Die zweite Welle?

Modellierung und Prognose von Fallzahlen zur SARS-CoV-2-Pandemie

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Vorspann

In diesem Artikel wird versucht, die Entwicklung der Infizierten von SARS-CoV-2 in mehreren Ländern durch ein einheitliches, exponentielles Modell zu beschreiben und damit auch Prognosen zu erstellen. Für vier ausgewählte Länder und für die weltweiten Fälle wurden mittelfristige Voraussagen der Fallzahlen für den 1. Oktober 2020 und langfristige für das Jahresende 2020 berechnet.

Zusätzlich wird mit statischen und dynamischen Maßzahlen der Zustand in diesen Ländern charakterisiert und dadurch eine Klassifizierung über den Erfolg bei der Bekämpfung der Pandemie ermöglicht.

Epidemiologische Modelle

Ein Modell ist ein vereinfachtes mathematisches Abbild der Realität. Es kann und soll nicht alle Aspekte der komplexen Wirklichkeit erfassen, aber doch wesentliche Stellgrößen und Zusammenhänge analysieren können.

Im medizinischen Bereich werden bei Epidemien, wie hier für Corona, meistens sogenannte Kompartimentmodelle1 verwendet. Diese teilen die Bevölkerung in verschiedene Kompartimente (Gruppen) ein, für die jeweils spezielle nichtlineare Ansätze gewählt und in einem Mehrgleichungsmodell verknüpft werden, in deren Mittelpunkt die Reproduktionszahl R steht.

Dabei wird meist mit Differentialgleichungen2 gearbeitet, deren Lösungen vom exponentiellen Typ sind. Am bekanntesten sind die SEIR-Modelle mit folgenden vier Teilmengen:

S steht für die susceptible, also für die Krankheit empfängliche (ansteckbare) Teilgruppe

E (exposed) ist der Bevölkerungsteil, der infiziert, aber (noch) nicht ansteckend ist

I (infected) hingegen bezeichnet die Infizierten, die infektiös sind

R (removed) umfasst die Teilmenge, die die Krankheit hinter sich hat, also Genesene und Tote

Innerhalb des dynamischen Verlaufs der Krankheit gibt es Übergangsraten zwischen den einzelnen Teilmengen. Wichtig für den Verlauf der Krankheit ist die zeitabhängige Ansteckungsrate von S zu E, die entscheidend von der Anzahl3 der Personen in der Teilmenge I abhängt. Die entsprechenden Tageswerte sind die Neuinfizierten.

Ansatz von Mohr und Püschel

Es geht in diesem Artikel um eine statistische Darstellung des Krankheitsverlaufs alternativ zu den obigen medizinisch fundierten Modellen. Unser Ansatz ist rein datenorientiert und beschreibt die kumulierten Corona-Infizierten mittels geeigneter mathematischer Funktionen. Neben den Neuinfizierten sind in unserem Ansatz auch die Anzahl der eingesetzten Tests wichtig, weshalb wir die Maßzahl NIT (Neuinfizierte pro Test) 4 in den Mittelpunkt unserer statistischen Ausarbeitung der Corona-Pandemie stellen.

Anregung für unsere Analyse war der teilweise provozierende Artikel von Isaac Ben-Israel5, worin drei Thesen aufgestellt worden sind.

Zuerst stellte er fest, dass die Zeitreihe der kumulierten Infizierten für viele Länder sehr ähnlich aussieht. Das ist weitgehend richtig und kompatibel mit dem medizinischen Modell. Zweitens soll das Maximum der Neuinfizierten etwa sechs Wochen (42 Tage) nach Beginn der Messungen erreicht werden. Diese Beobachtung ist teilweise richtig. Drittens sollen nach etwa zehn Wochen die Neuinfektionen praktisch auf Null zurück gehen. Diese optimistische Vermutung ist leider falsch.

Bei unserer rein datengetriebenen Beschreibung der kumulierten, getesteten Infizierten dieser COVID-19 Pandemie sollen fünf6 Phasen unterschieden werden:

Phase 1: Zunächst gibt es ein langsames Anwachsen.
Phase 2: Es folgt eine starke exponentielle Beschleunigung der Fallzahlen bis zu einem Wendepunkt, der im Übergang zur Phase 3 liegt.
Phase 3: Danach verringern sich die Zuwächse stetig.
Phase 4: Die Anstiege befinden sich auf niedrigem Niveau wie in Phase 1 und werden immer kleiner. Für die Summenkurve existiert eine (fiktive), asymptotische Obergrenze.

Seit einiger Zeit ist festzustellen, dass es wohl nur wenigen Ländern gelungen ist, diesen Zustand längere Zeit aufrecht zu erhalten. Vielmehr erhöht sich die Summe der Infizierten immer weiter. In Phase 5 unterscheiden wir drei Fälle:

Phase 5: (i) Die Steigerungen sind so gering, dass die in Phase 4 beschriebene Obergrenze längere Zeit eingehalten wird.
(ii) Es gibt im Zeitablauf kleinere bis mittlere Ausbrüche, die die Fallzahlen erhöhen. In diesem Fall gelingt es jedoch noch, die Epidemie einzudämmen. Die Summenkurve verläuft fast linear.
(iii) Die Zuwächse sind so groß, dass man von einer zweiten Infektionswelle sprechen muss, die eventuell wieder die ersten vier Phasen durchläuft. Die Summenkurve beginnt mit einem konvexen (überlinearen) Verlauf.

Diese drei Verlaufsmöglichkeiten in Phase 5 sind in den Abbildungen 1 und 2 dargestellt mit den Fallbeispielen Neuseeland (NZ), Deutschland (DE), Israel (IL) und den Vereinigten Staaten von Amerika (US).

Dort sind auch die in den fünf Phasen beschriebenen typischen Verläufe für die kumulierten Infizierten und die täglichen Neuinfizierten dargestellt. Die letzte Größe erhält man empirisch durch Differenzbildung zweier aufeinanderfolgender Werte bzw. theoretisch durch Bildung der ersten Ableitung aus der Kurve der kumulierten Infizierten.

Die Kurve der (durch Tests bestätigten) Gesamtinfizierten hat in den ersten vier Phasen häufig die Form eines umgekippten "S" (Sigmoidfunktion). Charakteristisch ist der zugehörige Wendepunkt der Gesamtinfizierten bzw. zum gleichen Zeitpunkt das Maximum der täglichen Neuinfizierten. Vielfach liegt dieser Punkt nicht in der Mitte der Zeitspanne über die ersten vier Phasen, sondern etwas links davon. Wenn man Modelle aus der Klasse der exponentiellen Wachstumsfunktionen als Kandidaten heranzieht, spricht gerade dieser Punkt für die Gompertz7-Funktion. und nicht für eine logistische Funktion, bei der der Wendepunkt mittig liegt. Ferner haben wir festgestellt, dass die Anpassung an das Datenmaterial (gemessen durch das Bestimmtheitsmaß R2) für die Gompertz-Funktion meist günstiger ausfällt und auch die Höhe der Sättigungsgrenze besser der Realität entspricht. Allerdings erweist sich diese Asymptote als gewisse Schwäche, weil für weitaus die meisten Länder die Epidemie weiter voran schreitet und die tatsächlichen Fallzahlen diese Obergrenze überschreiten, wie man in der fünften Phase sieht. Das heißt man müsste das Gompertz-Modell mit einer variablen Obergrenze verfeinern, wofür wir noch keinen Ansatz haben. Stattdessen wird beim Übergang von der vierten zur fünften Phase eine zusätzliche Funktion dazu addiert, wie zum Beispiel Geraden im Fall (i) oder (ii).

Abbildung 1: Die fünf Phasen für die kumulierten Infizierten
Abbildung 2: Die fünf Phasen für die Neuinfizierten

Die Gompertz-Funktion kann als Ansatz zur Beschreibung eines Lebenszyklusprozesses interpretiert werden und wurde ursprünglich von ihrem Erfinder in der Versicherungsmathematik als Aussterbemodell verwendet. Später hat man sie auch bei der Analyse von Populationen in der Biologie und für Absatzprognosen in der Wirtschaft eingesetzt. Bei unseren Analysen wird sie erfolgreich als Infektionsmodell zur Ausbreitung von SARS-CoV-2 herangezogen.

Seien yt die kumulierten Infizierten und yt die täglichen Neuinfizierten. Dann lautet die entsprechende Gompertz-Funktion:

yt = Ae−be^(−ct)

Die Funktion besitzt drei Parameter:

A: Asympote, gegen diesen Parameter strebt die Funktion für große t

b: Verschiebung der gesamten Kurve entlang der t-Achse (Translation)

c misst die Steilheit der Kurve (je größer c, umso steiler der Anstieg)

e ist die Eulersche Zahl, e = 2,718

Die Gompertz-Funktion kann eine gute Anpassung an die Fallzahlen für die ersten vier Phasen sein. Der Wendepunkt hat die Koordinaten:

tw = lnb/c und y(tw) = A/e = 0,368 · A

Die Ableitung (sogenannte Gompertz-Differentialgleichung) lautet:

yt = c · yt · ln(A/yt)

Somit ist yt das Wachstum der Gompertz-Funktion und proportional

(i) zum Niveau yt

(ii) zum Parameter c

(iii) zum Logarithmus des Quotienten A/yt

Man kann ln(A/yt) für zunehmende t als Dämpfungsfunktion interpretieren.Der Faktor (i) und der Faktor (iii) verlaufen entgegengesetzt. Je größer yt umso kleiner ln(A/yt). Im Wendepunkt ist der Anstieg maximal, und zwar y’(tw) = A·c/e. Man sieht in den Formeln die Wichtigkeit des Parameters c. Je größer ceteris paribus c, umso mehr ist der Wendepunkt auf der t-Achse nach links verschoben. Das heißt der Wendepunkt ist zeitlich schneller erreicht. Außerdem ist die Wendetangente größer (Steilheit).

Die Ableitung yt kann man zur Anpassung der Kurve der täglichen Neuinfektionen heranziehen. Für eine längerfristige Prognose sollte man die Gompertz-Funktion verwenden. Bei kurzfristigen Voraussagen ist es sinnvoller, die Kurve der täglichen Neuinfizierten zu verwenden und zum Beispiel mittels eines ARIMA-Modells zu schätzen.

In der fünften Phase gibt es im weiteren Verlauf für die Kurve der kumulierten Infizierten bzw. der täglichen Neuinfizierten größere Unterschiede zwischen den Ländern, wie in Abbildungen 1 und 2 dargestellt ist.

So kann die Kurve der Fallzahlen lange Zeit in der Nähe der Asympote A bleiben und die täglichen Neuinfizierten sehr klein sein (siehe Beispiel Neuseeland). In diesem Fall kann man von einer (theoretischen) Ausrottung der Epidemie sprechen. In zweiten Fall (vergleiche Deutschland bis Mitte/Ende Juni) wird die Asymptote klar überschritten, aber die Fallzahlen steigen zunächst nur linear. Die Neuinfizierten verlaufen in kleineren (wöchentlichen) Wellen, deren Amplituden im Vergleich zur ersten Welle relativ gering sind. Diese Ausbrüche sind beherrschbar und ermöglichen eine längerfristige Eindämmung. Schließlich kann im dritten Fall in der fünften Phase nach einem langsamen Beginn ein starker Anstieg (konvexer Kurvenverlauf ) erfolgen und somit eine zweite Welle einleiten (vergleiche Israel, Deutschland ab August sowie USA).

Die Schätzung der drei Modellparameter ist manchmal schwierig, weil man bei den Rechengängen8 nicht immer eine Lösung erhält.

Definition der zweiten Welle

Hier werden zunächst nur die aufsummierten registrierten Infizierten betrachtet. Ähnliches gilt auch bei Todesfällen.

Eine relative weiche Definition besteht darin, dass die weitere Entwicklung der Fallzahlen nach der ersten Welle durch eine zweite, anschließende Gompertz-Funktion hinreichend gut abgebildet werden kann. Das erkennt man jedoch meistens erst etwas später, wenn die Zeitreihe nach langsamerem linearen Anstieg von der ersten in die zweite Phase übergeht, die einen konvexen Verlauf mit exponentiell steigenden Werten zeigt. Für Deutschland ist das ab Mitte Juli in der 28. Kalenderwoche zu erkennen, wobei die nächsten Wochensummen bis zur 34. Kalenderwoche sich um durchschnittlich 25% erhöhen. In Neuseeland ist man noch in Phase 1 und relativ weit von einer zweiten Welle entfernt, während man in Israel und USA schon den Wendepunkt überschritten hat und sich in der dritten Phase der zweiten Welle befindet.

Es ist schwierig, diesen Sachverhalt numerisch direkt an den Zahlen der Infizierten festzumachen. Daher ist es sinnvoll, mit der wöchentlichen NIT-Maßzahl zu arbeiten, die aus dem Quotienten der wöchentlichen Neuinfizierten durch die Anzahl der wöchentlichen, neuen Tests besteht. Nach unseren bisherigen Erfahrungen bei der Entwicklung dieser Größe seit Ende April für 25 ausgesuchte Länder kann man zu folgender Klasseneinteilung gelangen. Werte unter 1% sind positiv einzustufen und liegen im grünen Bereich. Hingegen geben Werte zwischen 1% und 3,5% Anlass zur Sorge und sollen den gelben Bereich kennzeichnen, während Werte über 3,5% als kritisch anzusehen sind (roter Bereich).

Wir glauben, dass die Betrachtungsweise einfacher interpretierbar und durch die Einbeziehung der Testzahlen realitätsbezogener ist als die Reproduktionszahl R oder auch als die reine Betrachtung nur der absoluten Infektionszahlen.

Fallstudien

Anhand der Analysen und Prognosen für die vier Staaten Neuseeland (NZ), Deutschland (D), Israel (IL) und die USA (US) soll versucht werden, die unterschiedlichen Phasen im Zeitablauf einer Epidemie aufzuzeigen.

Bei einem derartigen Ländervergleich sollte beachtet werden, dass dort unter anderem unterschiedliche Voraussetzungen hinsichtlich Altersstruktur, Teststrategien, Gesundheits- und Gesellschaftssystem bestehen. Für diese vier Staaten sind die Unterschiede jedoch nicht so groß. Wesentlich schwieriger ist es, die dynamische Entwicklung der Fallzahlen seit Anfang August zu bewerten. Daher werden mittelfristige Prognosen für den 1. Oktober 2020 und langfristige Voraussagen für das Jahresende 2020 von den vier Ländern und weltweit abgegeben, um die Eignung des von uns verwendeten Modellansatzes zu überprüfen. Dabei werden Daten bis zum 23. August verwendet.

Für die 5-Wochen-Prognose bis zum 1. Oktober 2020 sollte die Messlatte für den mittleren, absoluten, prozentualen Fehler bei 10% liegen. Der entsprechende Fehler für die Prognose zum Jahresende dürfte wesentlich höher ausfallen. Diese Voraussagen sind spekulativ. Dabei kommt es häufig vor, dass langfristige Prognosen aus Phase 2 des Modells wie in Deutschland meist zu hoch sind, während man aus Phase 3, wie in Israel und USA, eher zu niedrige Werte erhält.

Tabelle 1: Kennzahlen (Stand 23. August 2020)
NZ DE IL US Welt
Infizierte pro 100.000 Einw. 34 281 1.123 1.774 303
Todefälle pro 100.000 Einw. 0,4 11,1 9,1 54,5 10,4
Tests pro 100.000 Einw. 13.900 13.400 23.700 23.000 5.200
NIT 0,08 0,93 6,0 5,5
IT 0,24 2,1 4.7 7,7 5,8
CFR 1,2 4,0 0,8 3,1 3,4
Durchschnittsalter 33,9 42,6 29,6 36,5 27,7
1. Modellwendepunkt 30.03. 01.04. 03.04. 22.04. 16.10.
2. Modellwendepunkt 24.11. 26.07. 21.07.
Prognose 01.10.2020 1.850 290.000 147.000 6,6 Mio. 33 Mio.
Prognose 31.12.2020 2.330 510.000 163.000 7,0 Mio. 58 Mio.
NIT: wöchentliche Neuinfizierte dividiert durch wöchentliche Tests; eigene Berechnungen mit Daten aus Worldometer und Robert-Koch-Institut; eigene Klassifikation: unter 1% grüner Bereich, 1% bis 3,5% gelber Bereich, über 3,5% roter Bereicht
IT: Tabellenzeile 1 geteilt durch Tabellenzeile 3 (kumulierte Infizierte geteilt durch kumulierte Tests) beschreibt den gesamten Verlauf, wäh- rend NIT sich aktuell auf die letzte Woche bezieht
CFR: case fatality rate (Tabellenzeile 2 geteilt durch Tabellenzeile 1) Anteil der kumulierten Todesfälle an den kumulierten getesteten Infizierten (in %)

Neuseeland

Wie aus der Tabelle hervorgeht, ist Neuseeland ein Musterland bei der Corona-Bekämpfung, weil es in fast allen Kriterien einen Spitzenplatz9 einnimmt. Insbesondere bei den wichtigen Kennzahlen der kumulierten Infizierten bzw. Todesfällen pro 100.000 Einwohner und den NIT-Werten. Dabei ist natürlich die Insellage von großem Vorteil. Aber es sind dort auch frühzeitig sehr effektive Maßnahmen eingeleitet worden. Die neuseeländische Präsidentin Jacinda Ardern hat es treffend fomuliert: "Going hard and going early is paying off."

Wie man aus der zugehörigen Grafik 3 erkennt, sind seit Ende April drei Monate lang fast keine neuen Fälle aufgetreten und die Summenkurve der Infizierten verlief entlang der Obergrenze des Modells bei etwa 1.500. Auch der Modellparameter für die Steilheit des Modells ist relativ groß, so dass der Wendepunkt der Corona-Entwicklung bereits Ende März erreicht werden konnte. Daher konnte man beinahe von einer Eliminierung von Corona in Neuseeland und einer Rückkehr in den Alltag sprechen. Es hat sogar beim Volkssport Rugby wieder vollbesetzte Stadien gegeben. Die Wirtschaft ist im Vergleich zu Deutschland nur wenig eingebrochen. Nun sind Anfang August überraschend etwas höhere Fallzahlen aufgetreten, worauf die Regierung wie bei der ersten Welle sofort und radikal mit befristeten Ausgangssperren für Auckland sowie Massentests und konsequenten Kontaktverfolgungen reagiert hat. Insbesondere die völlige Abschottung gegenüber Reisenden aus dem Ausland wird als wichtige Maßnahme für die bisher hervorragende Bilanz angesehen. Nur neuseeländische Staatsbürger dürfen unter strengen Auflagen zurück ins Land. Man darf gespannt sein, ob dieses schnelle Umschalten vom Normal- in den Alarmmodus wieder erfolgreich sein wird. Die Modellprognosen zeigen somit nur mäßige Zuwächse. Für den 1. Oktober beträgt die Voraussage 1.850 und für das Jahresende 2.330 Fälle.

Abbildung 3: Fallzahlen und Modelle für Neuseeland

Deutschland

Wenn man eine Klassifizierung10 oder Bewertung der Länder im Bezug auf die Abwehr der Corona-Pandemie vornimmt, kommt Deutschland in die nächst bessere Gruppe hinter Neuseeland. Denn Deutschland ist kein Inselstaat, sondern das größte Durchgangsland in Europa und im Vergleich zu den asiatischen Staaten, die sehr gut abschneiden, hat Deutschland ein anderes Gesellschaftssystem, das keine so rigorosen Durchgriffe von Seiten des Staates zulässt. Dennoch ist man erfolgreicher als andere große Länder in Europa (Großbritannien, Spanien, Italien, Frankreich) und ist hinsichtlich der wichtigsten Kennzahlen11 auf dem Niveau unserer kleineren Nachbarn Dänemark und Österreich.

Seit vierzehn Wochen (21. bis 34. Kalenderwoche) liegt der wichtige NIT-Wert unter 1 und damit im grünen Bereich. Nur in der 24. Kalenderwoche beim größeren Ausbruch in den Schlachtfabriken von Tönnies erfolgte ein kleiner Anstieg über diese Marke. Damit ist eine zeitweilige Eindämmung gelungen. Diese könnte jedoch wegen der seit Mitte Juli deutlich höheren Fallzahlen auch aufgrund der Reiserückkehrer und durch die Wiedereröffnung der Schulen gefährdet sein. Allerdings sind auch die Testungen stark gestiegen, zum Beispiel in der 32., 33. und 34. Kalenderwoche jeweils um 150.000 bzw. knapp 100.000 ohne den NIT-Wert merklich zu vergrößern. Man hat jetzt die Teststrategie, die sich früher auf symptomatische Personen und die zugehörigen Infektionsketten beschränkte, um Massentestungen erweitert.

Inzwischen sind die Infektionen mit Ansteckung im Ausland 12 in der 34. Kalenderwoche mit 42% auf die zweithöchsten Wert gestiegen. Nur in der 11. Kalenderwoche

Abbildung 4: Fallzahlen und Modelle für Deutschland

(u.a. Ischgl) gab es einen höheren Wert. Ferner wurde bei einer aktuellen Stichprobe13 die Positivrate (das heißt der Anteil der positiven Tests an allen Tests) von Reiserückkehrern auf Flughäfen, an Autobahnraststätten und Bahnhöfen gemessen. Diese war im Mittel etwa 60% höher als bei inländischen Infektionen. Hier liegt eine besonders kritische Gefahrenquelle vor, weil sich die Reiserückkehrer flächendeckend zurück über ganz Deutschland verteilen.

Das Gompertz-Modell für die erste Welle ähnelt dem von Neuseeland, weil der Parameter für die Steilheit der Kurve ebenfalls ziemlich groß ist, so dass der Wendepunkt bereits relativ schnell am 1. April 2020 erreicht werden konnte. Die berechnete fiktive Modellobergrenze wurde in Deutschland jedoch wesentlich früher überschritten.

Ab Anfang August 2020 sind die Zahlen der Neuinfizierten so stark angestiegen, dass man eine weitere Gompertz-Kurve für eine zweite Welle anpassen kann. Diese ist gerade in der Aufbauphase, weshalb die Schätzung der Modellparameter und die zugehörigen Prognosen noch relativ unsicher sein können.

Der Parameter für die Steilheit ist im Vergleich zum ersten Modell ziemlich klein. Dadurch könnte sich diese zweite Welle bis zum nächsten Frühjahr hinziehen. Der Wendepunkt wird ungefähr Ende November erreicht. Die Prognose für den 1. Oktober 2020 beträgt 290.000 und für das Jahresende etwa 510.000. Das ist im Verhältnis mehr als in der ersten Welle, aber zeitlich länger gestreckt.

Auch weitere Kennzahlen weisen darauf hin, dass diese zweite Welle trotz höherer Fallzahlen weniger gefährlich als die erste werden könnte. Die NIT-Werte sind immer noch kleiner als 1%, und es ist unwahrscheinlich, dass sie einen Wert von über 9% erreichen wie auf dem Höhepunkt der ersten Welle. Sehr beruhigend ist bisher ebenfalls, dass die Zeitreihe der Todesfälle kaum ansteigt. Sie bleibt bisher auf niedrigstem Niveau, wie auch die Belegung der Intensivbetten in den Krankenhäusern. Das könnte mit der veränderten Teststrategie erklärbar sein, weil unter den Reiserückkehrern sowie aus dem Schul- und Arbeitsbereichen viel mehr jüngere Personen zu finden sind. Zu Beginn der Pandemie wurden in Alten- und Pflegeheimen sowie Krankenhäusern hauptsächlich "Ältere" getestet. Daher hat sich die Altersverteilung der Infizierten sehr deutlich in Richtung jüngerer Jahrgänge verschoben. In der 14. Kalenderwoche auf dem Höhepunkt der ersten Welle betrug das Durchschnittsalter der nachweislich Infizierten noch 51 Jahre. Jetzt in der 34. Kalenderwoche ist das mittlere Alter sehr stark auf 32 Jahre gefallen14. Da jüngere Menschen wesentlich widerstandsfähiger gegenüber Covid-19 sind, könnte die zweite Welle eine andere Charakteristik bekommen.

Natürlich ist weiterhin erhöhte Wachsamkeit geboten. Politik und Gesundheitswesen sollten zusammen mit den Medien transparent berichten und alle Informationen veröffentlichen, ohne unnütz Panik zu schüren. Dazu besteht zur Zeit kein Anlass.

Das Robert-Koch-Institut wiederholt seit Anfang August immer wieder Warnungen, dass dieser Trend beunruhigend ist und eine weitere Verschärfung der Situation unbedingt vermieden werden muss. Diese Aussagen sollten wegen der oben gebrachten Argumente relativiert werden. Daher richten wir erneut und um so dringlicher unsere Forderung an das Robert-Koch-Institut, die täglichen Testzahlen zu veröffentlichen, damit die NIT-Werte als wöchentlicher gleitender Durchschnitt tagesgenau berechnet und den Reproduktionszahlen, die die Anzahl der durchgeführten Tests nicht direkt berücksichtigen, gegenüber gestellt werden.

Die Prognosen sind ebenfalls zunehmend. Unter den aktuellen Bedingungen ist für den 1. Oktober 2020 mit kumuliert etwa 290.000 und für das Jahresende mit 510.000 Infizierten zu rechnen. Selbst mit den deutlich erhöhten Testzahlen steht Deutschland noch eher im Mittelfeld. Zum Beispiel sind die Tests pro 100.000 Einwohner in Israel und den USA fast doppelt so hoch wie hierzulande (siehe Tabelle 1).

Israel

Während der ersten Welle bis Anfang Juni hat Israel mit strengen Beschränkungen die Pandemie gut in den Griff bekommen. Alle wichtigen Kennzahlen waren besser als in Deutschland. Die erste Gompertz-Kurve verlief wie in Neuseeland und Deutschland ziemlich steil mit einem frühen Wendepunkt am 3. April und einer Obergrenze von 17.000. Ende Mai wurden unter anderem wegen der schwierigen Wirtschaftslage (Arbeitslosenquote über 20%) umfangreiche Lockerungen erlassen, die schnell zu deutlichen Erhöhungen der Infizierten und Todesfälle führten und eine zweite Welle auslösten. Diese könnte wesentlich schlimmer ausfallen. Die zweite Gompertz-Kurve ist weniger steil mit einem Wendepunkt am 26. Juli 2020. Die Prognosen betragen für den 1. Oktober 147.000 und am Jahresende 163.000 kumulierte Infizierte. Bemerkenswert für die Situation in Israel sind ferner die hohe Testquote und mit 0,8% eine im internationalen Vergleich sehr kleine case fatality rate. Ein Grund könnte das geringe Durchschnittsalter in diesem Land sein (13 Jahre jünger als in Deutschland), wodurch die Corona-Todesfälle, die hauptsächlich bei den älteren Personen hoch sind, relativ moderat ausfallen. Allerdings steigen die Todesfälle aktuell stark an.

Abbildung 5: Fallzahlen und Modelle für Israel

USA

In den USA hat Präsident Trump mit seiner Beratungsresistenz und seinem mangelhaften Wissen15 über Corona viel zu spät reagiert und zunächst keinen geordneten Ablaufplan vorgelegt. Das hat zur Folge, dass das Land im internationalen Vergleich und ebenfalls bei den Kenngrößen unserer Tabelle ziemlich schlecht abschneidet. Beobachtet man zusätzlich noch die Wirtschaftseinbußen, könnte eine Wiederwahl von Trump Anfang November sehr schwierig werden.

Die kumulierten Infizierten zeigen einen speziellen, nicht eindeutigen Verlauf, der die Beschreibung mit einer oder auch mit zwei Gompertz-Modellen möglich erscheinen lässt. Mehrere Punkte sprechen für die zweite Variante. So hat die Kurve der täglichen Neuinfizierten zwei Gipfel. Der Wendepunkt (am 21. Juli 2020) des Zwei-Wellen-Modells stimmt damit gut überein. Insgesamt ist auch die Anpassung an die empirischen Daten etwas besser. Die mittel- und langfristigen Prognosen fallen deutlich geringer aus als beim Ein-Wellen-Modell. Für den 1. Oktober 2020 beträgt die Voraussage der kumulierten Infizierten etwa 6,6 Millionen und Ende des Jahres 2020 7,0 Millionen. Aktuell befinden sich die USA in der dritten Phase der zweiten Welle mit abnehmenden Zuwächsen.

Es wird fast doppelt so viel getestet wie in Deutschland. Die Infizierten bzw. Todesfälle pro 100.000 Einwohner sind etwa sechs bzw. fünf mal so hoch wie in Deutschland.

Der NIT-Wert beträgt aktuell mit 5,5% in den USA ebenfalls das sechsfache und ist praktisch seit Beginn der Pandemie im kritischen, roten Bereich (siehe Tabelle 1).

Abbildung 6: Fallzahlen und Modelle für USA

Welt

Wegen der Summation der Zahlen vieler Länder in unterschiedlichen Phasen und der daraus resultierenden Heterogenität sind die weltweiten kumulierten Infizierten relativ schwer zu modellieren und prognostizieren.

Die angepasste Gompertz-Kurve befindet sich in der zweiten Phase und geht von einem Wendepunkt für etwa Mitte Oktober aus. Da der Modellparameter für die Steilheit sehr gering ist, wird die Welle praktisch bis Ende 2021 laufen. Für den 1. Oktober 2020 werden Schätzwerte von 33 Millionen und für das Jahresende 58 Millionen erwartet.

Im Vergleich mit den genauer untersuchten vier weit fortgeschrittenen Ländern werden weltweit im Mittel bisher wesentlich weniger Tests pro 100.000 Einwohner durchgeführt. Die Infizierten und Todesfälle pro 100.000 Einwohner befinden sich aktuell weltweit ungefähr auf dem Niveau von Deutschland, steigen jedoch in Zukunft wesentlich stärker an.

Abbildung 7: Weltweite Fallzahlen mit Modell

Kurzer Ländervergleich

Wenn man Ländervergleiche macht, sind neben den eher statischen (die gesamte Historie einbeziehenden) Kenngrößen wie Infizierte bzw. Todesfälle pro 100.000 Einwohner sowie der daraus hergeleiteten case fatality rate vor allem die dynamischen Maßzahlen wichtig, die die aktuelle Entwicklung aufzeigen. Diese sind zum Beispiel die Phase, in der sich das beschreibende Gompertz-Modell befindet sowie vor allem der NIT-Wert.

Neuseeland hat sich bisher wenig von der Obergrenze der ersten Welle entfernt und eine zweite Welle ist wohl eher noch nicht in Sicht, weil der aktuelle kleinere Ausbruch möglicherweise eingedämmt wird. Der aktuelle NIT-Wert ist mit 0,08% und Serien von Werten unter 0,12% unglaublich gut.

Deutschland befindet sich wohl seit wenigen Tagen in der zweiten Welle. Der Wendepunkt liegt Ende November. Die NIT-Werte von unter 1% sind immer noch gut.

Deutlich weiter fortgeschritten ist die Epidemie in Israel und den USA. Die Wendepunkte der zweiten Welle können jeweils Ende Juli verortet werden. Das heißt sie befinden sich jeweils in der dritten Phase. Es werden in beiden Ländern NIT-Werte über 5% gemessen, die noch einen schlechten Zustand anzeigen, aber sich im Zeitablauf verbessern werden.

Hinsichtlich der beiden statischen Kenngrößen Infizierte und Todesfälle pro 100.000 Einwohner ist Neuseeland einsame Spitze. In der nächsten Kategorie folgt mit durchaus guten Werten Deutschland. Wiederum eine Klasse schlechter ist Israel, aber noch klar vor den USA, die zur schlechtesten Gruppe gehört. Viele Länder ließen sich in diese vier Kategorien einordnen.

Fazit

Mit den Gompertz-Kurven konnte ein vielversprechender Ansatz zur (historischen) Modellierung des häufig wellenförmigen Verlaufs der Corona-Pandemie gefunden werden. Ob man damit auch gute mittel- und langfristige Prognosen erzeugen kann, muss sich noch zeigen. Dazu haben wir hier Prognosen für fünf bzw. siebzehn Wochen im Voraus erstellt, wobei die Voraussagen für das Jahresende gerade mit einem exponentiellen Modell als spekulativ anzusehen sind.

Ferner ist in diesem Artikel anhand verschiedener Maßzahlen zur Analyse von Covid-19 ein Ländervergleich vorgenommen worden, der eine Erweiterung und Klassifizierung für viele andere Länder ermöglicht.