was das wirklich heißt. In Operazione paura findet man Einstellungen, die aussehen wie direkt auf die Leinwand übertragene Traumbilder, und bei einigen davon scheint es heute niemanden mehr zu geben, der erklären könnte, wie Bava das technisch gemacht hat. Der Film wurde zum Teil an Originalschauplätzen gedreht, die Bava so ausgeleuchtet und mit optischen Täuschungen versehen hat, dass der Eindruck entsteht, als würden die Figuren durch von M.C. Escher entworfene Bühnenbilder laufen. Erzählt wird nicht mehr linear, Vergangenheit und Gegenwart existieren gleichzeitig, und weil Bava dort, wo das eine in das andere übergeht, keine Hinweisschilder aufstellt, kann das für Zuschauer wie Figuren sehr desorientierend sein.

Operazione paura (Operation Angst) heißt wahrscheinlich so, weil der Verleih von den Agentenfilmen mit der Hauptdarstellerin Erika Blanc profitieren wollte, deren Titel alle mit Operazione … anfangen. Bei uns lief der Film unter dem noch dämlicheren Titel Die toten Augen des Dr. Dracula. So heißt auch die DVD von Anolis, die lange Zeit die beste Version war, die man kaufen konnte. Ausnahmsweise dürfen wir also auch mal stolz auf uns sein. Leider hat die DVD nur eine deutsche Tonspur. Bei Bava-Filmen hört man am besten die italienische Originalfassung, weil er meistens selbst den Schnitt und die Tonmischung überwacht hat, weil die italienischen Dialoge in der Regel intelligenter sind als die deutschen oder die englischen, und weil bei der Synchronisation – bewusst oder unbewusst – schnell etwas verloren gehen kann, z.B. das Inzestthema in Operazione paura.

Besonders schlecht ist es La frusta e il corpo ergangen, dieser hochromantischen Geschichte von einer amour fou und von den masochistischen Phantasien einer Frau (drei Jahre vor Buñuels Belle de jour entstanden!). Die englische Synchronfassung ist so schlampig gemacht, dass schon mal die Namen der handelnden Personen verwechselt werden, und am Schluss wird über die Dialoge eine Hauruck-Interpretation geliefert, während Bava (im Original) das Denken dem Zuschauer überlässt. Die deutsche Version, Der Dämon und die Jungfrau, hält sich erst gar nicht mit den italienischen Dialogen auf, sondern übernimmt die englischen (mit allen Fehlern). Leider scheint der Übersetzer bei ihm unbekannten Worten aus Prinzip die jeweils erste Bedeutung genommen zu haben, die er im Lexikon fand, und von englischer Grammatik hatte er auch keine Ahnung. Deshalb, und nicht aus Snobismus (hofft der Autor), werden hier bevorzugt die italienischen Originaltitel genannt.

Im DVD-Dschungel

Ich kenne einige, die sich die Anolis-DVD von Die toten Augen des Dr. Dracula nicht gekauft haben, weil sie in Internet-Foren gelesen hatten, dass der Film entgegen anders lautenden Versprechungen gekürzt sei. Solche Feststellungen beruhen oft auf einem Irrtum. Das deutsche PAL-System hat eine Abspielgeschwindigkeit von 25 Bildern pro Sekunde, also einem Bild mehr als im Kino oder auf amerikanischen Ntsc-DVDs. Wer die Laufzeit einer PAL-DVD mit der Kinolänge vergleicht, ohne die 4%ige Beschleunigung mit einzurechnen, vermisst dann gleich ein paar Minuten. Eigentlich ist es sogar noch komplizierter. Die Europa-Version von Planet der Vampire (das Vorbild für Ridley Scotts Alien), die man bei uns auf DVD kaufen kann, wäre auch bei gleicher Laufgeschwindigkeit kürzer als die US-Fassung, ist aber trotzdem „länger“. Das klingt paradox und hat damit zu tun, dass Italiener schneller reden als Amerikaner. Die AIP ließ mit Schnittresten Einstellungen verlängern, damit die Synchronsprecher mehr Zeit für ihre Dialoge hatten (mit Folgen für Bavas Schnittrhythmus), während an anderen Stellen nicht genehme Sequenzen gekürzt wurden.

Noch ein Beispiel für Eigentümer-Vandalismus gefällig? Die Rechte an den meisten Bava-Filmen liegen inzwischen bei Alfredo Leone, der Baron Blood sowie Lisa e il diavolo produziert und sich zudem unbestreitbare Verdienste erworben hat, weil viele der Werke jetzt wieder in sehr guten Kopien zugänglich sind. Allerdings hat er auch Rechte an Filmen gekauft, deren Copyright bereits abgelaufen war, wurde somit reingelegt. Im Oktober 2002 gab es bei Turner Classic Movies eine Mario Bava-Retrospektive. La maschera del demonio hatte einen neuen Anfang bekommen (farbige Titelkarten und ein anderer einführender Off-Text), und überall da, wo es bei Bava nur Toneffekte gegeben hatte, waren die Löcher in der Dauerbeschallung mit Musikschnipseln aus Baron Blood aufgefüllt worden.

La ragazza che sapeva troppo hatte ebenfalls neue, diesmal an den Schluss verlegte Titel bekommen, und Adriano Celentanos Anfangslied „Furore“ fehlte ganz. Das hatte damit zu tun, dass Leone den Film nach diesen Änderungen wieder urheberrechtlich schützen lassen konnte. Auf den von Leones International Media Films lizensierten DVDs finden sich die ursprünglichen Fassungen, aber das muss nicht so bleiben. Heute weiß niemand, was man in zehn Jahren bekommt, wenn man sich La ragazza auf dem dann aktuellen Medium kauft. Es kann einem auch passieren, dass man sich freut, La maschera endlich im Kino sehen zu dürfen, und dann läuft das über die Leinwand, was Leone aus Copyright-Gründen daraus gemacht hat. Vermutlich wird niemand dabei sein, der einen darüber aufklärt. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass nicht auch an den Werken kanonisierter Regisseure herumgepfuscht wird, wenn jemand sein Investment schützen will.

Alles wird noch viel grandioser, verspricht die Industrie, wenn erst jeder von uns ein Abspielgerät für Blu-rays besitzt. Man darf das bezweifeln. Die Probleme beim Bewahren unseres filmischen Erbes haben oft nur wenig mit der Technik zu tun, dafür aber sehr viel mit finanziellen Interessen, antiquierten Urheberrechts-Regelungen und einem allgemeinen Desinteresse der Kulturpolitiker (man sucht jetzt zwar nach verschwundenen Filmen, doch wenn diejenigen, die noch vorhanden sind, bearbeitet und verstümmelt werden, kümmert das keinen). In den USA ist übrigens auch nicht alles besser. Die meisten AIP-Filme liegen heute im Archiv von Sony/MGM. Bei vielen europäischen Produktionen (auch einigen von Bava) wurde irgendwann vergessen, das Copyright zu verlängern. Sony hat kein Interesse daran, solche Filme, digital restauriert oder auch nur irgendwie, auf DVD oder Blu-ray zu veröffentlichen, weil diese Fassungen rechtefrei wären. Vielleicht bespricht man demnächst mit Alfredo Leone, was in einem solchen Fall zu tun ist.

Die stetig steigende Reputation von Mario Bava und die Verkaufszahlen haben zu so vielen DVDs geführt, dass man allmählich den Durchblick verliert und sich dringend eine Website wünschen würde, die einen darüber aufklärt, was man kauft (Lucas’ Video Watchdog konzentriert sich auf den US-Markt). Die Anolis-DVD von Die toten Augen des Dr. Dracula ist lange vergriffen und wird immer teurer. Billiger ist The Curse of the Living Dead. Das war einmal der Titel einer um zehn Minuten gekürzten US-Fassung von Operazione paura; auf der DVD ist aber ein deutsch synchronisierter Film, der verdächtig nach der Anolis-Version aussieht, nur ohne die Extras. Ohnehin darf man nicht einfach glauben, was auf der Verpackung steht. Raro Video (Italien) verspricht bei Bay of Blood eine Laufzeit von 95 Minuten; auf der DVD sind aber nur etwas mehr als 80 Minuten (PAL-Geschwindigkeit), weil der Film nie länger war. Dafür ist er tatsächlich digital restauriert, was bei vielen DVDs nur behauptet wird, weil es gut klingt.

Die Bava Collection, zweite Auflage

In den USA ist die Geschichte der Bava-DVDs inzwischen in die nächste Runde gegangen. Bei Anchor Bay erhält man jetzt, sehr günstig und in zwei Boxen (The Mario Bava Collection, Volume 1+2), ein gutes Dutzend Filme. Das Meiste davon gab es bereits bei Image Entertainment. Wer damals schon gekauft hat, muss sich trotzdem nicht ärgern. Viele der Filme liegen in einer Bild- bzw. Tonqualität vor, wie sie bei den Image-DVDs noch nicht verfügbar waren. Das ist anders als bei gewissen Medienkonzernen, die eine verschlissene Filmkopie auf DVD brennen und ein paar Jahre später eine viel bessere Fassung nachreichen, um noch einmal Kasse zu machen (zwischendurch wird die Schrottversion auch gern an die DVD-Reihe irgendeiner Zeitung verramscht).

Für einige Bava-Filme hat Tim Lucas neue Audiokommentare gesprochen. Man vermisst allerdings den Kommentar – einen seiner besten - zu Kill, Baby … Kill (US-Titel von Operazione paura). Den gibt es nur auf der „Special Edition“, die bei Dark Sky Films angekündigt war. Alfredo Leone, der Lizenzgeber von Anchor Bay, hat in Italien einen Prozess gewonnen und besitzt seitdem auch für die USA die alleinigen Verwertungsrechte. Die DVD von Dark Sky musste vom Markt genommen werden. Eine Weile lang konnte man sie, als Raubkopie, bei eBay ersteigern (von einem Herrn aus Israel). Soll man jetzt bedauern, dass es Raubkopierer gibt? Oder sich darüber freuen, mit Marios Sohn Lamberto die Originalschauplätze von Operazione paura besichtigen zu dürfen (im überdurchschnittlichem Bonusmaterial), auch wenn Alfredo Leone das gern verhindert hätte?

Bei Anchor Bay gibt es die Filme in der italienischen Originalversion (mit englischen Untertiteln), mit der Ausnahme von Bay of Blood (englische Version), Bavas letztem Giallo. Ein Arbeitstitel des Films war Bay of Silver. Aus Silber sind die Münzen, mit denen in Operazione paura das Böse gebannt werden soll (bei Bava kann man mit Geld natürlich nichts erreichen), und wenn man die Farbe ins Italienische übersetzt, landet man bei Dario Argento. Damit hat man schon eine Ahnung, womit in dem Film zu rechnen ist. Bava hat einen Giallo à la Argento und zugleich einen Anti-Giallo inszeniert. Bei Argento-Fans kam das gar nicht gut an.

Bava hat die Dialogszenen zuerst auf Italienisch und dann auf Englisch gedreht. Ein Vergleich der beiden Fassungen ist sehr interessant, weil man daran studieren kann, wie anders die Schauspieler ihre Rolle anlegen, wenn sie ihre Dialoge in einer fremden Sprache sprechen. Tim Lucas rät daher im Audiokommentar zum Kauf der italienischen, bei Raro Video erschienenen Version (mit englischen Untertiteln). Er darf das. Ich darf es nicht. Denn Bay of Blood ist bei uns indiziert. Damit unterliegt der Film einem Werbeverbot.

Und morgen in Teil 2: Schmutz und Schund und wenig Sachverstand [3] – Wie die Bundsprüfstelle dagegen kämpft, dass Mario Bava die Jugend „sozialethisch desorientiert“


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