Die geimpfte Gesellschaft: Island auf der Suche nach dem neuen Kurs

Bild: Michelle Raponi/Pixabay

Island hat die Impfquoten, die Deutschland und andere gerne hätten

Impfen, impfen, impfen - das gilt zurzeit als einzige Methode, um dauerhaft mit dem Sars-CoV-2-Virus zu leben. Island hat die Impfquoten, die Deutschland und andere gerne hätten. Island hatte auch bereits am 26. Juni alle Beschränkungen im Inland aufgehoben - und führte nun einige wieder ein. Wie umgehen mit steigenden Inzidenzen, wenn schon fast alle geimpft sind? Vor dieser Frage steht Island früher als andere.

Der isländische "Freedom Day" am 26. Juni wurde international weit weniger beachtet als der von Großbritannien. Er war auch weniger umstritten. Damals hatte es schon seit einer Woche keinen einzigen neuen Corona-Fall mehr im Inland gegeben. Insgesamt hatte die Insel mit rund 360.000 Einwohnern und einigen Touristen damals nur noch 12 aktive Fälle, Leute, die aufgrund eines positiven Corona-Tests in Quarantäne waren.

Die Herdenimmunität sei erreicht, meinte damals der Landesepidemiologe Þórólfur Guðnason. Er rechnete damit, dass es zwar noch einzelne Cluster geben würde, aber keinen landesweiten Ausbruch mehr. 87 Prozent der Einwohner über 16 Jahre hatten bis zum 26. Juni die erste Spritze erhalten, 60 Prozent waren vollständig geimpft.

Aufgrund seiner Insellage hat Island sehr gute Möglichkeiten zu kontrollieren, wer ins Land kommt. Das vom Tourismus stark abhängige Land fuhr einen Mittelweg: Es war zumindest für Einwohner aus Schengenländern fast immer möglich, nach Island zu kommen, auch für Touristen. Doch die Einreiseregeln für Ungeimpfte waren und sind bis heute streng, was abschreckte.

Modalitäten

Zurzeit gilt: Ein Test im Abreiseland, ein Test bei der Ankunft im Flughafen, fünf Tage Quarantäne. Dafür stehen allerdings kostenlose Quarantänehotels zur Verfügung, wenn man nichts Passendes vorweisen kann. Nach den fünf Tagen Quarantäne ein weiterer Test. Fällt der auch negativ aus, ist man endlich frei, die Annehmlichkeiten des Landes zu genießen.

Island war eins der ersten Länder, das Geimpfte auch von außerhalb Europas zuließ, sofern der Impfstoff von der europäischen Arzneimittelbehörde zugelassen war. Geimpfte mussten nicht in Quarantäne. Lange galt aber auch für sie die Verpflichtung zu einem Test.

Ab dem 1. Juli mussten vollständig Geimpfte sich nicht mehr testen lassen. Die Tests an der Grenze für Geimpfte hatten früher nur sehr wenige positive Fälle ergeben. Ab Mitte Juli begann die Zahl der nachgewiesenen Infektionen im Land wieder anzusteigen. Und diesmal ist die Mehrheit der Virusträger bereits voll geimpft - das weist die isländische Statistik zusätzlich aus. Seit dem 26. Juli brauchen nun auch Geimpfte einen Test vor der Einreise.

Die 14-Tage-Inzidenz im Land (ohne die Einreisetests) stieg innerhalb von zwei Wochen von unauffällig auf mehr als 200 pro 100 000 Einwohner. "Die Fälle sind im ganzen Land. Das ist anders als bei den früheren Wellen", so der Chef des Zivilschutzes der Polizei, Víðir Reynisson, zu RÚV.

Enttäuschte Hoffnung: Ansteckungen trotz Impfung

Die Maximalhoffnung an einen Covid-19-Impfstoff war, dass er nicht nur zuverlässig vor Krankheit schützt, sondern dass das Virus nicht weitergegeben wird, die sogenannte sterile Immunität. So ist es nicht gekommen. Laut RKI ist die Wahrscheinlichkeit zwar geringer, aber nicht Null.

Doch die Delta-Variante hat die Wahrscheinlichkeiten verschoben, wie auch eine bekannte Studie aus Israel zeigte: Gegen Delta schützen die Impfstoffe weniger gut. Diese Erfahrung macht nun auch Island. Allerdings erkranken Geimpfte bisher nur noch sehr selten schwer an Covid-19 oder sterben daran.

Wie umgehen mit hohen Inzidenzen, wenn fast alle geimpft sind? In Israel wurden wieder neue Beschränkungen und Maskenpflicht eingeführt, nachdem die Fallzahlen gestiegen waren. Auch in den USA gilt die Maskenpflicht teilweise wieder. Großbritannien verzichtet bisher darauf. Diese drei Länder galten lange als besonders erfolgreich beim Impfen. In allen drei Ländern gibt es jedoch noch viele Erwachsene, die aus verschiedenen Gründen nicht geimpft sind. Und es sind hauptsächlich die Ungeimpften, die bei hohen Inzidenzen in Gefahr laufen, schwer krank zu werden oder zu sterben.

Ungeimpfte Erwachsene gibt es auf Island gar nicht mehr so viele: Die über 70-Jährigen, die höchste Risikogruppe, sind praktisch vollständig geimpft. Von den über 60-Jährigen sind mehr als 90 Prozent voll geimpft. Bei den über 40-Jährigen sind es mehr als 80 Prozent, bei denen zwischen 16 und 39 Jahren liegt die Quote nur knapp unter 80 Prozent (Stand 23. Juli). Dazu kommt der Teil, der erst eine Spritze bekommen hat. Island impft mit BionTech/Pfizer, Moderna, AstraZeneca und Janssen.

Die hohen Impfquoten

Wie ist Island zu diesen hohen Impfquoten gekommen? Möglicherweise hat sich die Regierung von Katrín Jakobsdóttir durch ihre sachliche, gut kommunizierte Corona-Politik ausreichend Vertrauen erworben, dass man der Aufforderung einfach folgte. Möglicherweise steht man in einer so kleinen, übersichtlichen Gemeinschaft wie Island in der Krise auch eher zusammen. Möglicherweise sind es aber auch ganz praktische Gründe: Es macht das Arbeiten im Ausland und das Reisen einfacher.

Nach dem Anstieg der Fallzahlen berichten Medien nun auch über eine steigende Nachfrage nach ärztlicher Hilfe. Zuletzt waren zehn Personen gleichzeitig wegen Covid-19 stationär im Krankenhaus, von mittlerweile 966 aktiven Infektionen. Zwei Personen befinden sich auf der Intensivstation. Laut Vísir handelt es sich dabei um Erkrankte zwischen 40 und 70 Jahre. Von den beiden auf der Intensivstation sei eine Person unter 60 und ungeimpft, und eine über 60 und noch nicht voll geimpft. Die anderen seien voll geimpft.

Es sei enttäuschend, wieder Maßnahmen vorschlagen zu müssen. Ohne die Impfungen hätte er allerdings härtere Maßnahmen vorgeschlagen, so Epidemiologe Þórólfur Guðnason vor der Entscheidung vergangene Woche.

Kein Rezept für die geimpfte Gesellschaft

Es gebe kein Rezept für den Umgang mit Covid-Infektionen in einer geimpften Gesellschaft, sagte Ministerpräsidentin Katrín Jakobsdóttir zum isländischen Fernsehsender RÚV. Die isländische Regierung war in ihrer Coronapolitik weitgehend den Empfehlungen ihrer ärztlichen Direktorin, dem Chefepidemiologen und dem Zivilschutz gefolgt, und so auch jetzt.

Zunächst bleibt man vorsichtig: Seit Sonntag gilt wieder eine Obergrenze für Versammlungen von 200 Personen. Dadurch musste beispielsweise das Þjóðhátíð -Festival auf den Westmännerinseln nur wenige Tage vor dem Start eingestellt werden. Es gilt wieder eine Maskenpflicht in Innenräumen, der Abstand von einem Meter und Schwimmbäder oder Campingplätze dürfen nur bis zu 75 Prozent ihrer Kapazität besetzt werden.

Auch Geimpfte werden nun in Quarantäne geschickt, was nicht gut ankommt. Die ärzliche Direktorin Alma Möller will aber verfolgen, wie viele der Geimpften schwer krank werden - danach sollten die Maßnahmen zukünftig ausgerichtet werden. Sollte es nur sehr wenige treffen, könne man wieder lockern und lernen, mit dem Virus zu leben.

Aber was genau heißt das: "Mit dem Virus leben?" Das RKI nennt eine Impfquote von 85 Prozent der 12-59-Jährigen und 90 Prozent der über 60-Jährigen als Ziel für die Impfkampagne. Was, wenn das Impfziel erreicht ist, aber das Virus immer noch kursiert?

Island ist ziemlich nah an diesem Ziel. Zum Herbst werden auch die letzten über 16 ihre zweite Dosis bekommen haben. Lediglich unter 16 Jahren wurden bisher nur Risikogruppen geimpft, knapp 9 Prozent. Die Impfung von jungen Menschen unter 16 ist auch umstritten, weil Junge ein vergleichsweise geringes individuelles Risiko haben.

"Die Impfungen sollten uns da rausholen. Aber nun ist klar, dass sich das Virus auch unter Geimpften ausbreitet. Es bleibt abzuwarten, ob durch die Impfung schwere Krankheiten verhindert werden können," so Þórólfur Guðnason zu RÚV.

Schütze der Impfstoff zumindest gegen schwere Krankheit, müsse man langfristig darüber nachdenken, wie Infektionsschutzmaßnahmen im Inland und Grenzkontrollen künftig aussehen werden. Der vorsichtige Epidemiologe will aber noch keine Prognose dazu abgeben.

Weg von den Inzidenzen

Um die Inzidenz als Richtwert für alles gibt es inzwischen auch in Deutschland eine Diskussion, siehe Coronavirus: Streit um Inzidenzwerte als "Mutter aller Zahlen". Premierministerin Katrín Jakobsdóttir verweist auf Vorschläge, Reisebeschränkungen künftig eher an der Zahl der schwer Erkrankten als an der Zahl der Infizierten auszurichten.

Reisemöglichkeiten sind für das vom Tourismus abhängige Land ein wichtiger Faktor - dass es auf der Karte des europäischen Zentrums für Prävention und Kontrolle von Krankheiten seinen grünen Status verloren hat, ist keine gute Werbung.

Noch ist nicht klar, welchen Weg Island weiter gehen wird. Es lohnt sich aber, die Insel im Auge zu behalten, auch wenn man sich nicht für Vulkane und heiße Quellen interessiert - denn nirgendwo sonst kann man jetzt schon beobachten, wie es nach dem Erreichen des Impfziels weitergehen kann.

Zu Corona auf Island: Island war früh davon betroffen, da einige Skiurlauber das Virus aus Ischgl mitbrachten. Dank des privaten Genlabors DeCode vor Ort (isländische Gründung, heute Teil von Amgen) gab es von Anfang an zusätzliche Fachkompentenz und Laborkapazitäten im Land, auch wenn die Kooperation nicht immer konfliktfrei verlief.

Island hatte auch schnell eine selbst entwickelte Kontaktverfolgungs-App. Die Maske spielte in der ersten Welle wie in vielen nordischen Ländern noch keine Rolle, wurde aber in der sehr frühen zweiten Welle als Hilfsmittel eingeführt. Insgesamt wurden auf Island 7676 Corona-Infektionen nachgewiesen. 30 Menschen sind in dem Zusammenhang gestorben.