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Die vergiftete Diskussion um eine friedenspolitische Perspektive

Krieg ist furchtbar, immer. Die Schrecken des Ukraine-Krieges aber werden instrumentalisiert. Wie die Debatte um eine friedenspolitische Perspektive verhindert wird (Teil 1)

Wir alle erleben es täglich: Emotionalisierung und moralisch überhöhte Vorwürfe beherrschen den öffentlichen Diskurs über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Wenn wir abends die Tagesschau oder die Heute-Nachrichten einschalten, sehen wir minutenlang Bilder von zerbombten Häusern, Tote oder Interviews mit verletzten Menschen.

Selbstverständlich ist das alles schrecklich. Krieg bringt Zerstörung und unendliches menschliches Leid. Im Krieg werden Verbrechen verübt und es gibt Grausamkeit – und zwar auf allen Seiten. Nach Schätzungen des US-Armeegenerals Mark Milley wurden bisher 100.000 russische Soldaten getötet und verletzt, tausende Opfer sind in der Ukraine zu beklagen.

Krieg ist furchtbar! Und zwar jeder Krieg!

Gerade angesichts von unermesslichem Leid und Zerstörung müssten doch alle politischen Anstrengungen und alle öffentlichen Debatten darauf gerichtet sein, diesen Krieg zu beenden?

Doch das Gegenteil ist der Fall: Mit der durch die schrecklichen Bilder erzeugten Empathie in der Bevölkerung gegenüber den ukrainischen Opfern wird eine Eskalationsdynamik entfacht, mit dem Ruf nach immer mehr schweren Waffen, nach noch mehr Geld für die Rüstung.

Mahnende oder auch nur nachdenkliche Stimmen werden moralisierend verurteilt und Menschen, die diplomatische Lösungen anmahnen, werden als "Putin-Versteher", als Abweichler in die rechte Ecke gestellt. Pazifisten werden als Putins "Fünfte Kolonne", also als willige Helfer Russlands verunglimpft.

Rolf Mützenich der auf dem Debattenkonvent der SPD anfangs November öffentlich gemacht hat, dass er auf eine – wie sie von ukrainischer Seite genannt wurde – "Liste von Informationsterroristen" gesetzt wurde, weil er sich für eine Waffenruhe und für weitere diplomatische Schritte zur Beendigung des Krieges einsetzt, erfährt für diese ungeheuerliche Attacke nicht etwa Rückhalt auf deutscher Seite, sondern er wird von den Medien und sogar von den eigenen Koalitionspartnern beschimpft.

Berechtigterweise schreibt Heribert Prantl, ehemaliges Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung:

Es ist fatal und unendlich töricht, dass hierzulande schon die Wörter "Waffenstillstand", "Friedensappell" und "Frieden" als anrüchig gelten, wenn sie im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine gebraucht werden. Es ist fatal, wenn das Werben für eine diplomatische Offensive fast schon als Beihilfe zum Verbrechen bewertet wird.

Wenn die öffentliche Debatte von Moral beherrscht wird und Gefühle angeheizt und instrumentalisiert werden, haben es sachliche Argumente schwer und eine nüchterne und rationale Debatte wird blockiert.

Oder wie der verstorbene Satiriker Wiglaf Droste sang: "Ist das Hirn zu kurz gekommen, wird sehr gern Moral genommen".

Denktabus bereiten rechter und populistischer Propaganda erst Raum

Dabei wird der rechten und populistischen Propaganda gerade aufgrund einer durch Denktabus eingeschränkten Debatte erst richtig Raum geboten.

Dass die AfD mit populistischen Parolen bei uns zehn Tausende auf die Straße bringt, ist schlimm, noch schlimmer ist aber, dass jeweils gerade mal ein paar hundert Gegendemonstranten dagegenstehen. Nicht zuletzt bei der Landtagswahl in Niedersachsen hat die AfD mit der schlichten Forderung nach einem Ende der Sanktionspolitik ihre Stimmenanteile nahezu verdoppelt. Die Linkspartei ist dagegen im Westen aus den Parlamenten geflogen.

Eingrenzung des Themas

Damit ich keine falschen Erwartungen erwecke, will ich gleich am Anfang dieses Dreiteilers erwähnen, worauf ich nicht oder allenfalls mit wenigen Stichworten eingehen will und kann:

Ob die Rückwirkungen der Sanktionen unserem Land mehr schaden, als nutzen, ist eine politisch zu beantwortende Frage. Aber gerade darauf müsste es politische Antworten geben, damit nicht Populisten die Oberhand gewinnen.

Weil hinsichtlich der Sanktionen, das Kind in den Brunnen gefallen ist und letztlich Deutschland allein, wohl nicht aus der bisherigen – wie sie genannt wird – "Geschlossenheit" des Westens ausbrechen kann, macht man es sich zu einfach, wenn man schlicht ihre Beendigung fordert – schon das teilweise vorsichtige Vorgehen von Olaf Scholz hat Deutschland in eine Sündenbockrolle gedrängt.

Deshalb will ich mich auf die Fragen konzentrieren, wie die Sanktionen in eine friedenspolitische Perspektive gelenkt werden könnten und welche Fragen sich stellen, um auf einen Waffenstillstand und danach vielleicht auf Friedensverhandlungen hinzuarbeiten.

Zunächst zu den angesprochenen kurzen Anmerkungen:

Sind Sanktionen nicht auch Vertragsbrüche?

Wir müssen "Doppelstandards vermeiden", schrieb Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zurecht im Juli in einem Namensbeitrag für die FAZ. Wer sich über Vertragsbrüche Putins bei der Lieferung von Gas echauffiert, darf nicht einäugig unterschlagen, dass durch die inzwischen neun Sanktionspakete mit über 12.000 Einzelsanktionen gegen rund 1.200 Einzelpersonen und gegen 118 Organisationen, die die USA, die EU und insgesamt weitere etwa 40 Staaten des Westens verhängt haben, gleichfalls eine Vielzahl von Verträgen mit Russland aufgekündigt wurden.

Es ist doch naiv und widersprüchlich, wenn schon Monate vor der Drosselung der Gaslieferungen und lange vor dem offiziellen Embargo etwa vom CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz oder von der EU-Kommission ein sofortiger Stopp sämtlicher Gasimporte aus Russland gefordert wurde oder wenn von der Bundesregierung ein Einfuhrverbot für Kohle und Öl ausgesprochen wird, gleichzeitig zu erwarten, dass Putin das einfach so hinnimmt und nicht seinerseits bestehende Verträge aufkündigt? War dieser Boomerang-Effekt eines Lieferstopps eigentlich nicht zu erwarten?

Warum wurden eigentlich von der EU keine Sanktionen gegen die Uranlieferungen an die Atomkraftwerke in Europa verhängt? Wo man doch weiß, dass die EU rund 40 Prozent ihres Kernbrennstoffs von Russland und dem eng mit ihm verbündeten Kasachstan bezieht. Sollten die Franzosen sich da cleverer angestellt haben?

Sind die Sanktionen eigentlich völkerrechtskonform?

Auch wenn die westlichen Sanktionen nicht nach Art. 39ff. (41) der UN-Charta vom Sicherheitsrat beschlossen worden sind, wurde die Frage, ob diese völkerrechtskonform sind, allenfalls in kleinsten Fachzirkeln diskutiert. Viele Staaten halten solche einseitigen Sanktionen für völkerrechtswidrig.

Juristisch ist die Frage umstritten. So werden einerseits die westlichen Sanktionen im Vergleich zum völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg als verhältnismäßig eingestuft.

Andererseits beruht das Völkerrecht im Wesentlichen auf dem Gewohnheitsrecht, das heißt, es entfaltet seine Kraft letztlich dadurch, dass die Staaten die Normen einhalten, deshalb ist es keineswegs unproblematisch, wenn auf Völkerrechtsverletzungen mit Rechtsverletzungen geantwortet wird. Jedenfalls stehen die Sanktionen im Widerspruch zu der Berufung des Westens auf ein "regelbasiertes Zusammenleben" der Staaten.

Wird bei Sanktionspolitik mit zweierlei Moral-Maßstäben gemessen?

Damit die Saudis ein wenig mehr Öl pumpen sollten, begrüßte US-Präsident Joe Biden den von ihm nach dem grausamen Khashoggi-Mord als "Schurken" beschimpften arabischen Kronprinzen Mohammed bin Salman mit jovialem Faustgruß. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron drückten dem Kronprinzen herzlich die Hand.

Dabei umgeht Saudi-Arabien das westliche Ölembargo und verdoppelte im zweiten Quartal dieses Jahres den Import von russischem Öl auf 48.000 Barrel pro Tag.

Im dortigen Königreich gibt es permanent Menschenrechtsverletzungen wie Massenexekutionen und Enthauptungen, Homosexuelle werden ausgepeitscht oder gar gehängt. Und ist der Krieg, den die Saudis im Jemen mit bisher fast 400.000 Toten führen, weniger grausam als Putins Krieg in der Ukraine?

Ist es so schwierig nachzuvollziehen, dass sich Staaten, die etwa die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentieren, in der UN-Vollversammlung einer Verurteilung Russlands verweigern und dem Westen im Ukraine-Krieg Doppelmoral vorwerfen.

Die Saudis verhöhnen diesen Kotau des Westens sogar noch und wollen zusammen mit den Opec-Staaten mitten in der schwersten Energiekrise 2 Millionen Barrel Rohöl pro Tag weniger auf den Markt bringen – eine Drosselung von der wiederum auch Russland als Opec-plus-Mitglied profitiert, weil durch die Verknappung der Ölpreis steigen wird.

Die Doppelmoral wird dadurch auf die Spitze getrieben, dass der Bundessicherheitsrat mit den Stimmen von Habeck und Baerbock nun auch noch Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien genehmigte.

Man könnte eine stattliche Zahl an Beispielen aufzählen, wie mit der Sanktionspolitik gegen Russland mit zweierlei Maß gemessen wird.

Können Sanktionen ganz grundsätzlich dazu beitragen, Kriege zu beenden oder einen Regime-Wechsel herbeizuführen?

Sanktionen gibt es seit der Antike. In der Gegenwart werden sie eingesetzt, um eine Verhaltensänderung eines Staates oder eines Regimes zu bewirken oder dessen Handlungsfähigkeit einzuschränken.

Keiner der Kriege seit 1990 weder in Afghanistan, noch in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Irak, Jugoslawien, Kuwait, Libyen, Serbien und Kosovo, Syrien oder Tschetschenien ist durch Sanktionen verhindert oder beendet worden.

Ob Sanktionen nach dem Zweiten Weltkrieg jemals zu einem Regime-Wechsel geführt haben, ist umstritten. Ob die Sanktionen einiger weniger Staaten zum Zusammenbruch des Apartheid-Regimes in Südafrika geführt haben, wird jedenfalls bezweifelt. Im Irak haben Sanktionen in der Bevölkerung eher Trotzreaktionen ausgelöst. Die seit 1979 gegen den Iran verhängten Sanktionen haben nicht zur Entmachtung das Mullah-Regimes geführt.

Die Schwächung der Wirtschaft eines gegnerischen Staates durch Sanktionen, schwächt nicht unbedingt auch das jeweilige dort herrschende Regime, das lässt sich in Syrien oder in Nordkorea beobachten. Sanktionen sind häufig nur der Versuch, die eigene Hilflosigkeit zu kaschieren.

Erwiesenermaßen haben die schon ab dem Jahr 2014 massiven Sanktionen, die vom "Westen" gegen Russland nach der Annexion der Krim verhängt wurden, Putin nicht daran gehindert, einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Ukraine vom Zaun zu brechen.

Auch die Androhung von – wie es hieß – "massiven Konsequenzen und hohen Kosten" schon vor diesem Krieg, nämlich auf dem EU-Gipfel im Dezember 2021, konnten den Einmarsch nicht aufhalten. In der gesamten Geschichte Russlands hat niemals eine Niederlage in einem Krieg zu einem Regimewechsel geführt.

Mit dem inzwischen schon neunten Sanktionspaket der EU wurde die simple Eskalationslogik immer nur beidseitig fortgesetzt, denn auch Russland eskalierte zuletzt mit einer Teilmobilmachung oder derzeit mit Raketenbeschuss auf nicht besetzte ukrainische Gebiete und mit der Zerstörung kritischer Infrastruktur im gesamten Lande. Mehr als 1.100 Orte und mehr als zehn Millionen Menschen waren in der Ukraine zeitweise ohne Strom – und das im strengen Winter.

Ist der Wirtschaftskrieg zu gewinnen?

Über die Auswirkungen der Sanktionen auf Russland gibt es völlig gegensätzliche Einschätzungen. Ich muss an dieser Stelle auf eine detaillierte Darstellung von wirtschaftlichen Auswirkungen sowohl auf Russland, als auch auf Deutschland, Europa, ja die ganze Welt verzichten. Ich will nur einen einzigen Aspekt herausgreifen, nämlich die Wirkung des Energieembargos.

Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa war 2021 der wichtigste Energie-Importeur aus Russland. 49 Prozent der russischen Erdölexporte, sogar 74 Prozent der Naturgasexporte und 32 Prozent der Kohleexporte gehen an die OECD-Länder Europas. Deutschland bezog im letzten Jahr noch 55 Prozent seines Gases aus Russland – inklusive des Gases, das wieder an andere EU-Länder weiter verteilt wurde – etwa an Polen.

Das immer wieder benutzte Argument, man dürfe mit den Importen von Energie nicht "Putins Kriegskasse auffüllen", ist höchst fragwürdig. Russland musste zwar aufgrund der Embargos insgesamt einen Nachfragerückgang hinnehmen, weil aber die Exportpreise auf dem Markt von Öl, Kohle und Gas im Schnitt um 60 Prozent gestiegen sind, lagen die Einnahmen unter dem Strich höher als vor dem Krieg – das errechneten mehrere westliche Marktforschungsinstitute.

Signale dafür, dass Russland wirtschaftlich in die Knie gezwungen werden könnte, sind bis jetzt nicht zu erkennen. Putin erklärte jedenfalls im Juni auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg, dass der wirtschaftliche "Blitzkrieg" gegen Russland keine Chance auf Erfolg habe, im Gegenteil: Er verkaufte die Sanktionen als "Chance" für sein Land.

Am 1. November 2022 beantworte die Bundesregierung [1] eine Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke nach der "Erfolgskontrolle der Sanktionen gegen Russland". Dort heißt es u.a.: "Die Verhängung von Sanktionen gegen Russland folgt einer politischen Zielsetzung. Sie richtet sich nicht nach einzelnen wirtschaftlichen Kennzahlen aus." Und schließlich: Der Bundesregierung lägen keine Erkenntnisse vor, ob die Sanktionen gegen Unterstützer des russischen Präsidenten einen Einfluss auf die Entscheidungsfindung der russischen Führung haben.

Im außenpolitischen Establishment der Bundesrepublik werden mittlerweile erste Stimmen laut, die den "Wirtschaftskrieg" gegen Russland als "Irrweg" einstufen. So heißt es in einem Beitrag, den Heribert Dieter von der – hauptsächlich von der Bundesregierung finanzierten – Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) für das Fachblatt Internationale Politik (IP) verfasst hat:

Zwar zeigten die Sanktionen durchaus Wirkung – jedoch "ganz anders, als von den Sanktionsbefürwortern erwartet". Das gelte zunächst für "die Fähigkeit der russischen Gesellschaft, Sanktionen zu bewältigen", angesichts schon früherer Sanktionen habe sich in Russland eine Leidensfähigkeit entwickelt, die die Resilienz "westlicher Gesellschaften deutlich übersteigt".

Falsch eingeschätzt habe die Sanktionsallianz laut Dieter die Folgen der Sanktionen für den Finanzsektor. So habe etwa der Ausschluss russischer Banken vom Zahlungssystem Swift "die Suche nach Alternativen" befeuert.

Je länger die Sanktionen beibehalten würden, "desto mehr werden nichtwestliche Länder Wege zur Abwicklung von Zahlungen außerhalb des westlichen Finanzsystems finden", damit schade die Sanktionsallianz sich selbst. Und, um dem Ölembargo auf dem Seeweg auszuweichen, hat sich Moskau inzwischen eine "Schattenflotte" von Öltankern zusammengekauft.

Manche Kritiker befürchten, dass die vom Westen verhängten Sanktionen eher zu einer Solidarisierung der Bevölkerung mit den Kriegsherren im Kreml führten und im Lande sogar eine Wagenburgmentalität verbreiteten. So meint etwa die Enkelin von Nikita Chruschtschow, Nina Chruschtschowa, die als Professorin für Internationale Politik in New York lehrt und nach eigenen Worten eine Gegnerin Putins ist:

Disney, Microsoft, McDonald's – alle verlassen Russland. Es ist genauso, wie Putin sagt: Der Westen will uns an den Kragen. Und diese Botschaft ist jetzt viel wirkungsvoller geworden, weil die Russen es mit eigenen Augen sehen.

Putin gehe eben nicht zu McDonald's, er nutze auch kein Instagram.

Die Begüterteren kaufen ihre BMWs und Porsches über die Nachbarländer Belarus oder Kasachstan. Wenn man der FAZ glauben darf, dann herrschte zumindest in Moskau "unbeschwertes Sommerglück", mit vollen Regalen, mit frischem Gemüse und – wenn auch deutlich teurer – mit westlichen Produkten.

Nach einer Umfrage in Moskau vom Juni dieses Jahres machen sich 58 Prozent der Befragten wegen der Sanktionen wenig (27 Prozent) oder gar keine (31 Prozent) Sorgen.

Es mag vereinzelt offenen Widerstand geben, der jedoch, wo immer die russischen Sicherheitskräfte Zugriff haben, brutal unterdrückt wird. 16.000 Menschen, die sich öffentlich gegen den Krieg eingesetzt haben, sollen inzwischen verhaftet worden sein.

Es gibt zwar keine verlässlichen Stimmungsbilder, aber derzeit scheint noch immer eine Mehrheit der Russinnen und Russen vollständig oder weitgehend hinter der dort sogenannten "militärischen Spezialoperation" zu stehen. Ein Ergebnis, das allerdings angesichts der totalen Zensur, der Schließung von unabhängigen Zeitungen und Fernsehsender und massiver staatlicher Repressionen gegen Oppositionelle nicht erstaunt.

Es handle sich allerdings weniger um eine echte Unterstützung als um fehlenden Widerstand, sagt Lew Gudkow wissenschaftlicher Leiter des einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Es ist auffallend, dass bislang keine einzige Großdemonstrationen für die Unterstützung der sog. "Militäroperation" organisiert worden ist. Die fehlende Unterstützung durch die Massen zeigt auch, dass der Einordnung des russischen Regimes als "faschistisch" – wie sie der Osteuropa-Historiker Timothy Snyder vornimmt – ein entscheidendes Element fehlt, nämlich die Massenpsychologie des Faschismus.

Inwieweit die jüngste Teilmobilmachung zu einem Stimmungswandel in Russland führt oder eher die letzten Reste des Widerstandes gegen den Krieg ins Ausland treibt, ist eine offene Frage. Das Pathos, das Putin bei der Verkündung der Mobilmachung an den Tag legte, könnte ein Indiz dafür sein, dass diese Einberufungen für das russische Machtsystem nicht ungefährlich sind – und zwar in zweierlei Hinsicht:

Die Mobilmachung kann einerseits ein Hinweis darauf sein, dass sich die Hardliner für ein härteres militärisches Vorgehen durchsetzten, worauf die Beförderung des tschetschenischen "Bluthundes" Ramsan Kadyrow und die Ernennung des – wie er genannt wird – "Generals Armageddon" Sergej Surowikin zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen hinweisen könnte. Auch die Söldnertruppe Wagner könnte für Putin zur Bedrohung werden.

Andererseits weisen die offene mediale Kritik an der Einberufungspraxis und die vom Kreml selbst eingeräumten Fehler und vor allem auch die Absetzbewegungen von inzwischen rund 700.000 wehrpflichtigen Russen in Nachbarländer darauf hin, dass die Unterstützung bei weniger ideologisch überzeugten Kriegsbefürwortern bröckelt. Immerhin sollen 30 Prozent der Russen für eine Beendigung des Krieges sein.

Teil 2: Ukraine-Krieg: Das große Pokern um den Sieg [2]


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[1] https://dserver.bundestag.de/btd/20/042/2004260.pdf
[2] https://www.heise.de/tp/features/Ukraine-Krieg-Das-grosse-Pokern-um-den-Sieg-7441785.html