Die grüne Cancel-Culture
Parteiausschluss für Boris Palmer? Kaum ist Wahlkampf-Zeit, kehren imperative Gesinnungsethik und Moralismus bei den Grünen zurück. Kommentar
"Das finde ich unsinnig und arrogant. Wir wissen seit der Französischen Revolution, wohin der Tugendterror führt - zu nichts Gutem."
Winfried Kretschmann, 2020
Cancel culture macht uns zu hörigen Sprechautomaten, mit jedem Wort am Abgrund.
Boris Palmer, 7.5.2021
"Unsere Staatlichkeit soll bunter und feministischer werden."
Aus dem Wahlkampf Programm der Grünen, 2021
Erst im letzten Sommer, Anfang August 2020 hatte Winfried Kretschmann seine eigene Partei noch vor "Sprachpolizei" und "Tugendterror" gewarnt. Er wolle sich den Mund nicht von "Sprachpolizisten" verbieten lassen, sagte der Ministerpräsident. Den Trend zu sprachlicher und politischer Korrektheit beobachte er mit großer Skepsis. "Natürlich müssen wir darauf achten, dass wir in unserer Sprache niemanden verletzen, und Sprache formt unser Denken ein Stück weit", sagte Kretschmann damals. "Aber jeder soll noch so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Von diesem ganzen überspannten Sprachgehabe halte ich nichts."
Aber damals war auch noch Wahlkampf in Baden-Württemberg. Inzwischen ist die Wahl haushoch gewonnen, die Fortsetzung der grün-schwarzen Koalition beschlossen, und just an dem Tag, an dem dieses ungeliebte, aber taktisch gesehen alternativlose Bündnis auch vom Landesparteitag der Grünen endgültig abgesegnet wurde, kehren Gesinnungsethik und Moralismus, die man nicht gleich "Tugendterror" nennen muss, aber kann, und die hinter den Kulissen bei den Grünen nie auch nur ansatzweise verschwunden waren, auch auf die offene Bühne zurück.
"Pädogogische Satire"
Jetzt wollen die baden-württembergischen Grünen Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer aus der Partei ausschließen. Der baden-württembergische Landesparteitag beschloss am Samstag mit großer Mehrheit, ein Ausschlussverfahren gegen Palmer einzuleiten.
Anlass ist eine Facebook-Diskussion Palmers mit einem "seiner langjährigen innerparteilichen Gegner", bei der Palmer seinem Gegenüber nach eigenen Worten zu verstehen gab, wie absurd er dessen konstruierte Rassismusvorwürfe finde: "Indem ich ihm einen Rassismusvorwurf präsentiere, der so vollkommen abstrus ist, dass es sogar ihm auffallen müsste. Gewissermassen(!) pädagogische Satire."
Dazu griff Palmer am Freitag ein dem früheren Fuballnationalspieler Dennis Aogo zugeschriebenes Zitat auf und kommentierte: "Der Aogo ist ein schlimmer Rassist." Zudem wiederholte der OB eine Äußerung aus ungeklärter Quelle, wonach Aogo Frauen "seinen N… angeboten" habe (die "irren Ereignisse" sind nach Palmers Worten "in einer Reihe kluger Beobachtungen" hier wiedergegeben).
Seine Äußerung sei erkennbar ironisch gemeint gewesen, so Palmer. Sie solle zeigen, dass man jedem den Rassismusvorwurf machen könne. Dies half ihm nicht.
Denn die grüne Kanzlerkandidaten Annalena Baerbock, gehört zu den Politikern, die den Ausschlussbeschluss jetzt maßgeblich vorangetrieben haben. Baerbock servierte am Samstagvormittag dem Landesparteitag den erwünschten Beschluss auf dem Silbertablett:
Die Äußerung von Boris #Palmer ist rassistisch und abstoßend. Sich nachträglich auf Ironie zu berufen, macht es nicht ungeschehen. Das Ganze reiht sich ein in immer neue Provokationen, die Menschen ausgrenzen und verletzen.
Annalena Baerbock
Palmer habe "deshalb unsere politische Unterstützung verloren. Nach dem erneuten Vorfall beraten unsere Landes- und Bundesgremien über die entsprechenden Konsequenzen, inklusive Ausschlussverfahren".
SPD treibt die Grünen
Flankiert wird sie dabei ausgerechnet vom SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. Klingbeil twitterte bereits am Freitagabend: "Ist das Palmer Zitat echt? Wenn ja: Haben die Grünen sich schon geäußert dazu?"
Palmer sei mit seinen Ausfällen längst Wiederholungstäter. Die Grünen hätten mit Palmer ein Rassismusproblem. "Rassismus ist nie Ironie." Viel zu oft seien die Entgleisungen des Tübinger Oberbürgermeisters in der Vergangenheit unter den Teppich gekehrt worden. "Die Taktik des Durchmogelns geht nicht mehr. Es geht um Haltung", behauptete der Generalsekretär der SPD etwas scheinheilig.
Stunden später schon gehorchte der Parteitag der Kanzlerkandidatin: 161 Delegierte stimmten für die Einleitung eines Ausschlussverfahrens, 44 dagegen bei 8 Enthaltungen. Begründung des von knapp 20 Mitglieder, darunter auch fünf aus dem Kreisverband Tübingen, gestellten Antrags: "Rassistische Äußerungen". Weiter hieß es: "Das Maß ist voll."
Dabei war dieser Antrag eigentlich zu spät gestellt worden. Doch wegen "Dringlichkeit" nahm man ihn doch noch zur Abstimmung an.
Ausgerechnet im Wahlkampfjahr bringen sich die Grünen ohne Not in Schwierigkeiten
Das Verfahren gegen Palmer wird sich mit Sicherheit über lange Zeit hinziehen.
Mit ihm dürfen sich all jene auch in der Grünen-Partei bestätigt fühlen, denen Palmers Verteidigung der Urteilskraft gegen allzu strenge Maßstäbe und die im Grünen-Milieu besonders weit verbreiteten Sprech- und Thematisierungsverbote schon immer ein Dorn im Auge waren. Palmer hat oft betont: Man muss die wahren Probleme ansprechen. Wenn die vernünftigen Leute das nicht tun, sprechen nur die unvernünftigen darüber.
Ausgerechnet im Wahlkampfjahr bringen sich die Grünen damit ohne Not in Schwierigkeiten. Sie halsen sich eine Debatte auf, die sehr schnell von Boris Palmer wegführen wird und zurück zu der größten Achillesferse der Grünen. Man kann sie am besten mit dem Stichwort "Veggie-Day" beschreiben.
Anders gesagt: Der überschießende Moralismus der Grünen. Moralismus, um kurz daran zu erinnern, ist keineswegs identisch mit Moral. Es geht bei der Kritik des Moralismus keineswegs um Kritik der Moral. Moralisierung bedeutet: Das Setzen der eigenen Position als absolut und alternativlos. Jede andere Position gilt dem Moralismus als unmoralisch, grundsätzlich unmöglich und oft genug sogar verboten.
Der Moralismus ist das neue Opium der Grünen. Die Grünen, die einst mit einfallsreicher und oft genug ironischer Kritik das Spießertum der Bundesrepublik herausforderten, sind inzwischen selbst zur neuen Spießerpartei mutiert, in der aus Kritik Ressentiment geworden ist. Das Ressentiment der Angepassten gegen die weniger Angepassten, mit dem sich Bürger mit schlechtem Gewissen zum Gewissen der Gesellschaft aufwerfen.
"So wird ein repressives Meinungsklima geschaffen"
Boris Palmer selbst hatte schon am Samstag auf Facebook erklärt, er habe eine Debatte mit dem Stilmittel der Ironie ins Groteske überzeichnet: "Meine Kritik am Auftrittsverbot von Aogo und Lehmann mit Rassismus in Verbindung zu bringen, ist so absurd, wie Dennis Aogo zu einem 'schlimmen Rassisten' zu erklären, weil ihm im Internet rassistische Aussagen in den Mund gelegt werden."
Komplett untergegangen ist in der Debatte nämlich, dass eine Äußerung des früheren Nationalspielers Aogo dazu geführt hatte, dass Aogo nicht mehr als Experte beim Fernsehsender Sky auftreten darf. Aogo hatte am Dienstagabend im Rahmen einer Champions-League-Übertragung den Ausdruck "Trainieren bis zum Vergasen" verwendet und sich anschließend für diesen verbalen Fehltritt entschuldigt.
Palmer beklagt nun ein "repressives Meinungsklima" und schrieb dazu und zum Rauswurf von Ex-Nationaltorwart Jens Lehmann bei Hertha BSC: "Lehmann weg. Aogo weg. Ist die Welt jetzt besser? Eine private Nachricht und eine unbedachte Formulierung, schon verschwinden zwei Sportler von der Bildfläche. ... der Furor, mit dem Stürme im Netz Existenzen vernichten können, wird immer schlimmer."
Am Samstagvormittag teilte Palmer in einer Entgegnung auf die Kritik mit:
Ich habe Aogo gegen einen unberechtigten Shitstorm in Schutz genommen. Daraus wird durch böswilliges Missverstehen ein Rassismusvorwurf. So wird ein repressives Meinungsklima geschaffen. Ich halte es geradezu für eine Bürgerpflicht, diesem selbstgerechten Sprachjakobinertum die Stirn zu bieten.
Boris Palmer
Dem Landesparteitag gehe es darum, abweichende Stimmen zum Verstummen zu bringen. "Daher kann und will ich nicht widerrufen." Allerdings empfahl er dem Parteitag, dem Antrag für ein Ausschlussverfahren zuzustimmen. Dann habe er endlich die Gelegenheit, sich gegen die Anwürfe zu verteidigen.
"Das beschädigt den Kern der liberalen Demokratie"
In der "Welt am Sonntag" äußert sich Palmer ausführlicher:
Dennis Aogo soll von der Bildfläche verschwinden, weil er gesagt hat, Spieler "trainieren bis zur Vergasung". Ich wurde als Enkel eines Juden oft mit den Worten gehänselt, die hätten nur vergessen, meinen Vater zu vergasen. Wenn jemand fordern könnte, Aogo solle nicht mehr im TV auftreten, dann wohl ich. Ich habe aber das Gegenteil getan und ihn in Schutz genommen. Die Welt wird einfach nicht besser, wenn man Menschen gesellschaftlich ächtet und ihre berufliche Existenz vernichtet, weil sie einen ungeschickten Satz gesagt haben, den man absichtlich falsch versteht und unbedachten Sprechern eine Haltung andichtet, die sie gar nicht haben. Das passiert leider in letzter Zeit immer häufiger und das Phänomen hat einen Namen: Cancel Culture.
Gegen diese um sich greifende Ideologie wehre ich mich mit jeder Faser meines politischen Daseins. Wer das verstehen will, muss wissen, dass ich als Kind meinen Vater in der JVA Stammheim besucht habe. Der engste Kontakt bestand darin, meine Hände auf eine Panzerglasscheibe zu legen. Er war 18 Monate im Gefängnis, unter anderem weil er Nazis Nazis nannte. Ich kann Ächtung und Existenzvernichtung wegen angeblich falscher Wortwahl niemals akzeptieren. Das beschädigt den Kern der liberalen Demokratie.
Boris Palmer, Welt am Sonntag
Er werde sich dem stellen, so Palmer gegenüber der Sonntagszeitung und kritisierte das "um sich greifende Jakobinertum der 'Generation beleidigt' (Caroline Fourest) und der 'selbstgerechten Lifestylelinken' (Sahra Wagenknecht)", das sich zu einer ernsthaften Gefahr für die offene Gesellschaft entwickle. "Dem entgegenzutreten halte ich für eine Bürgerpflicht. Und einen ökologischen Imperativ. Nur eine liberale grüne Partei kann hoffen, dieses Land erfolgreich in die Zukunft zu führen."
Wird es eng für Boris Palmer?
Könnte es eng werden für Boris Palmer? Der Weg bis zu einem Partei-Ausschluss ist weit. In der Satzung der Grünen heißt es:
Der Ausschluss kann erfolgen, wenn das Mitglied vorsätzlich gegen die Satzung oder Ordnung der Partei verstößt und ihr damit schweren Schaden zugefügt hat. Er wird durch die zuständige Kreisschiedskommission ausgesprochen, wo eine solche nicht vorhanden ist, durch das Landesschiedsgericht. Er kann nur auf Antrag des Vorstandes oder des höchsten Organs einer Gliederung, der das Mitglied angehört, ausgesprochen werden. Gegen einen Ausschluss durch die Kreisschiedskommission kann das Landesschiedsgericht als Berufungsinstanz binnen einer Frist von 30 Tagen ab Bekanntgabe des schriftlichen Beschlusses angerufen werden. Gegen erstinstanzliche Entscheidungen des Landesschiedsgerichts ist Berufung an das Bundesschiedsgericht möglich.
(P.S. Mittlerweile hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann Palmers Aussagen kritisiert. "Solche Äußerungen kann man einfach nicht machen. Das geht einfach nicht." Der Angegriffene fand die Kritik fair: "Man beachte, was da alles nicht steht: 'Palmer ist ein Rassist. Palmer muss ausgeschlossen werden. Palmer verletzt die grünen Grundwerte. Palmer ist ein ekelhafter Provinzfürst, der nicht verkraftet, dass die Partei ihm eine Karriere verwehrt etc pp.' Streit auf Kretschmanns Niveau integriert eine Gesellschaft. Sie erlaubt dem Kritisierten, Selbstkritik zu üben. Er verlangt keine Unterwerfung, er ächtet nicht.")