Die zweite Welle der Corona-Pandemie ist da: Was ist jetzt zu tun?
Wissenschaftlicher Konsens: Die Strategie der Herdenimmunität ist kein gangbarer Weg
In meinem Telepolis-Artikel "Viel gefährlicher als die saisonale Grippe und am tödlichsten für ältere Männer" vom 8.9.2020 habe ich auf die Diagramme von Ken Kubota aufmerksam gemacht, die von dem Wissenschaftler laufend aktualisiert werden und die für das Verständnis des Verlaufs der Corona-Pandemie hilfreich sein können.
Die Diagramme zeigen, dass zum Beispiel am 18.10.2020 der tägliche Zuwachs an Neuinfektionen in Deutschland (mit Übersetzung der exponentiellen Entwicklung in eine lineare) einen Wert von 0,29 % erreicht hatte und der 7-Tage-R-Wert an diesem Tag 1,23 betragen hat und damit über dem Wert von 1 lag. Außerdem hatte die Zahl der täglichen Neuinfektionen mit 8358 Fällen einen neuen Höchststand erreicht und die Zeitspanne bis zum Erreichen der Herdenimmunität (bei konstantem R-Wert) betrug 122 Tage.
Beim Vergleich dieser Werte mit denen der Sommermonate zeigt sich, dass die zweite Welle der Pandemie inzwischen auch in Deutschland angekommen ist und eine Überlastung unserer Gesundheitseinrichtungen mit schweren Covid-19-Fällen in einer kurzen Zeitspanne, d. h. in wenigen Wochen, möglich wird, wenn es nicht gelingt, den Anstieg der Infektionen einzudämmen.
Mit anderen Worten: Die Diagramme zeigen, dass seit Anfang/Mitte Juni der tägliche Zuwachs an Neuinfektionen auf über 0 % angestiegen ist und seitdem kontinuierlich um +0,2 % (nach einer Übersetzung der exponentiellen Entwicklung in eine lineare) pendelt. Dieser Wert wird selbst unter günstigsten Umständen (hervorragendes Wetter) lediglich nur für sehr kurze Zeit auf 0 % gedrückt. Seit Anfang/Mitte Juni haben wir in Deutschland, mathematisch betrachtet, kontinuierlich ein exponentielles Wachstum mit einem durchschnittlichen täglichen Zuwachs von umgerechnet rund +0,2 %, und keine Maßnahme oder Verhaltensänderung konnte dieses Wachstum effektiv bremsen. Ein erneuter Lockdown erscheint also seit Monaten nur eine Frage der Zeit.
Deshalb stellt sich die Frage: Was ist jetzt zu tun? Eine Antwort darauf hat die "Great Barrington Declaration" vom 4.10.2020 gegeben, die von drei angesehenen Wissenschaftlern unterzeichnet worden ist und die Strategie der Herdenimmunität wieder in die Diskussion gebracht hat. Mit diesem Vorschlag, der sich gegen strikte Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und zugleich für einen gezielten Schutz der Risikogruppen ausspricht, hat sich Thomas Pany in dem sehr empfehlenswerten Telepolis-Artikel "Trump angetan vom Ansatz der Herdenimmunität" kritisch auseinandergesetzt.
Eine grundsätzlich andere Antwort ist am 14.10.2020 als wissenschaftlicher Konsens in der angesehenen Wissenschaftszeitschrift "The Lancet" erschienen, in dem eine Strategie der Herdenimmunität vehement zurückgewiesen wird. Am selben Tag erschien das "John Snow Memorandum" mit dem Text des Lancet-Artikels im Netz, das von 80 namhaften Wissenschaftlern unterzeichnet worden ist.
Eine kurze Gegenüberstellung der gegensätzlichen Positionen ist am 15.10.2020 in der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts erfolgt.
John Snow Memorandum
Im Folgenden sollen hier die wichtigsten Argumente und Positionen des "John Snow Memorandums" vorgestellt werden.
John Snow (1813 bis 1858), nach dem das Memorandum benannt ist, gilt als einer der Väter der modernen Epidemiologie. Er konnte 1854 nachweisen, dass die damalige Cholera-Epidemie in London mit ca. 14.000 Toten nicht durch "Dünste" (Miasmen) verursacht worden war, sondern durch verschmutztes Trinkwasser, da sich die Todesfälle im Bereich der Wasserpumpe in der Broad Street konzentrierten.
Ausgangspunkt in dem Memorandum ist die Einschätzung, dass das Coronavirus, das ein schweres Atemwegssyndrom hervorrufen kann, weltweit bisher mehr als 35 Millionen Menschen infiziert und mehr als 1 Million Todesfälle verursacht habe. Da inzwischen eine zweite Covid-19-Welle Europa betreffe und der Winter näher rücke, würden eine klare Kommunikation über die Risiken, die von Covid-19 ausgehen, und wirksame Strategien, um diese Erkrankung zu bekämpfen, benötigt.
SARS-CoV-2 breite sich durch direkten Kontakt über größere Tröpfchen und Aerosole und auch durch Aerosole über eine längere Distanz aus, insbesondere in einer Umgebung, in der die Raumbelüftung mangelhaft sei. Seine hohe Infektiosität in Verbindung mit der Empfänglichkeit einer bisher immunologisch naiven Population gegenüber diesem neuen Virus schaffe günstige Bedingungen für eine rasche Ausbreitung in der Bevölkerung. Die Infizierten-Sterblichkeitsrate (IFR) von Covid-19 sei um ein Vielfaches höher als bei der saisonalen Influenza und eine Infektion könne zu langanhaltenden Covid-19-Symptomen führen, auch bei jungen, bisher gesunden Menschen.
Weiterhin sei unklar, wie lange bei Covid-19 eine schützende Immunität andauere. Wie andere saisonale Coronaviren sei SARS-CoV-2 in der Lage, Menschen, die bereits an Covid-19 erkrankt waren, erneut zu infizieren, aber die Häufigkeit, mit der das geschehe, sei noch unbekannt.
Die Übertragung des Virus könne durch Abstandhalten, Verwendung eines Mund-Nasenschutzes, Handhygiene, Niesetikette und die Vermeidung von Menschenansammlungen in schlecht belüfteten Räumen eingedämmt werden. Schnelle Tests, Kontaktverfolgungen und Isolation, falls erforderlich, seien ebenfalls entscheidend für die Kontrolle der Übertragung.
In der Anfangsphase der Pandemie hätten viele Länder Lockdowns durchgeführt. Dazu gehörten allgemeine Einschränkungen, einschließlich der Anordnungen, zu Hause zu bleiben und von zu Hause aus zu arbeiten, um die rasche Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Dies sei wesentlich gewesen, um die Sterblichkeit zu reduzieren und zu verhindern, dass die Gesundheitsdienste überlastet werden würden. Dazu heißt es weiter:
Obwohl die Lockdowns starke Eingriffe in das Leben der Bevölkerung gewesen sind, die die seelische und die körperliche Gesundheit erheblich beeinträchtigt haben und auch der Wirtschaft schadeten, waren diese Auswirkungen in Ländern, die nicht in der Lage waren, die Zeit während und nach den Lockdowns zu nutzen, um wirksame Kontrollsysteme der Pandemie zu etablieren, oft noch schlimmer. In Ermangelung angemessener Vorkehrungen zur Bewältigung der Pandemie und ihrer gesellschaftlichen Folgen sind diese Länder weiterhin mit anhaltenden Einschränkungen konfrontiert.
John Snow Memorandum (Übersetzung durch den Autor)
Dies habe verständlicherweise zu einer weit verbreiteten Entmutigung in der Bevölkerung und einem schwindenden Vertrauen geführt. Das Auftreten einer zweiten Welle der Pandemie und die Erkenntnis der bevorstehenden Herausforderungen hätten deshalb zu einem erneuten Interesse an der Strategie der sogenannten Herdenimmunität geführt. Diese schlage vor, einen großen unkontrollierten Ausbruch in Bevölkerungsgruppen mit einem geringen Risiko zuzulassen und gleichzeitig die Hoch-Risikopatienten zu schützen.
Befürworter dieser Strategie argumentieren, dass dieses Vorgehen in den Niedrig-Risikogruppen zur Entwicklung einer an die Infektion angepassten Bevölkerungsimmunität führen werde, die am Ende auch die Hoch-Risikogruppen schützen würde.
"Dies ist jedoch ein gefährlicher Trugschluss, der nicht durch wissenschaftliche Evidenz gestützt wird", sagt das "John Snow Memorandum". Weiterhin heißt es dort:
Jede Strategie zum Management einer Pandemie wie Covid-19, die auf eine natürliche Immunität durch eine Infektion mit SARS-CoV-2 baut, ist mit großen Mängeln verbunden. Eine unkontrollierte Übertragung bei jüngeren Menschen birgt die Gefahr einer signifikanten Morbidität und Mortalität in der gesamten Bevölkerung in sich. Zusätzlich zu den menschlichen Kosten würde sich dieses Vorgehen insgesamt negativ auf die Verfügbarkeit von Arbeitskräften auswirken und die Fähigkeit zur Bereitstellung einer regulären Akut- und Routineversorgung durch das Gesundheitssystem beeinträchtigen.
John Snow Memorandum
Darüber hinaus gebe es keine Hinweise auf eine dauerhafte schützende Immunität gegen SARS-CoV-2 nach einer natürlichen Infektion. Die endemische Übertragung von SARS-CoV-2, die die Folge einer schwindenden natürlichen Immunität wäre, würde für gefährdete Bevölkerungsgruppen auf unbestimmte Zeit ein Risiko darstellen. Eine solche Strategie würde die Covid-19-Pandemie nicht beenden, sondern zu wiederkehrenden Epidemien führen, wie dies bei zahlreichen Infektionskrankheiten vor dem Aufkommen der Impfung der Fall gewesen sei.
Sie würde auch eine unannehmbare Belastung für die Wirtschaft und die Beschäftigten im Gesundheitswesen darstellen, von denen viele bisher an Covid-19 gestorben seien oder ein Trauma erlitten hätten, weil sie Katastrophenmedizin hätten praktizieren müssen. Darüber hinaus sei immer noch unklar, welche Bevölkerungsgruppen mit Langzeitfolgen von Covid-19 erkranken.
Zu definieren, wer gefährdet sei, schwer und dauerhaft an Covid-19 zu erkranken oder zu sterben, sei komplex. Aber selbst wenn nur diejenigen mit einem schweren Krankheitsverlauf betrachtet würden, mache der Anteil der schutzbedürftigen Menschen in einigen Regionen bis zu 30 % der Bevölkerung aus.
"Eine längere Isolierung großer Teile der Bevölkerung ist praktisch unmöglich und höchst unethisch. Empirische Belege aus vielen Ländern zeigen, dass es nicht möglich ist, unkontrollierte Ausbrüche auf bestimmte Teile der Gesellschaft zu begrenzen", heißt es im "John Snow Memorandum". Und weiter:
Wieder einmal sehen wir uns in weiten Teilen Europas, der USA und vielen anderen Ländern der Welt mit einem raschen Anstieg der Covid-19-Fälle konfrontiert. Es ist entscheidend, entschlossen und sofort zu handeln. Wirksame Maßnahmen, die die Übertragung unterdrücken und kontrollieren, müssen umfassend umgesetzt werden. Sie müssen durch finanzielle und soziale Programme ergänzt werden, die das gesellschaftliche Engagement fördern und die sozialen Ungleichheiten angehen, die durch die Pandemie verstärkt wurden.
John Snow Memorandum
Kurzfristig würden wahrscheinlich weitere Einschränkungen erforderlich sein, um die Übertragung zu verringern und um ineffektive Reaktionssysteme zur Kontrolle der Pandemie zu verbessern, damit zukünftige Lockdowns verhindert werden.
Der Zweck dieser Einschränkungen sei eine effektive Begrenzung der Zahl der SARS-CoV-2-Infektionen auf einem niedrigen Niveau, das eine schnelle Erkennung lokalisierter Ausbrüche und eine schnelle Reaktion durch effiziente und umfassende Systeme zur Erkennung, Testung, Kontakt-Nachverfolgung und Isolierung möglich macht, sodass das Leben ohne die Notwendigkeit umfassender Einschränkungen wieder nahezu normal verlaufen könne.
Japan, Vietnam und Neuseeland hätten - um nur einige Länder zu nennen - gezeigt, dass effektive Reaktionen im Bereich der öffentlichen Gesundheit die Infektionen unter Kontrolle halten können, so dass das Leben wieder nahezu normal verlaufen könne. Das Memorandum schließt mit folgender Einschätzung:
Die Beweise sind sehr klar: Die Eindämmung der Verbreitung von Covid-19 ist der beste Weg, um unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften zu schützen, bis sichere und wirksame Impfstoffe und Therapeutika in den kommenden Monaten zur Verfügung stehen. Wir können uns keine Ablenkungen leisten, die eine effektive Reaktion untergraben; es ist wichtig, dass wir auf der Grundlage der vorliegenden Evidenz handeln.
John Snow Memorandum
Einige abschließende Anmerkungen
- Dem "John Snow Memorandum" liegt der Konsens einer großen Zahl von namhaften Wissenschaftlern zugrunde. Es sei klargestellt, dass ein wissenschaftlicher Konsens eine weitgehende Übereinstimmung in Fachkreisen ist, was den Stand der Wissenschaft zu einer bestimmten Frage angeht. Ein hergestellter wissenschaftlicher Konsens trägt innerhalb der Fachkreise jedoch nicht zur Wahrheitsfindung bei, der Stand der Wissenschaft muss trotz Konsens nicht wahr sein. So war zum Beispiel um 1850 die Miasmen-Theorie wissenschaftlicher Konsens, was die Verursachung der Cholera anging. Der Konsens ist aber wichtig als eine Grundlage für die Entscheidungsfindung in der Öffentlichkeit und der Politik.
- Welche Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie geeignet sein können und welche nicht, ergibt sich neben den bisherigen Erfahrungen der Medizin und der Gesundheitspolitik im Umgang mit Infektionskrankheiten aus der aktuellen wissenschaftlichen Forschung und auch aus Plausibilitätsüberlegungen.
- Ein wichtiger Aspekt dabei ist, dass es sich bei Covid-19 zwar nicht um ein Killervirus handelt, aber um einen Krankheitsverursacher, der für ältere und sehr alte Menschen mit oder ohne Co-Morbiditäten im Falle einer Infektion gefährlich bis sehr gefährlich sein kann.
- Covid-19 ist um ein Vielfaches gefährlicher ist als die saisonale Grippe, wie es auch im "John Snow Memorandum" herausgestellt wird und wie ich es auch in mehreren Veröffentlichungen in Telepolis dargelegt habe, z.B. "Viel gefährlicher als die saisonale Grippe und am tödlichsten für ältere Männer" und "Neue Daten zur Gefährlichkeit von Covid-19"
- Weiterhin ist die Anzahl der Mitbürger mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf im Falle einer Infektion bedeutsam. Im Memorandum wird davon gesprochen, dass in einzelnen Regionen bis zu 30 % der Bevölkerung zu dieser Risikogruppe gehören können.
- In Deutschland sieht das so aus, dass etwa 30 % der Frauen und 25 % der Männer 60 Jahre alt und älter sind. Während die auf die Gesamtbevölkerung bezogene Infizierten-Sterblichkeitsrate (IFR) von Covid-19 zwischen 0,5 % und 1 % liegen dürfte, steigt sie bei den über 60-Jährigen steil an. Zum Beispiel liegt die altersbezogene IFR im Alter von 65 Jahren bei 1,3 %, im Alter von 75 Jahren auf 4,2 % und im Alter von 85 Jahren auf 14 %. Es sind also viele Millionen Menschen bei uns in Deutschland, die im Falle einer Infektion mit SARS-CoV-2 mit einem schweren Verlauf von Covid-19 rechnen müssen und an dieser Krankheit sterben können. Und das kann geschehen, ohne dass unsere Krankenhäuser überlastet sind. Letzteres würde dazu führen, dass die IFR noch weiter ansteigt.
- Damit das nicht geschieht, müssen wir alles dafür tun, damit die Zahl der Infizierten zurückgeht und auf einem niedrigen Niveau verbleibt, bis eine sichere und wirksame Impfung zur Verfügung steht.
Ken Kubota danke ich für Unterstützung bei der Interpretation seiner Diagramme.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin- Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Er ist Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Nikotin- und Tabakforschung e.V. (DGNTF) und arbeitet in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. Email: klaus-dieter.kolenda@gmx.de