Die im Lichte sieht man nicht

Bernhard Wiens

"Der Berg", aufgetürmt von "raumlaborberlin", stemmte sich gegen den Abriss des "Palastes der Republik". Bild: David Baltzer/bildbuehne.de

Weniger Kunstlicht im Stadt- und Hausraum wäre mehr

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Als Schaufenster Mitte des 18. Jahrhunderts erfunden wurden, waren sie unspektakulär. Es sollte ein Jahrhundert dauern, bis mit großflächigen Glas auch die Technik zur künstlichen Ausleuchtung der ausgestellten Waren aufkam. Ihren Triumph erlebte diese Beleuchtungstechnik Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein gleichmäßig erleuchtetes Schaufenster unterschied sich in nichts von seinem Bild. Die Beleuchtung modelliert die Oberflächen, zieht den Betrachter als Mitspieler ins Bild hinein, bis er vergisst, dass etwas fehlt.

Das geht auf der Straße so weiter. Aus punktuellen Funzeln, die nur sich selbst beleuchteten, wurden mit dem Aufkommen des Gaslichts Lichterketten, bis eine moderne Straßenbeleuchtung möglichst alle Kontraste von Hell und Dunkel glättete, um Verkehrssicherheit zu schaffen. Heute liegen Lichtglocken über den Städten. Wieder fehlt etwas: der Nachthimmel. Und auf Erden der Schatten. Der glänzende Triumph Elektras hat auch die Architekten ergriffen. Als hätte der unheimliche Unbekannte aus Chamissos Roman1 den Schatten eingerollt und in die Tasche gesteckt, nachdem er ihn Peter Schemihl abgekauft hat. Oder hat die Motte Mensch ihren eigenen Schatten aufgefressen?

"Wir haben gesehen, dass Architekten des 20. Jahrhunderts die Essenz ihrer Entwürfe nicht ohne weiteres an die Wirkung von Licht und Schatten binden"2 Auf ein Dutzend Fachveröffentlichungen zur Verwendung von Licht kommt vielleicht eine zum Schatten. Der vergessene Schatten wird wie in einem umgedrehten Schildbürgerstreich nachgetragen. Dabei wusste schon Leonardo da Vinci, dass Licht und Schatten in dauernder Gemeinschaft den Körpern verbunden sind. Der Schatten ist, obwohl substanzlos, gestalterisches Element. Als Eigenschatten hat er die paradoxe Wirkung, die Textur von Materialien und die Struktur von Oberflächen sichtbar zu machen. Als Schlagschatten betont er die Faltung des Gebäudes und verankert es auf dem Grund. Er empfängt den Betrachter und geleitet die Wahrnehmung, meist unbewusst. Die Entwurfsarbeit in Zeiten des Bleistifts hatte noch eine Ahnung davon. Die Herausarbeitung des Kontrastes und der Zwischentöne erschließt Raum und Weite.

Schaffen Räume Schatten, oder schaffen Schatten Räume? Die Gerichtetheit entzieht sich meist der Kognition. Entscheidend ist die Schnittstelle von Licht und Dunkelheit. Für den Architekten Louis Kahn ist jener Umschlag von An- und Abwesendem der schöpferische Moment, den er sogar für das Heilige der (Bau-)Kunst hielt. Die Grenzziehungen werden durch den Halbschatten wieder transzendiert.

Das Spiel von Licht und Schatten ist, nimmt man die Photographie hinzu, ein Schlüssel zur Moderne. Wie der Schatten das Innere des umbauten Raumes nach außen zu zerren scheint, gehört es zu den klassischen Aufgaben des Architekten, das natürliche Licht einzulassen, zu führen und zu diffundieren. Umgekehrt hat Erich Mendelsohn bei seinem Stuttgarter Kaufhausbau (1926) das Innere durch elektrisches Licht freigelegt, das intensiv nach außen strahlt. Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt - das ist die Bewegungsrichtung des Raumes, der sich vom Tragwerk löst und in Fluss gerät.

Wer kann, integriert das natürliche Licht von vorneherein in die Architektur und stimmt das Kunstlicht darauf ab. Le Corbusier zitierte das Licht ins Bauwerk. Die Lichtschlitze zwischen geschwungenem Dach und Wandmauern in der Kapelle von Ronchamp nannte er "Lichtwölbung". Durch Langfenster in einem Wohnhaus schnitt er die Landschaft aus, die sich dem Blick als Panorama darbietet. Das Licht wandelt sich und verwandelt den Gegenstand. Mies van der Rohe operierte mit Spiegelungen, der Alternative zur Verdoppelung durch Schatten, mit Lichtbrechungen und Lichtdurchlässigkeit. Transparentglas, Wandscheiben aus opaken Mineralien oder orthogonale Wasserbassins dienten ihm zur Synthese von Fläche und Licht bei ständiger Variation. Die Geometrien spielen bei struktureller Klarheit mit Projektionen von innen und außen. Sein nie gebauter erster Hochhaus-Entwurf für die Friedrichstraße in Berlin nutzt ebenfalls die sowohl durchsichtigen als auch reflektierenden Eigenschaften von Glas. Wände, die in leichtem Winkel zueinander stehen, nehmen das Sonnenlicht wie ein Prisma auf. Die wechselnde Bestrahlung führt zu "kinetischen Reflexionen auf den Oberflächen transluzider Formen".

Elektropolis

Mies reagierte damit auf Bruno Tauts und Paul Scheerbarts "Glasarchitektur" und den Kristall, in dem sie die Architektur kosmisch verdichtet sahen. Das im Kristall gebrochene Sonnenlicht legt sich in Farben auseinander.

Das griff die Gruppe 'De Stijl' auf, deren bekanntester Vertreter, der Maler Piet Mondrian, sich konsequent mit den Grundfarben Rot, Blau, Gelb, mit den Nichtfarben Schwarz und Weiß und mit dem rechten Winkel begnügte. Licht und Schatten haben sich in der Flächigkeit jener Nichtfarben gesetzt, auf einer Ebene. Aber selbst wenn Mondrian auf perspektivisches Zeichnen verzichtete: Durch die Distanzwirkung der farbigen Differenzierung der Flächen entsteht die Empfindung einer Tiefendimension, Die Gemälde dieses "Neoplastizismus" sind "Raumbilder". Sie mussten lediglich in eine vertikale Achse ausgezogen werden, und schon entstanden Häuser, am bekanntesten das Rietveld-Schröder-Haus in Utrecht. Aber nicht nur Häuser, sondern Möbel, Theaterkostüme und Reklamesäulen konnten diesem Prinzip folgen, das nunmehr Sache des Designs und der Serie war.

Der Signalcharakter und die Tiefenwirkung der Farben werden durch Hinterglas-Beleuchtung verstärkt. Wird dies gepaart mit dem Zeichencharakter der Werbesprache, sind Reklamelampen und Leuchtsäulen entstanden. Auf diese wendete Walter Dexel den Mondrian-Stil an. Die Verbindung von Kunst und Gewerbe durch Typisierung und Serialisierung war vollkommen. Flankiert von der Elektrifizierung des Straßenlichts und den Waren, die in den Schaufenstern zu Fetischen erhellt wurden, waren die Nächte in den 20ern grell - "geschminkt"? - und schartig geworden. Zeit der Grenzerfahrungen. Moholy-Nagy fertigte kinetische Lichtplastiken.

Die Nachtlandschaft der Städte signalisierte Verheißung, Verführung und Verbrechen. Die Beleuchtung schaffte das aus der Dunkelheit Herausgehobene in eine andere Wirklichkeit hinein. Die Nazis denunzierten es als jüdische Asphaltkultur. Das war das Symptom einer Angst; die Schatten waren immer länger und ausgeprägter geworden. Das Unheil warf seine Schatten voraus. Der Verursacher des Schlagschattens war nicht sichtbar. Um so monströser wirkte der Schatten in Filmen wie "Das Kabinett des Dr. Caligari" oder "Nosferatu". Er warf die höhere, die sublimierte Wirklichkeit an die Wand und aufs Trottoir, das eigentliche Wesen des unheimlichen Verfolgers, das einen einholt und atmosphärisch in Bann schlägt. In den 20er Jahren flackert der Wahnsinn des Doppelgängermotivs wieder auf. Die Homunculi, die auf die bürgerliche Gesellschaft losgelassen wurden, gingen aus elektrischen Laboren hervor. Die Prometheus-Sage vom Feuer, das seinem Anwender Unheil bringt, wiederholte sich.

Berlin war Maschinenstadt und Elektropolis geworden, bevor Albert Speer in Nürnberg Lichtdome inszenierte: von Flak-Scheinwerfern himmelwärts geschickte Strahlen-Staketen, die die Masse zusammenschweißen sollten. Künstliches Licht war der Ersatz für eine Architektur, die es noch nicht gab und nie geben sollte. 1945 gingen die Lichter aus. Die Kreuzberger konnten wieder den Sonnenuntergang besichtigen. Die Stimmung in den 50er Jahren war eher danach, sich einen "Film noir" anzuschauen. Der Schatten war aufs Private gefallen. Schuld und Unschuld sind in der Person des heimatlosen Filmhelden zusammengezogen. Diagonale Streifen addieren sich zu einem Netz aus Schattenlinien. Solche Hell/Dunkel-Kontraste haben in der Architektur eine längere Tradition, die mit der Eisen/Glasbauweise des Londoner Crystal Palace von 1851 beginnt. Die Transparenz des Glases ist nur wahrzunehmen, wenn der Lichteinfall durch Sprossen intermittiert wird. Der Konstrukteur kam aus dem Gewächshausbau.

Bis in die 50er Jahre gestand das Kino, dessen Beleuchtungstechnik vom Theater übernommen war, den Personen ihren Schatten zu und damit Ambivalenz, die moralisch uneindeutig war. Danach ging es mit der Aufhellung weiter, auch im realen Straßenland und der Architektur. Aus dem Architekturlicht wurde eine Lichtarchitektur. "Festivals of Light" oder "Luminalen" erleuchten, nein: verzaubern die Städte zu emblematischen Highlights. Meist sind es Brennpunkte des Konsums.

Im Unterschied zu den 20er Jahren sind heute Kunst und Kommerz auseinandergefallen. Wie austauschbar Stadtmarketing die Städte auf dem globalen Markt macht, kann an jenen Lichtinszenierungen beobachtet werden; sie wirken wie Basteleien aus transparentem Buntpapier. Und nicht nur zur Weihnachtszeit... Stadtplaner sehen mit jenem Kulissenzauber, der alles zudeckt - auch die mythologischen Anklänge ("Lichterfest") - ihre Felle davon schwimmen und fragen: Was soll mit jener Ausleuchtung projizert werden? Marx würde sagen: leerer Schein. - Entdeckungen von Lichtkunst sind hingegen im Kleinen zu machen.

Seit einiger Zeit gibt es kommunale Masterpläne zur Stadtbeleuchtung. Oft wird in ihnen ein gestalterisches Feuerwerk veranstaltet, um im letzten Absatz bußfertig nachzutragen: Wir wollen den Energieverbrauch reduzieren. Die Dialektik dieser Auf-Klärung (in Frankreich mit Licht gleichgesetzt) lag bisher darin, dass eine relative Herabsetzung des Energieverbrauchs durch eine absolute Heraufsetzung der Helligkeitswerte kompensiert wurde. Wurden ursprünglich nur Laternen getragen, die zum Erkennen durch andere dienten und waren Lichtquellen nur an den Häusern aufgehängt, so kam mit der Einführung des Gas- und dann des elektrischen Lichts die Parole auf: Die Nacht zum Tag machen.

Zuvor schon galten in der Mitte der Straße aufgehängte Laternen als kleine Sonnen - in der Zeit des Sonnenkönigs versteht sich. Frankreich war im Ausbau der öffentlichen Beleuchtung führend. Zuständige Behörde war die Polizei. Die sichere Stadt war schon damals die durch Beleuchtung überwachte Stadt. Im 19. Jahrhundert kam das halböffentliche Licht der Geschäfte und Vergnügungs-Etablissements dazu.

Die Sphäre des kommerziellen Lichts verhält sich zu der des polizeilichen wie die bürgerliche Gesellschaft zum Staat.

W. Schivelbusch

Die Pariser Weltausstellung von 1900 war eine Apotheose des künstlichen Lichts. Allegorische Verkörperungen, etwa durch die Göttin Diana, gipfelten im orientalisch anmutenden "Palast der Elektrizität". Heller hieß mehr, hieß Vermehrung des Tauschwerts der Waren durch ihre Selbst-Anbetung. Die Licht-Gestalten waren Allegorien des Mehrwerts. Der Obskurantismus war besiegt: Tag und Nacht waren nivelliert. Die Zeit war zum Kontinuum geworden. Beleuchtung konnte aber auch in der Obhut der Bürgerschaft liegen. In Zürich hatte die napoleonische Besatzung eine moderne Straßenbeleuchtung eingeführt. Als die Besatzer abzogen, beschlossen die Bürger, dass es wieder dunkel werde.

Zwischenreich Halbdunkel

Haben wir vor der "Lichtverschmutzung" kapituliert, vor der Totalität von Lichtquellen, die unsere Adaptionskraft letztlich überfordern? Die Blendung durch Straßenlicht stört den Schlaf der Anwohner und beeinträchtigt die Blüte mancher Pflanzen. Eine Störung (Trespass) ist aber auch eingetreten, wenn das künstliche Licht den Sternenhimmel überblendet. Ein Forschungsverbund Verlust der Nacht erkundet Möglichkeiten der Umkehr: Wie können Lichtemissionen, vergleichbar denen von Lärm, vermindert werden? Besteht nicht in Zeiten des Lichtsmogs ein Bedürfnis nach Dunkelheit?

Astronomen, die von ihren Observatorien aus nur noch eingetrübt den Himmel beobachten können, machen sich für die Einrichtung von Dark Sky Parks stark. In Deutschland bemühen sich die Naturparks im Westhavelland und in der Rhön um diesen Status. Im innerstädtischen Bereich, in der Berliner Leibnizstraße, wird nach einer Umstellung der Beleuchtung der Schlaf der Anwohner untersucht und werden die Rufe der Fledermäuse abgehört. Ein warmes, gedämpftes Licht gehört zum historischen Bestand der Stadt, die mit 43.500 gasbetriebenen Straßenleuchten Weltspitze ist. Wer auf dem ungleichmäßig ausgeleuchteten Trottoir von Laterne zu Laterne eilt, sieht sich von seinem eigenen Schatten überholt. Das Gaslicht glänzt mit der Abwesenheit von Problemen, die die Wissenschaftler bei den neuen Lichtträgern wie LED erst abarbeiten müssen: zu hoher UV- und Blauanteil.

Aber Betrieb und Wartung der Gasleuchten kosten ein Vielfaches. Die Wissenschaftler versprechen für die nahe Zukunft die Imitation der Werte des Gaslichtes durch LED, das dann in Leuchten eingesetzt würde, welche die Gas-Aufsatzleuchten imitieren. Das gründerzeitliche Straßenbild soll bewahrt werden. Geltende Normwerte zur Helligkeit werden vom Gas unterschritten, aber Angsträume sind meist gefühlte Räume und decken sich nicht mit der Kriminalitätsstatistik.

Große Maler wie Goya nähern sich Grenzen, an denen die Anwesenheit eines Abwesenden zu verspüren ist. Das Unheimliche möchte heimisch sein. Die Bildräume werden aus Schatten geschöpft, die bei De Chirico - als seien sie es, die dem Licht die Richtung und Helligkeit vorgeben - von Arkaden ausgehen und wieder in diese zurück. Die Arkaden sind Räume vor und hinter dem Raum. -

Der Schatten ist die Urform der Kunst. In seiner 'Naturgeschichte' erzählt der römische Schriftsteller Plinius d.Ä., wie ein junges Mädchen die Silhouette seines schlafenden Geliebten in der Nacht vor dem Abschied an der Wand nachzeichnet. Der Vater des Mädchens füllt dann die Umrisse mit Ton und brennt ihn zum Relief-Medaillon. Platons Höhlengleichnis ist dagegen der Ursprungsmythos der Erkenntnis. Die ihrer Fesseln Befreiten, die ans Sonnenlicht kommen, erkennen die Schatten in der Höhle als Trug. Aber auch Platon gibt den Schein nicht auf. Zum einen ist schon der Schatten mehr als nur Verdoppelung. Er ist das magische Urbild des Menschen, Physiognomie seiner Seele.

Zum anderen geht die ikonographische Entwicklung weiter über Wasserspiegelungen und gemalte Bilder bis heute zu Photographien. Aber Kunst sind all diese Erscheinungen, wenn sie nicht einfach nachahmendes Abbild (Mimesis) sind, sondern Simulakrum (Ähnliches). Damit enthalten sie auch etwas Anderes. Die Erscheinungen haben realen Bestand. Plinius und Platon, Kunst(genuss) und Erkenntnis gehören zusammen, wie schon im asiatischen Schattentheater.

Wir, die Aufgeklärten des industriellen Zeitalters, wissen nicht, dass wir sogar in die Höhle zurück können, ohne dem Tod zu verfallen. Englische Landschaftsgärten wie das Wörlitzer Gartenreich versinnbildlichten in ihrer Gestaltung die Passage mit dem Nachen über den Styx ins Totenreich. Die Rückkehr ist möglich, mit Risiko zwar, aber auch mit Gewinn: Nur dem, der sich seiner Schatten bewusst ist, wächst das Licht der Erkenntnis zu.

Wer keinen Nachen mieten will, kann schon bei sich zu Hause anfangen. Der japanische Schriftsteller Tanizaki Jun'ichiro beschreibt seismographisch genau die Störung des Schattens durch die westliche Zivilisation. Er hält an der Abdämpfung des Tageslichts in den Räumen durch transparente Materialien wie das japanische Papier fest, wodurch sich erst die Schönheit der Gegenstände erschließe und zugleich Ruhe und Frieden für die Menschen. In der Dämmerung liegt die ästhetische Erkenntnis.

Fußnoten

[1] Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2003.

[2] Ulrike Brandi / Christoph Geissmar-Brandi: Ein Spaziergang durch Schatten in: Das Geheimnis des Schattens. Licht und Schatten in der Architektur (Ausstellungskatalog), hrsg. v. Deutsches Architektur Museum, Tübingen - Berlin 2002, S. 12.