Die redundante Metropole, oder : Der sich selbst beschreibende Kongress
Jahreskongress 1999 des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen in Bonn zum Thema "Metropolen : Laboratorien der Moderne"
Ein Kongress ist ein Kongress ist ein Kongress, und Rituale sind funktionale Mechanismen der Versicherung von Ort wie Zeit. Dennoch erscheinen gerade die kleinen Abweichungen vom vorgegebenen Schema als Symptome eines augenblicklichen Zustands, und dies jenseits der Petitessen aus Eitelkeit, Zorn und Überdruss, die als wahre Enttäuschung zu jedem Kongress und seinem Besuch gehören. Bei diesem war es nicht anders, und es gehört selbst wiederum zum Ritual der Kongresskritik, sich an den Pannen entlang zu hangeln. Soweit die Vorrede.
Die Jahreskongresse des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen sind noble Veranstaltungen mit hervorragender Organisation und fairen Bedingungen für alle Beteiligten - in heutiger Zeit eine bemerkenswerte Seltenheit. Die für alle TeilnehmerInnen ausgegebenen Besucherlisten verzeichneten knapp 700 Menschen, von denen allerdings kaum die Hälfte da war. Selbst bei der Eröffnung und den Glanzlichtern wie Richard Sennetts Vortrag waren im 400 Personen fassenden Forum der Bundeskunsthalle noch Plätze frei.
Wer sich die Mühe machte, konnte genau die künstlerisch-wissenschaftliche Elite Nordrhein-Westfalens, an deren Adresse Thema und Bearbeitung gingen, als Fehlstelle ausmachen: Keine der ausgewiesenen Museumsdirektoren oder Akademieprofessoren war da - die machten sich zwei freie Tage. Die von den angesprochenen Entwicklungen besonders betroffenen MitarbeiterInnen der Denkmalpflege kamen auch nur auf ein Stündchen in die Veranstaltungen, die ihnen nicht weh taten. Das ist Alles nichts Besonderes, kaum bemerkenswert, aber ein Symptom dessen, was Richard Sennett in der geringen Bindung flexibler MitarbeiterInnen an ihre Unternehmen so intensiv beschrieb.
Die Veränderungen des tatsächlichen Verlaufs gegenüber dem ausgedruckten Programm waren minimal und lagen sicher komplett ausserhalb des Verantwortungsbereichs der Veranstalter, aber gerade deswegen notierten sie das eigentliche Problem in ganzer Schärfe - ein grundsätzliches Desinteresse am Eingriff in längerfristige Entwicklungen, am politischen Handeln, gar eine grundsätzliche Resignation über die Zukunft aller Politik. Nicht nur der Metropolen-Begriff wurde ausgehöhlt wie ein Kürbis zu Halloween, sondern auch das schöne Laboratorium mit seinen naturwissenschaftlichen Experimenten erlitt das Schicksal seiner universitären Gegenstücke - wenn keiner mehr hingeht, wird auch nicht experimentiert.
Dass der Ministerpräsident des Landes einen Kongress selbst eröffnet, entspricht selbst im Ritual nicht der Erwartungshaltung aller Gekommenen. Doch wenn ein Ersatzminister stattdessen mühsam eine ihm fremde Rede verliest und nur durch sprachlich weit darunter absackende Anekdoten als seine zu retten sucht, dann kommt man sich vor wie in Brechts 'Arbieter-Theater', doch findet es gar nicht mehr so lustig. Das politische Problem setzte sich am selben Tag noch fort; wo ein Staatssekretär angekündigt war, kam ein Sachbearbeiter, der seinen Beruf so wörtlich nahm, dass die von ihm ausgegebenen Landes-Willenserklärungen den Charme eines Beihilfe-Formulars mit zwei Durchschlägen versprühten.
Die erste Veränderung des ersten Tages betraf gleich den Übergang vom Ritual zum Thema. Paul Nizon durfte seine hinreissend formulierte Kerze für die Metropole Paris erst anzünden, nachdem sich das Auditorium von Mark Leonard einen BWL-Grundkurs im Stil der 'Tschakka-Du-Schaffst-Es'-Einpeitscher anhören musste. Sein Image-Lift für Grossbritannien ist ebenso entbehrlich wie die darin formulierten Strategien, eine Insel zu verkaufen - glücklicherweise werden sich die meisten Briten um derlei Bemühungen ebenso wenig scheren wie um alle früheren Programme, die aus jedem Londoner Vorstadt-Muttersöhnchen einen knallharten Broker machen wollten. Letztlich sprach aus diesem Vortrag exakt dieselbe politische Unsicherheit, das Klammern an extrem kurzfristigen Zielen ohne eigentliche Bedeutung, die auch die Rede des Ministerpräsidenten oder seines Strohmanns auszeichnete.
Niemand anders als Richard Sennett war dann der Mann, der diesen Strategen einen ganzen Satz schallender Ohrfeigen verpasste - aber leider ging darunter die wunderbar poetische Annäherung Paul Nizons an das neue, eben den Metropolen-Status verspielende und endgültig verlierende Paris verloren. Und der ganze Kongress konnte die Thematik, eine einzige späte Veranstaltung ausgenommen, in dieser kulturellen Dichte nie mehr wieder finden.
"Flexible capitalism is no inevitable fate, Mr. Schröder"
Richard Sennett lieferte einmal mehr eine Probe seines rhetorischen Könnens und bewies, dass kein Redner allein die Thesen seines rezenten Buches vortragen muss, sondern weit darüber hinausgehen kann. An diversen Beispielen beschrieb er alle Formen der Erosion sozialen Handelns und wirtschaftlicher Entwicklung durch die Fixierung auf extrem kurze Arbeits- und Kapitalverwertungszyklen. In seinem Vortrag tauchten die geringen Bindungen aller MitarbeiterInnen an die Unternehmensziele ebenso auf wie die Auflösung sämtlicher Kontrollmechanismen in der Herstellung von Produkten selbst. Und ohne es ausdrücklich erwähnen zu müssen, konnten alle HörerInnen im Saal die notwendige Transformation seiner Bemerkungen auf die Basis, Konstruktion, Organisation und Lebenswirklichkeit unserer Städte selbst vollziehen. Aus seinen Büchern altbekannte Beispiele wie die internen Wettbewerbe bei Microsoft um die Herstellung von Programmzeilen gewannen so mühelos Profil in der Betrachtung etwa der Erdbeben von Izmet und Taipeh.
Er- oder mindestens angeschlagen von der Wucht der Sennett'schen Argumente verliessen die TeilnehmerInnen den ersten Block der Plenar-Vorträge, die am zweiten Morgen wieder aufgenommen wurden. Wieder ein Wechsel, wieder ein Symptom : Saskia Sassen tauschte mit Norbert Bolz und geriet dadurch unmittelbar vor Sadie Plant. Letztere lieferte mit ihrem ungemein dichten, sämtliche Aspekte der Moderne säuberlich dekonstruierenden Vortrag den Beleg dafür, dass eine Unbekannte die Keynote-Rednerin locker vom Thron stossen kann. Denn Saskia Sassen trug nicht nur über weite Strecken einfach ihr letztes Buch vor, sondern blieb im Horizont der von ihr geschilderten Entwicklungen - etwa den elektronischen Datenwegen als vierter, quasi urbaner Zentralkraft der globalen Entwicklung - weit hinter früheren Ansätzen zurück. Wo Sennett tags zuvor die 'gated communities' in nordamerikanischen Vorstädten gegeisselt hatte, lobte Saskia Sassen deren lateinamerikanischen Gegenstücke als Ausweis hochkultivierter Urbanität; und so ging dies über eine ganze Reihe von Beispielen weiter. Am Ende fragten sich viele TeilnehmerInnen, worum es denn eigentlich gegangen sei. Also erhoben sie sich und gingen Mittag essen, während Sadie Plant ihre luzide Analyse der dezentralen Metropolis am Beispiel Birminghams vor halbleerem Saal ausbreitete.
Zuvor waren drei Herren in den Ring gestiegen. Roberto Camagni entwickelte das ältere Modell Sennetts von der geordneten Stadt inmitten des chaotischen Gürtels der Vorstädte zu einer wirtschaftspolitischen Förderung 'innovativer Milieus' weiter, was unter Prodi wohl auch zum Standard europäischer Urbanistik werden soll. Bestechend an diesem Modell, das die vielgescholtene EU-Bürokratie wenigstens theoretisch rehabilitieren könnte, ist die weiche Definition des Milieus, weil es neben den kommerziellen Aspekten wie Bodenpreis, Rohstoff, Arbeitskraft, Logistik, Finanzierung und Konsum auch schwer fassbare Kategorien der Nachbarschaft, des kollektiven Lernens, der schnellen und leichten Übersetzbarkeit, der kurzen Wege, kurzum der klassischen Urbanität umfasst, ohne selbst auf die europäische Stadt zurückgreifen zu müssen. Faszinierend wäre es gewesen, wenn hier eine Brücke vom europäischen Städteverbund zu Paul Nizons Stadtbegriff geschlagen worden wäre.
Der Mann, der dies - zumindest von seinen bisherigen Schriften her - hätte tun können, beschränkte sich leider darauf, eine Standardskala historischer Metropolenbegriff zu deklinieren, und dies leider auch gleich drei Mal in einem einzigen Vortrag. Helmut Häußermann ist als Berliner Hochschullehrer einer der wenigen städtebaulichen Theoretiker, denen das soziale Element ihrer Arbeit vor allem am Herzen lag. Leider war davon in seinem Vortrag nichts zu spüren, und leider auch nur wenig von dem, was der Titel des Vortrags versprochen hatte : "Ein Städtenetz ersetzt das hierarchische System" - ja, wenn es denn so gewesen wäre, dann wüssten wir jetzt mehr über die Dekonstruktion des Stadtraums durch das Netz.
Stattdessen dilettierte Häußermann in Sachen europäischer Städtebaugeschichte, als ob es weder Benevolo noch Meckseper gegeben hätte. Schade, von ihm hatte ich wesentlich mehr erwartet, während der nächste Redner alle meine Vorurteile aufs Schönste bestätigte: Norbert Bolz ist der neue Thinktank von Jürgen Ruettgers - oder könnte es zumindest sein - und wird mit seiner kreativen Fehlerhaftigkeit sicher sämtliche Zukunftstrends des Laisser-Allez samt Laisser-Faire in der Politik so gut legitimieren, dass das Nichtstun der Politiker demnächst als ihre höchste Tugend erscheint. Das Fünf-Stufen-Modell zukünftiger Entwicklungen, mit dem er ankam, kannte man schon von Matthias Horx, der es sicher Alvin Toffler abgeschaut hatte, der sein Wissen wiederum von Kahn und Lippmann erworben hatte, undsoweiter undsoweiter in der unendlichen Reproduktion futurologischer Platitüden, die hier als Wissenschaft verkauft wurden.
"Alles, was das Internet nicht leisten kann, ist das Leben"
Also sprach Diedrich Diederichsen und war ob seines Spruchs so entzückt, dass er hinterherschob : "Das ist ein Gedanke, den ich wohl noch ausbauen sollte." Geschehen in einem der sechs Symposien des Kongresses, worunter jeweils eine Gesprächsrunde von zwei Stunden zu erwarten war, mit jeweils fünf bis sechs GesprächspartnerInnen samt einem Moderator (immer männlich). Die Gesprächsthemen waren attraktiv formuliert, und die Besetzungen schienen vorab interessante Statements zu versprechen, doch mindestens die Hälfte der Runden boten herbe Enttäuschungen.
'The Sound of the City' mit eben Diederichsen, der sich als Oberbuchhalter des musikalischen Mainstreams präsentierte, und einer Suzy, die weder englisch noch deutsch sprach und dies für ober-hip hielt, war exakt so wie das meistgebrauchte Wort der Runde - 'irgendwie'. Norbert Bolz durfte seine Zitatmontage vom Vormittag nun ohne Nennung der Originale fortsetzen, und der Moderator warf ihm die Tennisbälle zu, als ob er übermorgen als dessen Assistent anheuern wollte. Nach drei kurzen Beiträge hielt der einzige Gesprächsteilnehmer, der wirklich etwas sagen wollte, Uli Großmaas von der Pop-Komm in Köln, gleich den Mund. Er war gegen eine Prinzessin von MTV eingewechselt worden, eine weitere Kongress-Transformation mit symbolischem Wert.
Ebenso traurig wirkte eine städtebauliche Runde zur Frage nach den Entwicklungstrends der Metropolen im 21. Jahrhundert mit der Alternative 'Hochsicherheitstrakt oder Freizeitpark'. Hier stimmte einfach die Besetzung nicht, der eingewechselte Moderator erreichte zu keinem Zeitpunkt das Niveau der befragten Gäste, eine Kölner Event-Agentin ausgenommen, die immerhin anwesende HochschullehrerInnen mit der Erkenntnis zu schockieren wusste, dass niemand mehr wegen eines Studiums in die Grossstadt zöge, denn so etwas belaste das Zeitbudget doch nur ganz gering. Wichtiger seien die Freizeit-, Fun- und Trend-Angebote; und da nach Ulf Poschardt die wichtigste musikalische Erfindung des ausgehenden Jahrhunderts im Kratzen von Plattentellern bestand, ist im Freizeitangebot der Städte nichts Originäres mehr zu erwarten. Verzichten auf die Stadt konnte und mochte allein Florian Rötzer, weil er ja die digitalen Städte habe. Doch er fand ganz sich unironisch unversehens als elitär-besitzende Landpomeranze gescholten; nicht viel besser ging es Klaus Ronneberger, als er differenzierte soziale Bewegungen zu beobachten einforderte. Sennett hin oder her, das war dem Moderator wie der Freizeitparkveranstalterin alles viel zu kompliziert und daher einem Wissenschaftskongress wohl nicht angemessen.
Dröge ging es bei der 'Zukunftsfähigen Stadtentwicklung' zu, wo zwischen Ökologie und Bürgerinitiativen eher mikrokosmische als metropolitane Bewegungen registriert wurden. Die Diskussion der 'Metropolenregion Rhein-Ruhr' drohte einmal mehr zum Seligsprechungsprozess von Karl Ganser zu werden, bis Hans H. Blotevogel dem anwesenden FAZ-Kritiker Dirk Schümer die Kraft und die Herrlichkeit eines deutschen Ordinarius zu demonstrieren suchte, den flott Formulierenden an den Stammtisch des gesenkten Niveaus verwies, von wo aus dieser schmollend nur noch zu wenigen Statements zu locken war.
Wieder nichts Besonderes in der Chronik eines Kongresses, doch wieder ein Symptom : Um Inhalte, die dann eher nebenbei fallen gelassen wurden, ging es im Austausch der Meinungen wahrlich nicht. Dabei kamen ununterbrochen spannende Tatsachen zu Tage, die einen Wissenschaftskongress in helle Aufregung hätten versetzen müssen : Die Zahl der ForscherInnen im Lande hat dramatisch abgenommen, Wohnquartiere werden so unbewohnbar wie Slums, die vierzehn Städte des Ruhrgebiets sehen keine Veranlassung zu einer qualifizierten Zusammenarbeit in Richtung Vereinigung, und die Landesregierung plant über die Landräte direkt in die Kommunen hinein zu regieren. Alles wurde genannt, und keinen regt es auf.
Allein zwei Symposien der gesamten Veranstaltung verdienten diesen Namen, und sie blieben zudem nah an ihren selbstgestellten Themen. Michael Mönninger lud ein 'Dream-Team' - Selbstbezeichnung - von Debattanten zur Architektur in den zukünftigen Städten ein, wobei sich der Düsseldorfer Christoph Ingenhoven einmal mehr als denkender Architekt - sonst eine contradictio in adjecto - entpuppte, während Werner Oechslin zwar weiterhin perfekt sprach, aber doch nur dieselben Hülsen der Gelehrsamkeit um sich warf, die er schon in seiner Bonner Professoren-Zeit vor zwanzig Jahren benutzt hatte. Immerhin provozierte er sowohl Gerwin Zohlen zu mehr Witz, als er sonst zu geben bereit gewesen wäre, als auch Peter Neitzke zu umfassenden Entwürfen sozialer Verantwortung architektonischen Handelns. Die Debatte litt jedoch streckenweise unter der Selbstbeschränkung des Moderators auf europäische Metropolen und unter diesen fast ausschliesslich auf Berlin - diese märkische Dorfagglomeration war in allen anderen Debatten schon als wenig metropol entlarvt worden. Dennoch war dies das einzige Symposion des Kongresses, das diesen Namen verdient hätte, auch wenn alle nur Cola tranken. Die zweite relativ dichte Debatte des letzten Tages widmete sich direkt den sozialen Verwerfungen in der Stadt, wobei neben den empirischen Platzhirschen Heitmeyer und Hassenpflug ein ängstlicher Moderator wie ein zwar gut gefönter, aber sonst wenig profilierter Werbemann kaum noch Raum zur Ausbreitung fanden.
Wahrscheinlich war dies einer der letzten Metropolen-Kongresse im ausgehenden Jahrhundert, und wie die selbstbeschreibende Verschiebung von Metaphern hoffentlich vorgeführt hat, ist die Form nicht mehr ganz zeitgemäß. Weil alle Diskutanten wie alle HörerInnen - die in den Symposien zugelassenen Saalbeiträge konnten aufgrund der Architektur wie der kommunikativen Situation auf dem Podium nicht anders als schwach sein - körperlich anwesend waren, bezogen sie, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihre Beiträge zur Stadt allein auf das körperliche Vorhandensein darin. Zum Einen mussten fast alle betonen, dass sie sich der Probleme von Megastädten in der sogenannten Dritten Welt bewusst seien, beschäftigten sich daraufhin aber nur noch mit europäisch-nordamerikanisch-ostasiatischen Metropolen.
Andererseits: Netzwerke, digitale Städte, elektronische Kommunikationsräume wurden geradezu ängstlich vermieden, kamen, wenn überhaupt, dann nur als negative Folie vor. Allein Florian Rötzer und Saskia Sassen thematisierten das Vorhandensein des Internet, alle anderen gerierten sich in einer vorgetragenen, aber selbst offensichtlich nicht geglaubten Normalisierung der Vernetzung unter funktionalen Voraussetzungen. Es war, als wäre die elektronische Verkabelung der Telekommunikation derselbe blinde Fleck im Bild der globalen Metropolen von heute, wie es die unterirdischen Kanalsysteme des 19.Jahrhunderts in Paris, London und New York waren. Schade, dass nur wenige Paul Nizon genau zugehört haben.