Differenziert hassen

Meisen haben ein weitaus komplexeres Vokabular als erwartet

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Schwarzkopfmeisen verfügen über ein erstaunlich komplexes Repertoire an Warnrufen, mit dem sie sich gegenseitig vor Fressfeinden warnen. Dies geht aus einer Studie der Universität Montana hervor, die in Science veröffentlicht wurde.

Meisen leben gefährlich. Nicht, weil sie meist kopfüber nach Raupen und Blattläusen jagen, sondern weil sie selbst begehrte Leckerbissen sind. Mal fliegt der Feind hoch am Himmel, mal lauert er im Blätterdach, mal kommt er den Stamm hinaufgeklettert, mal verbirgt er sich im Unterholz. Um sofort im Bilde zu sein, um welche Art von Gefahr es sich handelt, haben amerikanische Schwarzkopfmeisen (Poecile atricapilla) ein differenziertes Vokabular rund um die Silbenfolge Chickadee entwickelt, der sie ihren englischen Namen verdanken. Dabei gilt als Faustregel: je gefährlicher der Feind, desto häufiger wird die Endsilbe dee wiederholt. Wobei kleine Jäger für die akrobatischen Meisen weitaus gefährlicher sind als große. Lauert also ein kleiner, wendiger Gnomen-Sperlingskauz (Glaucidium gnoma) im Nachbarbaum, ertönt ein Chick-a-dee-dee-dee-dee, während ein behäbiger großer Bartkauz lediglich ein Chick-a-dee-dee provoziert.

Eine Schwarzkopfmeise aus dem Versuch (Bild: Science)

Vogelkundler und Katzenbesitzer wissen schon lange, dass Meisen und andere Singvögel mindestens zwei Arten von Warnrufen verwenden: Luftalarm und Bodenalarm. Der Luftalarm der Schwarzkopfmeisen, ein hohes, durchdringendes seet, warnt vor fliegenden Feinden. Diese hohen Laute werden übrigens nicht nur von Meisen, sondern von nahezu allen Singvögeln ausgestoßen – und allseits verstanden. Sobald der hohe Warnruf ertönt, verstummen alle und verhalten sich möglichst unauffällig. Ganz anders reagieren Schwarzkopfmeisen auf energische Chickadee-Rufe: Das Gezeter lockt Artgenossen an. Schließlich gilt es, den Feind gemeinsam zu vertreiben. Also rotten sich mehrere Meisen, zum Teil unterstützt von anderen Singvögeln, zusammen und hassen auf den gemeinsamen Feind: sie umflattern ihn laut zeternd, stoßen aus kurzer Distanz auf ihn herab und verderben ihm nicht nur das Mittagessen, sondern auch die Laune. Erst, wenn der Feind erfolgreich vertrieben ist, legt sich die Unruhe.

Die Schwarzkopfmeise wurde von den Forschern ausgewählt, weil es sich um einen typischen Singvogel handelt, der zahlreiche Fressfeinde hat. Außerhalb der Brutzeit bilden die Meisen kleine Verbände von sechs bis acht Tieren. Man geht gemeinsam auf Insektenjagd und warnt sich gegenseitig vor Gefahr. Natürlich unterstützt man sich auch während der Brutzeit, allerdings hält man mehr Distanz.

Für ihre Versuchsreihe fingen die Forscher drei Meisenverbände à sechs Individuen ein und sperrten sie für vier bis sechs Wochen in Freiluftvolieren (die Tiere wurden nach Abschluss der Beobachtungen freigelassen). Nach einer kurzen Eingewöhnungszeit wurden die Meisen mit leibhaftigen Fressfeinden konfrontiert. Diese Konfrontation muss man sich wie eine Theateraufführung vorstellen: die Greife, Eulen, Katzen und Frettchen wurden hinter einem Vorhang von den Meisen unbemerkt in Position gebracht. Dann wurde der Vorhang weggezogen und die Show konnte beginnen.

Schwarzkopfmeise mit Fußmarkierung (Bild: Science)

Die gefiederten Hassobjekte stammten fast ausschließlich aus einer nahegelegenen Pflegestation für verletzte Wildtiere und wurden (ebenso wie die anderen Fressfeinde) den Meisen – mit zeitlichem Abstand – jeweils einzeln präsentiert, wobei den Vögeln in der Ruheposition keine Verletzungen anzusehen waren. Die Forscher wollten messen, mit welcher Intensität die Meisen auf ruhig da sitzende Fressfeinde reagieren (zahlreiche Greifvögel und Eulen bevorzugen die Ansitzjagd, insofern ist auch ein ruhig da sitzender Vogel immer eine potentielle Gefahr). Als Kontrolltier wurde die für Meisen absolut ungefährliche Virginiawachtel verwendet, die nur vereinzelt mit Chick-a-dee-Rufen bedacht wurde.

Um die Ergebnisse in einer zweiten Runde zu überprüfen, wurden die Warnrufe aufgezeichnet und später mittels Lautsprecher in die Volieren eingespielt. Wie erwartet, provozierten die aufgezeichneten Chick-a-dee-Rufe unterschiedlich heftige Mobbing-Aktionen. Daraus schlossen die Forscher, dass die Meisen sehr genau zu differenzieren wissen zwischen ihren Feinden.