Die schlichte Kunst hyperfantastischer Realitäten

Game-Unterhaltung zeichnet sich auf ganz besondere Weise aus: Spiele überdehnen die von anderen Medien gesteigerte Realität noch - ein in seinem Bereich glaubwürdiges Charakteristikum, das sich selbst der fantastische Filme nicht erlaubt

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Das British Board of Film Classification (BBFC), Großbritanniens Äquivalent zur Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) bewertet auch Spiele und erteilt ihnen Altersfreigaben, eine Aufgabe, der sich hierzulande die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) verschrieben hat. Jüngst überraschte das BBFC mit der Veröffentlichung einer Studie, die aufschlussreiche Informationen über die Wirkung beider Medien liefert. Der Kontrast zwischen Game und Film zeigt sich in einem Ergebnis recht krass: Spieler seien emotional weniger an ein Spiel gebunden als Zuschauer an einen Film. Statt aggressiv und angriffslustig ist ihr Verhalten in erster Linie als defensiv zu kennzeichnen. Das hat auch seine Gründe: „Überleben“ bedeutet Weiterkommen, was wiederum längere Unterhaltung, den Grund der Beschäftigung, sichert. Der psychische Einfluss eines Fernsehkrimis ist demnach größer auf den Konsumenten als z.B. der eines durchschnittlichen Ego-Shooters.

Statt psychologisch tief wirken zu wollen - wie der Film oder der Roman, der dem Konsumenten gar den Einblick ins innere Wesen seines Protagonisten erlaubt und damit unerreichbare Identifikation mit der Figur provoziert -, stimulieren Spiele psychologisch verhältnismäßig gering. Oft kritisierte Titel, die auf Action ausgelegt sind, verlangen vom Spieler in erster Linie schnelle Reaktionen und fordern die Motorik. Ihre unterhaltende Kraft entfalten sie über den Boom- und Wow-Effekt: In Vorausahnung tritt dieses kurze „Kirmes-High“ gering kontrollierbar auf und klingt orgasmisch ab. Statt sich anzustauen, löst es sich auf.

Noch guckt er scheel, der Koloss, gleich ist er fällig ... wenn auch mit etwas Mühe (Shadow of the Colossus, PlayStation 2, Sony)

Damit die Vorhersehbarkeit den Genuss nicht zerstört, lenken Games mit überzogenen Steigerungen ab, wie man sie im Film als unannehmbar empfunden würde: hyper-schnell, hyper-groß, hyper-laut, hyper-hip und hyper-cool. So sind schon Endbosse in archetypischen Golden-Age-Spielen riesig und doppelt so schwer bewaffnet wie ihre Schergen. Heute füllt allein schon ihr Kopf den Bildschirm aus und die Spielfigur muss erst ihren wunden Punkt erklimmen, um sie zu bezwingen, wie in Shadow of the Colossus – ein Trend der letzten Jahre, immer wieder gern gesehen: Bosse in Painkiller, Bullet Witch oder God of War II sind groß wie Hochhäuser.

In “God of War II” legt sich Held Kratos mit den Göttern an – je weiter er voranschreitet, umso größer werden auch die Dimensionen, Gegner wie Landschaft.

Auch Geschosse krachen imposanter im Spiel als im Film, ihre Folgen sind großzügiger. Superfeuerwaffen zerreißen Mauern mit Links, ganze Häuserblocks gehen in die Knie – sei es in „Black“ oder Crysis, ein international mit Spannung erwarteter Shooter der deutschen Crytec-Studios, die anhand einer Atombombenexplosion den Flair ihrer Engine demonstrieren.

In „Crysis“ haben Aliens den Urwald vereist – cooles Szenario mit mächtigen Gegnern

Auch Rennspiele haben einen Schuss: Wenn sich in „Need for Speed: Most Wanted“ der Held unfallreiche Verfolgungsjagden mit mehreren Streifenwagen liefert, dann ist das zwar durchgeknallt, verglichen mit Highspeed-Racern wie Burnout Revenge, wo Ben-Hursche Abdränglungsmanöver Kettenreaktionen auslösen und Verschrottungsorgien die Crème der Modi-Vielfalt sind, aber nicht mehr als niedlich. Noch in diesem Jahr erscheint das fünfte Burnout für Xbox 360 und PlayStation 3 und die Fangemeinde freut sich auf knochentrockene Augen, die an rasender High Definition-Optik gefesselt sind – Zwinkern gleicht dem Toilettenbesuch während der Filmvorführung.

EA Sports Big ist ein Unterlabel von Electronic Arts und karikiert die realistischen, ohnehin schon überzogenen Game-Interpretationen diverser Sportarten, zuletzt den Basketball. Wer den Sport kennt, wird wissen wie spektakulär ein ordentlicher Dunking, bei dem der Ball von oben durch den Korb gestoßen wird, aussieht. Doch gegen die Helden von NBA Street Homecourt) (Xbox 360, PlayStation 3) sind selbst die Harlem Globetrotters ungeschickte Luschen – im Ghetto passieren wahre Wunder! Nach drei Teilen NBA Street hat EA am Dunking-System gefeilt. Obercool befiehlt der Ballführende einem Mitspieler den Kniefall und stößt sich vom Rücken des Kumpels ab, um höher zu fliegen.

Fliegende Basketballer gehören in „NBA Street Homecourt“ zum ganz normalen Straßenbild

Wird der Controller-Knopf gedrückt und rechtzeitig losgelassen, fängt er – immer noch im Sprung – den gedunkten Ball wieder auf und befördert ihn erneut durchs Netz – Tricks entgegen der Regeln, der Natur und dem menschlichen Können, doch Spannung fürs Spiel. Akrobatik- und Breakdance-Einlagen füllen zudem eine Anzeige auf, den Gamebreaker, der ausgelöst wird und kurzfristig noch mehr Power (http://www.youtube.com/watch?v=8_ReG1tRdXU) verleiht.

Diese Leichtigkeit potenzierter Extremleistungen kann nur das Spiel vermitteln und enthält einen künstlerischen Ansatz – ein Hauch von Pathos und Drama, den der Betrachter eines Rembrandts vielleicht ähnlich verspürt: Der niederländische Maler bildete gern nur den spannendsten Moment einer Situation ab. Mit teils schockierenden Motiven löste er größtes Entzücken aus.