zurück zum Artikel

Die wahrhaften Putin-Versteher

In den deutschsprachigen Medien entwickelte sich die Krim-Krise zur One-Man-Show eines bösen, bösen Präsidenten

Mit der Eskalation des Ukraine-Konflikts setzen deutsche Journalisten zunehmend auf das stilistische Mittel der Personalisierung. Die Person des russischen Präsidenten Wladimir Putin erscheint in der Presse stellvertretend für die gesamte russische Gesellschaft. Dabei zeichnen Journalisten seine Person ganz überwiegend negativ und orientieren vielfach auf politikferne Eigenschaftsmerkmale. Die selben Redakteure, welche die Person des russischen Präsidenten in den Mittelpunkt stellen und sich ausführlich mit seiner Psyche beschäftigen, gehen inzwischen dazu über, Kritiker einer konfrontativen Russland-Politik, welche sich vergleichsweise stärker auf Sachargumente stützen, ausgerechnet als "Putin-Versteher" zu brandmarken.

Den zahlenmäßigen Anstieg der Putin-Berichterstattung zeigt eine Auswertung der von Google-News erfassten Schlagzeilen in den vergangenen beiden Monaten. Zwar erfreute sich Russland im März auch insgesamt einer höheren Aufmerksamkeit. Allerdings stiegen die Russland-Titel gegenüber dem Vormonat nur um knapp 18 Prozent. Die auf den russischen Präsidenten bezogenen personalisierten Headlines nahmen hingegen sehr viel stärker zu, nämlich um fast 66 (nur Putin) bzw. 320 Prozent (Putin und Russland im Titel).

Während Titel mit persönlichem Putin-Bezug im Februar um ein Drittel unter den reinen Russland-Schlagzeilen lagen, erreichten sie allein in den ersten 23 Tagen des Monats März einen Vorsprung von 10 Prozent. In der Krim-Krise orientierten die zuständigen Redakteure mehrheitlich auf den russischen Präsidenten persönlich.

Dabei fehlte den journalistischen Ausführungen oftmals die sachliche Grundlage. Besonders deutlich wird dies, wenn die Artikel Wladimir Putins mentale Verfasstheit behandeln. Bereits unter normalen Menschen gilt es als äußerst schwierig, die "wirklichen" Absichten und Emotionen seines Gegenübers aufzuspüren - ein Umstand, der umso mehr auf professionelle Kommunikatoren zutrifft. Daher lassen sich Spekulationen über das Wünschen und Wollen von Politikern außerhalb der Kommentare selten finden. Bei der Krisenberichterstattung scheinen Journalisten diese Leerstelle im Bild einer Person jedoch mit Vorliebe zu nutzen, um dem mutmaßlichen Gegner nachweisfrei Böses unterstellen zu können.

Viele Journalisten erwecken den Eindruck zu wissen, was Putin fühlt und was seine verdeckten Ziele sind. "Privat ist Putin ein einsamer Mensch" [1], verbreitet nicht nur der Focus. Im selben Stil erfährt das Publikum, dass er "natürlich" gerne im Westen geliebt werden würde. "Putin will die ganze Ukraine", glauben viele Kommentatoren zu wissen, oder dass er "insgeheim Pläne schmiedet".

Die Unterhaltungspresse erlebt dabei ein völlig neues Niveau des fehlenden Sachbezugs. BILD ("So tickt Russlands Präsident wirklich" [2]) berichtet etwa interessante biographische Details: "Als die Freiheit kam, wollte Putin sterben!" Den Widerspruch zwischen dem innenpolitischen Erfolg Putins und seinem schlechten Image in westlichen Medien löst das Blatt mit einem ebenso starken wie originellen Motiv: Wladimir Putin wolle ein Russland schaffen, vor dem "der Rest der Welt zu Kreuze kriecht".

In der Vergangenheit wurde diese Art der personalisierten Berichterstattung hauptsächlich den Boulevard-Medien zugeschrieben. Mit dem durch die Krim-Krise ausgelösten mentalen Ausnahmezustand verstärkt sich die Fixierung auf eine Person jedoch medienübergreifend. Nicht mehr nur BILD verkauft derart metaphysische Einsichten. Selbst in den Leitmedien für außenpolitische Bewertungen - Die Zeit [3] und Neue Züricher Zeitung [4] - erscheinen umfangreiche Hintergrundbeiträge, welche der Psyche des russischen Präsidenten nachspüren.

Komplizierte Welt ganz einfach

Diese personalisierte Darstellung von komplexen politischen Prozessen wird in den Medien- und Kommunikationswissenschaften bereits seit Mitte der 1980er Jahre beobachtet. Zunächst wurde das Phänomen ganz technisch auf den Siegeszug des Fernsehens zurückgeführt, das Personen als audio-visuelle Repräsentanten von Institutionen verlange. Sehr schnell standen jedoch auch mögliche negative Folgen für die demokratische Öffentlichkeit in der Debatte.

Wladimir Putin. Bild: Kreml

Die Befürchtung lautete, dass das Publikum und damit die demokratisch maßgebliche Wahlbevölkerung informationell entmündigt werden, indem komplexe Vorgänge auf eine Repräsentationsbeziehung mit einer Person reduziert werden. Mit Blick auf die USA, wo diese Tendenz zur personalisierten Darstellung von Politik bereits früher einsetzte, konstatierte der Soziologe Richard Sennett schon 1983 eine "Tyrannei der Intimität" und kritisierte die "psychologisierte Darstellung von Herrschaftsstrukturen".

Die Berliner Professorin Juliana Raupp sieht hinter diesem Phänomen auch eine institutionelle Rationalität. Das Publikum werde von politischer Komplexität entlastet und die Politik von komplexen Ansprüchen des Publikums, so die Medienwissenschaftlerin in einem Übersichtsbeitrag [5] im Jahr 2006.

Dort wies Raupp auf einen weiteren Aspekt hin, dem in der aktuellen Auseinandersetzung möglicherweise zentrale Bedeutung zukommt. Einfacher als eine Gesamtgesellschaft können Personen als Vorbilder oder als Feindbilder definiert werden. Ihre mediale Inszenierung löse beim Publikum adaptive oder adversative Lernprozesse aus. Diese Images würden so zu sozialen Bezugspunkten und sorgten für kommunikative Anschlussfähigkeit innerhalb spezifischer Milieus. Erzeugt werde die Differenz von Ingroup und Outgroup, ein Freund-Feind-Schema.

Die Ausstattung des Feindes

Betrachtet man die Attribute, mit denen große Teile der deutschen Presse gegenwärtig den russischen Präsidenten belegen, fällt die Entscheidung zwischen In- oder Outgroup tatsächlich sehr leicht. Wladimir Putin wird fast durchgehend mit negativen Ausschmückungen bedacht. Er wird als der "Allmächtige" bezeichnet, abgehärtet, ein Macho und zudem "beratungsresistent gegenüber westlichen Einwänden". Teilweise werden - analog zur russischen Fabel - Tiervergleiche bemüht: Der Tiger ist ein einsamer Jäger [6].

Eine besondere Bedeutung für den Aufbau eines personalisierten Mythos spielt offenbar seine Herkunft. Viele Redakteure scheinen fasziniert von der Tatsache, dass ein "Vorstadtjunge", der Sohn eines "Fabrikarbeiters und überzeugten Kommunisten", der "Enkel eines Kochs von Stalin", der möglicherweise sogar adoptiert oder im Heim aufgewachsen ist, in Russland Präsident werden kann. Dementsprechend scheint Wladimir Putin in zahlreichen Beiträgen keineswegs präsidial sprechen zu können, sondern er "poltert", "lästert" und "lässt verlauten". Er antwortet nicht, sondern "serviert eine Antwort".

Diese pejorative Form der Beschreibung beschränkt sich nicht nur auf Sprechakte. Wenn er überhaupt regiert, dann vielfach mit dem Zusatz "wie ein Zar". Zumeist "verordnet" und "protzt" er oder "setzt auf die niederen Instinkte". Das Ergebnis seines Handelns sind "teuflische Spezialoperationen" und "Putins Provokationen". Um seine mangelnde Vertrauenswürdigkeit zu illustrieren, werden zur Not auch schwer überprüfbare Quellen herangezogen: "Putin selbst, so jedenfalls glaubt der britische Geheimdienst MI6, soll Milliardär sein." [7]

Bei dem hohen Anteil, den Wladimir Putin an der Russland-Berichterstattung einnimmt, ließe sich natürlich fragen, was alle anderen Akteure der 145 Millionen Menschen starken russischen Gesellschaft treiben. Bestandteil der extrem personalisierten Russland-Berichterstattung ist, dass Journalisten ihre Putin-Fixierung legitimieren, indem sie weitere Vertreter der russischen Politik systematisch ausblenden oder abwerten. Folgt das Publikum der Beschreibung vieler Journalisten, dann existieren andere wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Interessen nur in direkter Relation zum Präsidenten selbst. Sie erscheinen in der Presse als "Putins Freunde", seine "Heimatfront", die "devote Umgebung", "Höflinge und Claqueure" und "Putins geheimnisvolle Macht-Clique".

Kritik an den Putin-Verstehern

Im März lässt sich in der personalisierten Konflikt-Berichterstattung ein neuer Trend erkennen, der die Hypothese von der beabsichtigten Zuordnung zur In- oder Outgroup, zum medialen Freund-Feind-Schema, ausdrücklich bestätigt. Ausgerechnet die Dissidenten der deutschen Außenpolitik werden zunehmend als "Putin-Versteher" diffamiert und das, obwohl kaum einer der so Betitelten auf Putin bezogene Argumente anführte. Im Gegenteil argumentieren die Vertreter einer auf Deeskalation gerichteten Verständigungspolitik im Vergleich zum politischen Mainstream überdurchschnittlich sachbezogen.

Einen der ersten Steine warf am 24. Februar Robert Leicht, politischer Korrespondent von Die Zeit. Er empfahl [8] dem "Ex-Kanzler und Putin-Versteher Gerhard Schröder, sich mit seinen Ratschlägen etwas mehr zurückzuhalten". Keinen Monat später, am 16. März, musste Robert Leicht seinen eigenen Kommentar bereits mit folgendem Disclaimer [9] einleiten: "Man kommt schnell in den unansehnlichen Ruf des Russlandverstehers, wenn man sich dem kollektiven Zwang zur Verurteilung Putins nicht ohne die geringste Widerrede fügt." In der Zwischenzeit hatten fast alle überregionalen Medien die Rede von den Putin-Verstehern - teilweise auch als Moskau- oder Russland-Versteher - übernommen.

Zuerst traf die journalistische Zuweisung zur Outgroup neben Gerhard Schröder natürlich die Partei Die Linke. Ihr widmete Fabian Reinbold - Journalistenschule in München, danach Reporter in den USA - am 17. März einen kompletten Moskau-Versteher-Artikel [10] auf Spiegel-Online. Knapp zwei Wochen zuvor hatte sich derselbe Autor dort als intimer Putin-Kenner gezeigt (Putin und wie er die Welt sieht [11]), der hauptsächlich auf persönliche Attribute abstellt und kaum ein Sachargument aufnimmt.

Die Springer-Zeitung Die Welt erweiterte kurze Zeit später die Feind-Liste [12] um dissidente Christdemokraten (Armin Laschet, Peter Gauweiler) und weitere Sozialdemokraten (Gernot Erler, Günter Verheugen). Die einzige Partei, in deren Anhang Journalisten bisher keine Putin-Freunde outeten, sind die Grünen und das, obwohl etwa Antje Vollmer [13] und Hubert Kleinert [14] die "hysterische" Konfrontationspolitik ihrer Parteiführung in aller Deutlichkeit kritisierten.

Die Putin-Versteher, stellt [15] die FAZ völlig zutreffend fest, gehen der "Gleichsetzung von Führung und Volk auf den Leim". Damit wollte Autor Friedrich Schmidt allerdings nicht seine Kollegen kritisieren, welche seit Wochen den Eindruck erwecken, als hänge Russlands Wohl und Wehe von einer einzelnen Person ab. Er meinte die "ungewöhnliche Allianz" aus deutschen Wirtschaftsvertretern, Politikern aus Union, FDP und SPD mit der Linkspartei, die Sanktionen gegen Russland ablehnen.

Beim Publikum hat diese kleine Allianz unterdessen, unbeeindruckt vom massiven und konsonanten Medienfeuer, die souveräne Mehrheit: Nur 26 Prozent der Deutschen halten Wirtschaftssanktionen für sinnvoll und ganze drei Prozent meinen, man sollte die Ukraine auch militärisch gegen Russland unterstützen, so die Forschungsgruppe Wahlen [16] Mitte März.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3364521

Links in diesem Artikel:
[1] http://www.focus.de/politik/ausland/kalter-krieger-seite-3-misstrauen-gegenueber-dem-westen_id_3679564.html
[2] http://www.bild.de/politik/ausland/wladimir-putin/als-die-freiheit-kam-wollte-putin-sterben-35185436.bild.html
[3] http://www.zeit.de/2014/13/wladimir-putin-psyche-autobiografie
[4] http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/das-phantom-1.18259034
[5] http://download.springer.com/static/pdf/28/art%25253A10.1007%25252Fs11616-006-0240-y.pdf?auth66=1395822180_f0dea706760b7b7f7e2579e9ae7e67ec&ext=.pdf
[6] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wladimir-putin-der-tiger-ist-ein-einsamer-jaeger-12858895.html
[7] http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article125876854/Was-den-Vorstadtjungen-Wladimir-Putin-antreibt.html
[8] http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-02/ukraine-machtwechsel-fragen
[9] http://www.zeit.de/politik/ausland/2014-03/krim-kreml-putin-referendum
[10] http://www.spiegel.de/politik/deutschland/linkspartei-in-der-krim-krise-putins-freunde-in-berlin-a-959041.html
[11] http://www.spiegel.de/politik/ausland/wladimir-putins-pressekonferenz-zur-krim-der-ahnungslose-vom-kreml-a-956869.html
[12] http://www.welt.de/politik/deutschland/article125984905/Was-die-Putin-Versteher-in-Deutschland-antreibt.html
[13] http://www.berliner-zeitung.de/politik/antje-vollmer--auch-die-gruenen-scheinen-mir-sehr-geschichtsvergessen-,10808018,26548482.html
[14] http://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-russland-und-der-westen-moralischer-furor-oder-realpolitik_id_3690427.html
[15] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/russische-propaganda-opfer-des-kreml-12858276.html
[16] http://www.forschungsgruppe.de/Aktuelles/Politbarometer/