zurück zum Artikel

Die herrschende Lehre beklagt die Ungleichheit!

Höchste Vorsicht ist geboten

In Reaktion auf mein kurzes Stück zur Ungleichheit [1] hat mir ein Leser (danke dafür!) den Leitartikel [2] aus dem Spiegel vom 11. März zugeschickt. Der beschäftigt sich, welch Wunder, ebenfalls mit der Ungleichheit - ich hatte ja schon vermutet, dass die Chefredakteure telefoniert haben. Auch in dem Artikel kommt Marcel Fratzscher ausführlich zu Wort. Im Übrigen bestätigt der Artikel exakt das, was ich vermutet hatte.

Die ganze Argumentation läuft nach dem Motto: Nachdem die von der Politik gewollte und unglaublich "erfolgreiche" Ungleichheit Millionen Jobs geschaffen hat, müssen wir jetzt dem Volk ganz schnell dicke weiße Salbe auf die Wunde schmieren, damit es die Klappe hält. Wörtlich heißt es im Spiegel: "Die Hartz-Reformen waren richtig, um Millionen Arbeitslose in Jobs zu bringen. Nun sollte es darum gehen, möglichst viele prekäre Minijobs und frag- würdige Werkverträge wieder in reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu verwandeln, mit Verdiensten jenseits des Mindestlohns."

Dann kommt genau die Argumentation, die man üblicherweise benutzt, um dem dummen Volk Sand in die Augen zu streuen. Im Spiegel heißt es:

Weil Reiche einen größeren Anteil ihres Einkommens auf die hohe Kante legen, kann die Wirtschaft aus der Balance geraten, wenn sich die Einkommen allzu sehr auf die oberen Schichten konzentrieren. Es wird dann zu viel gespart in der Wirtschaft, die Fabriken der Konsumgüterhersteller sind nicht ausgelastet, und allzu viel Kapital fließt ins Ausland ab, weil sich innerhalb der eigenen Grenzen nicht genügend Investitionsmöglichkeiten bieten. Genau so wurde die deutsche Konjunktur über lange Jahre gebremst, sind viele Fachleute überzeugt. So wuchs der Konsum in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts nur etwa halb so schnell wie das Sozialprodukt.

Ist das nicht genial? Das klingt doch ungeheuer einleuchtend, oder? Hätten wir nur weniger Ungleichheit in der Einkommensverteilung, schon gäbe es mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze. Denn es ist empirisch eindeutig belegt, dass in den unteren Einkommensschichten die Sparneigung geringer ist als in den oberen: Von einer Geldeinheit, die jemand aus der Mittelschicht verdient, wird mehr ausgegeben als von einer Geldeinheit, die jemand in der Oberschicht verdient. Und das ist doch das Problem, vor dem wir stehen, dass zu viel gespart wird und zu wenig nachgefragt, nicht wahr?

Denkt man einen Moment darüber nach, kommen einem aber doch Zweifel. Warum bezieht sich der Spiegel nur auf die unterschiedlichen Sparquoten der Einkommensschichten, wenn er über das Verhältnis von arm zu reich spricht? Müsste er nicht auch etwas über das Gesamteinkommen beider Gruppen selbst sagen?

Dass bei gegebenem Einkommen die Konsumnachfrage größer ist, wenn die Einkommensverteilung mehr zugunsten der Einkommensschichten mit der höheren Konsumneigung (bzw. der geringeren Sparquote) ausgefallen ist als zugunsten der anderen Gruppe, ist in der Tat nicht kompliziert, sondern eine simple Überlegung, die über die Kenntnis der Grundrechenarten hinaus keinen Grips erfordert.

Die Frage ist nur: Ist das Einkommen der verschiedenen Gruppen vorgegeben bzw. wie ist es zustande gekommen? Genügt es, sich um eine Verteilung zugunsten der unteren Einkommensschichten zu kümmern, damit das Wachstum angeregt wird, oder braucht man eine ganz andere Politik?

Bei einer Umverteilung zulasten der Unternehmen würde jeder Unternehmer, aber auch jeder Neoklassiker, sofort widersprechen und auf die Investitionsnachfrage verweisen, die durch eine Umverteilung weg von den Gewinnen hin zu den Löhnen geschwächt würde.

Da die Investitionsnachfrage eben auch Bestandteil der Gesamtnachfrage ist, würde - so das Argument - eine Umverteilung zulasten der Gewinneinkommen in der Summe mittel- bis langfristig schädlich wirken, weil sie die Sachinvestoren abschrecke. Damit sei in puncto Arbeitsplätze nach einem kurzen Strohfeuer der Konsumnachfrage langfristig nichts gewonnen, womöglich durch den Vertrauensverlust bei den Sachinvestoren sogar mehr Schaden angerichtet als ohne Strohfeuer.

Stellvertreterkrieg und eine Schieflage

Deswegen gibt es diesen Streit überhaupt nicht. Man führt einen Stellvertreterkrieg, um die eigentliche Auseinandersetzung, um die es geht, zu vermeiden. Sehen wir noch einmal genauer hin. Man spricht üblicherweise von der Mittelschicht, von den weniger Vermögenden hier und den Reichen dort (also von der personellen Einkommensverteilung). Man spricht nicht wie die richtigen Neoklassiker von den Lohneinkommensbeziehern und den Gewinneinkommensbeziehern (also der funktionellen Einkommensverteilung).

Zwar haben beide Betrachtungsweisen eine große Schnittmenge - viele Gewinneinkommensbezieher gehören zu den Reichen, viele abhängig Beschäftigte zu den weniger Betuchten. Aber man vermeidet die platte Unterscheidung zwischen Beschäftigten und Unternehmern. Warum? Weil dann die Frage, wie es überhaupt zu der beklagten Ungleichheit kommen konnte, sehr schnell zum Thema Löhne führen würde? Weil man dann Farbe bekennen müsste, ob man unter der Verringerung von Ungleichheit hauptsächlich die Veränderung der Sekundärverteilung durch den Staat versteht oder die Veränderung der Primärverteilung?

Der entscheidende Fehler der Argumentation im Spiegel liegt darin, dass sie nicht erklärt, wie die Schieflage bei den Einkommen entstanden ist. Wer aber die Ursache nicht anspricht, hat auch keine Lösung. Und da kommt die Schwachstelle der Argumentation der gesamten herrschenden Lehre über die Ungleichheit zum Vorschein: Auf dem Weg in die Schieflage ist nämlich die durchschnittliche Sparquote keineswegs laufend gestiegen (weder in den USA noch z.B. in Deutschland).

Das hätte sie aber tun müssen, wenn die Ursache für die Wachstumsschwäche und die Instabilität der Marktwirtschaft grundlegend etwas mit den unterschiedlichen Sparquoten der verschiedenen Einkommensschichten zu tun haben soll. Eine solche Erklärung muss nämlich denen vorschweben, die raten, die Wachstumsschwäche mit Hilfe einer geringeren Spartätigkeit zu überwinden, was man dadurch erreichen will, dass man dafür sorgt, dass denen mehr Einkommen zufließen, die gemessen an ihrem Einkommen weniger sparen.

Wenn es aber auf dem Weg in die Schieflage nicht am Sparquotengefälle der Einkommensschichten gelegen hat, was war dann die Ursache? Es war die Einkommensentwicklung selbst! Die Einkommen der Arbeitnehmer sind über viele Jahre überhaupt nicht gestiegen, weil man glaubte, über die Abkoppelung der Arbeitnehmereinkommen die Arbeitslosigkeit beseitigen zu können, genauso wie der Spiegel es suggeriert.

Die schiefe Einkommensverteilung

Die schiefe Einkommensverteilung ist unmittelbar Folge der hohen Arbeitslosigkeit und einer neoklassischen Therapie zu ihrer Bekämpfung. Einerseits sanken unmittelbar bei den Arbeitslosen die Einkommen, weil sie im Vergleich zu ihrem früheren Lohn deutlich geringere Transferleistungen bezogen, andererseits blieben aber auch die Einkommen der Noch-Beschäftigten zurück, weil die Machtverschiebung an den Arbeitsmärkten zuungunsten der abhängig Beschäftigten und die deutsche Politik der Schröder-Regierung deren Position bei den Tarifverhandlungen entscheidend geschwächt hat.

Dass eine solche Schwäche auf den unteren Lohngruppen besonders lastet, ist klar, weil die Entlassungsdrohung bei den weniger Qualifizierten am stärksten zieht. Die haben nämlich nach Verlust des Arbeitsplatzes den vergleichsweise größten Konkurrenzdruck bei der Arbeitsplatzsuche zu verkraften, weshalb sie beim Lohn am erpressbarsten sind. Insofern ist es kein Zufall, sondern vollkommen logisch, dass eine insgesamt schlechte Lohnentwicklung mit einer zunehmenden Ungleichverteilung innerhalb der Gruppe der Arbeitnehmer einhergeht.

Das ist folglich eine ganz andere Story bei der Erklärung der Zusammenhänge: Die zunehmende Ungleichverteilung innerhalb der Gruppe der Lohnbezieher ist dann nämlich nicht der ursprüngliche Grund für die Wachstumsschwäche, sondern ihre Folge. Und die zunehmende Ungleichverteilung zwischen Gewinneinkommensbeziehern und abhängig Beschäftigten ist eine Folge der Verschiebung der Machtverhältnisse an den Arbeitsmärkten. Dass die Ungleichverteilung dann ihrerseits die schlechte gesamtwirtschaftliche Entwicklung zementieren hilft, ist sicher richtig, aber eben nicht des Pudels Kern.

Warum spricht der Spiegel nicht (wenigstens auch) über sinkende oder nur wenig steigende Einkommen der Arbeitnehmer insgesamt? Nur das erklärt, warum die Konsumnachfrage in den ersten zehn Jahren nach der Jahrhundertwende nicht gestiegen ist, nicht die zunehmende Sparquote. Die Realeinkommen der Arbeitnehmer sind weit weniger gestiegen, als es von der durchschnittlichen Produktivitätsentwicklung her möglich gewesen wäre? Darüber aber wollen wir (die Vertreter der herrschenden Lehre) lieber nicht reden, weil wir ja fest davon überzeugt sind, dass das Millionen Arbeitsplätze geschafft hat.

Das Sparquotenargument auf die Eurokrise angewendet

Wendet man das Sparquotenargument auf die Eurokrise an, sieht man unmittelbar wie falsch es ist: In Südeuropa ist in den letzten beiden Jahren die Nachfrage eingebrochen und viele Jobs sind weggefallen, gleichzeitig sind die Löhne der Arbeitnehmer absolut stark gesenkt worden. Sank die Nachfrage in erster Linie, weil sich die Einkommensverteilung zugunsten der Reichen geändert hat? War es nicht so, dass die Einkommen allgemein gesunken sind und die davon betroffenen Menschen weniger nachgefragt haben, auch wenn sich ihre Sparquote und die der ganzen Wirtschaft nicht geändert haben?

Oder noch einmal anders gefragt: Selbst wenn sich im Zuge der Krise die Einkommensverteilung zugunsten der Armen verändert hätte oder deren Sparquote gesunken wäre (was sogar der Fall gewesen sein mag), wäre es nicht trotzdem zu einem gewaltigen absoluten Nachfrageausfall gekommen, wenngleich er vielleicht ein wenig geringer ausgefallen wäre als tatsächlich geschehen?

Was hier zutage tritt, ist die entscheidende Schwäche der herrschenden Lehre. Die Funktionsweise des Arbeitsmarktes darf niemals in Frage gestellt werden. Denn der muss ja, wie von den Neoklassikern behauptet, wie ein Kartoffelmarkt funktionieren. Weil man den nicht in Frage stellen darf, beschäftigt man sich lieber mit der Frage, wer wie viel von dem selbstverständlich hinzunehmenden Arbeitsmarktergebnis, dem Arbeitslohn, spart und dem Wirtschaftskreislauf dadurch an Nachfrage entzieht.

Folglich fordert man nur eine leichte Korrektur der scheinbar objektiven Einkommensergebnisse des Arbeitsmarktes vonseiten des Staates, dazu ein wenig mehr Bildung und ein bisschen mehr Vermögenssteuer, dann ist alles gut.

Der Arbeitsmarkt funktioniert aber nicht wie ein Kartoffelmarkt, sondern bringt, wie man 2008/2009 gesehen hat, absolut falsche Ergebnisse zustande. Damals entstand neue Arbeitslosigkeit, obwohl die Löhne nicht hoch, sondern niedrig waren. Nur wer das zur Kenntnis nimmt und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zieht, kann wirklich etwas zu einem neuen Verständnis der wirtschaftlichen Abläufe beitragen und hilfreichen wirtschaftspolitischen Rat geben. Alles andere ist Augenwischerei und weiße Salbe.

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung von der Website flassbeck-economics [3] übernommen. Heiner Flassbeck will hier versuchen, "der Volkswirtschaftslehre eine rationalere Grundlage zu geben". Von Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas ist das eBook "Nur Deutschland kann den Euro retten" [4] erschienen. Siehe den exklusiven Auszug in Telepolis: Nur Deutschland kann den Euro retten! [5].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3379094

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.flassbeck-economics.de/die-ungleichheit-die-man-heute-beklagt-die-war-und-ist-gewollt
[2] https://zeitungspiraten.net/derspiegel/heft-11-2016/sozialpolitik-das-schattenreich-2040.html
[3] http://www.flassbeck-economics.de/
[4] http://www.westendverlag.de/buecher-themen/programm/nur-deutschland-kann-den-euro-retten-heiner-flassbeck-costas-lapavitsas.html#.VMEBWC6X-Fs
[5] https://www.heise.de/tp/features/Nur-Deutschland-kann-den-Euro-retten-3208216.html