Digitaler Euro: Der Weg zur bargeldfreien Gesellschaft bleibt offen
EU-Kommission treibt das EZB-Zentralbankgeld voran. Bargeldabschaffung wird ausgeschlossen. Zweifel und Ängste sind nicht beruhigt. Es geht um Fragen zu digitaler Identität und Überwachung.
Sie können es einfach nicht lassen. Es ist Sommer. Sie stehen schon wieder mit der Grillzange in der Linken und einer Zigarette in der Rechten über Merguez und Käsewürstchen, Ihr eisgekühltes Bier wärmt sich in der Sonne auf.
Dabei wissen Sie doch, dass Ihre hedonistischen Launen Sie noch teuer zu stehen kommen. Dass Ihr Fleischkonsum einen beträchtlichen CO2-Fußabdruck hinterlässt und dazu auch noch Unmengen an kostbarem Wasser verbraucht. Sie wissen, dass Sie Ihre Cholesterinwerte im Auge behalten müssen und eine Herzkreislauferkrankung riskieren, wenn Sie jeden Tag diesem Lebensstil frönen.
Gut, dass Sie sich nicht mehr selbst zügeln müssen.
Seit Sie dazu angehalten sind, Ihr Geld nur noch für Dinge auszugeben, die dem Gemeinwohl dienen, verspüren Sie eine enorme Entlastung.
Endlich können Sie sich produktiveren Beschäftigungen zuwenden, statt sich mit ziellosem Müßiggang aufzuhalten. Na gut, die eine Zigarette haben Sie sich aus nostalgischen Gründen ausnahmsweise gegönnt, aber im Gegensatz zu Ihrem dicken Nachbarn, der sich gegen die Public-Health-Präventionsmaßnahmen entschieden hat, können Sie sich das ja gleich dreimal erlauben.
Offensichtlich unbelehrbar, der Mann – er sieht doch an Ihrem leuchtenden Beispiel, dass sich soziales Kapital direkt in materiellen Wohlstand übersetzt.
"Krypto-Faschismus"
Okay, nur eine Geschichte, werden Sie sagen. Eine blöde, vielleicht sogar. Weil Sie das Narrativ von einem Sozialkredit-System bedient, dass auch von der AfD kolportiert wird. Oder, falls Sie Themen immer noch unabhängig davon diskutieren, ob diese von politischen Akteuren gekapert werden: Nur Geraune, so weit sind wir noch lange nicht, bloß weil die EU jetzt einen Gesetzesentwurf zum digitalen Euro vorgelegt hat.
Bargeld bleibt, es wird nur digital. So hat das ja auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) gesagt.
Und doch mehren sich die Stimmen von Netzaktivisten und Bürgerrechtlern, denen vor allem die Kombination "digitaler Euro – digitale Identität" starkes Unbehagen bereitet.
Sie schlagen in die dieselbe Kerbe wie der wohl größte (nicht inhaftierte) Netzaktivist der Geschichte: Edward Snowden – und warnen vor einem nie dagewesenen Einfallstor für staatliche Massenüberwachung. Snowden spricht sogar von "Krypto-Faschismus".
Telepolis hat diese Bedenken gegenüber einer digitalen Zentralbankwährung (Central Bank Digital Currencies, CBDCs) Ende 2022 im Artikel "Mit dem digitalen Geld in die Unfreiheit?" bereits ausführlich zusammengetragen. Aber sind sie auch im Fall des digitalen Euro gerechtfertigt, der nur eine digitale Form des Bargelds sein soll?
Zugeständnis an die Kritiker: Bargeld bleibt
Die EU-Kommission hat am vergangenen Mittwoch zwei Verordnungsentwürfe vorgelegt, die den Rechtsrahmen des digitalen Euro abstecken sollen. Im einen Fall geht es um den digitalen Euro selbst, im anderen um die Modalitäten der Zahlungsdienstleistung, die voraussichtlich per virtueller Brieftasche (Wallet) abgewickelt werden wird.
Flankiert werden die beiden Entwürfe von einem dritten, der den Stellenwert des physischen Bargelds als gleichwertiges gesetzliches Zahlungsmittel festschreiben soll. Damit begegnet die Kommission jenen Bedenken von Kritikern, dass der digitale Euro die Abschaffung des Bargelds nach sich zieht.
Über die eigentliche Einführung des digitalen Euro entscheidet der Rat der Europäischen Zentralbank im Oktober. Befüllt werden die virtuellen Geldbörsen laut der EZB allerdings frühestens 2026, manche Experten rechnen aufgrund der technischen Herausforderungen sogar eher mit dem Jahr 2028.
Warum braucht es den digitalen Euro überhaupt? Europaweit haben Medien den Vorwurf aufgegriffen, es handle sich dabei nur um "eine Lösung für ein Problem, dass es nicht gibt".
Denkwürdige Hintergründe zur digitalen Identität
Das zentrale Argument, das Kommission und EZB vorbringen, ist der Schutz der Währungshoheit der EU, die nicht nur durch private Zahlungsdienstleister wie Paypal, Apple Pay und Co. sowie den wachsenden Markt für Kryptowährungen gefährdet sei, sondern auch durch die mittlerweile rund 130 Zentralbanken, die laut dem CBDC-Tracker des US-amerikanischen Thinktanks Atlantic Council an einer Einführung von digitalem Zentralbankgeld arbeiten.
Wie ebenfalls von Telepolis bereits dargelegt, argumentieren die involvierten Notenbanken allerdings nicht alleine mit der Währungshoheit, sondern folgen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) darin, die "finanzielle Inklusion" anzuführen.
Diese zu erreichen, nimmt auch das Public-Private-Partnership-Bündnis "Better Than Cash Alliance" (BTCA) für sich in Anspruch, das eng mit den Vereinten Nationen zusammenarbeitet und sich den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 verschrieben hat:
Die Verlagerung der Zahlung von Gehältern, Sozialleistungen und Hilfsgeldern, Zahlungen an Lieferanten, Überweisungen usw. von Bargeld auf elektronische Medien hat das Potenzial, das Leben von Menschen mit niedrigem Einkommen, insbesondere von Frauen, zu verbessern und gleichzeitig den Regierungen, dem Privatsektor und der Entwicklungsgemeinschaft ein transparenteres, zeit- und kosteneffizienteres und oft auch sichereres Mittel für die Ausführung und den Empfang von Zahlungen an die Hand zu geben.
Better Than Cash Alliance
Im Mai haben die UN ihr jüngstes Briefing zur globalen Kooperations-Strategie ("Our common agenda") veröffentlicht, auf die sich sowohl die US-finanzierte BTCA als auch US-Systemrivale China berufen.
In dem Dokument wird eine "globale digitale Übereinkunft" gefordert, und zwar unter anderem auch mit Blick auf das Konzept der digitalen Identität, welches eng mit der virtuellen Geldbörse verknüpft ist.
Dort wird bereits der neuerliche Ansatz einer privatwirtschaftlich gestützten Gesundheitsvorsorge ("Impact Investment") umrissen, den Telepolis zuletzt am Beispiel der Health Impact Investment Platform der WHO erläuterte:
Digitale IDs, die mit Bank- oder Mobilfunkkonten verknüpft sind, können die Bereitstellung von sozialen Vorsorgeleistungen [social protection coverage] verbessern und dazu dienen, berechtigte Begünstigte besser zu erreichen. Digitale Technologien können dazu beitragen, Lücken, Fehler und Kosten bei der Gestaltung von Vorsorgeprogrammen zu verringern.
UN, Our Common Agenda Policy Brief 5
Ebenfalls im Mai stellten die UN unter dem Namen "Inclusive Green Finance" ein ähnliches Programm für den Bereich Klimaschutz und "grüne" Industrie vor. Auch diesem Thema hat sich Telepolis bereits ausführlicher gewidmet.
Bei der Beurteilung des Projekts "digitaler Euro" können die genannten Informationen durchaus hilfreich sein.
Versprechen, die drohen, gebrochen zu werden
Es gibt drei Grundsätze, auf die sich EU-Kommission und EZB beim digitalen Euro berufen und in denen sich gleichzeitig die Bedenken gegenüber dem neuen Zahlungsmittel manifestieren:
- Dass mit dem digitalen Euro nicht das Bargeld abgeschafft wird
- Dass der digitale Euro analog zum physischen Bargeld Anonymität garantiert
- Dass der digitale Euro nicht "programmierbar" ist, also der Währung keine Verfallsdaten oder (soziale, ökologische) Bedingungen eingeschrieben werden können.
Jedes dieser drei Versprechen wird von Kritikern in Zweifel gezogen. Das hat ganz einleuchtende Gründe.
So hat der Wirtschaftsjournalist Norbert Häring vor Kurzem erläutert, warum er den flankierenden Bargeld-Gesetzentwurf für ein Lippenbekenntnis hält: Während Zahlungsempfängern im Bargeld-Entwurf das Recht auf Verweigerung eingeräumt werde, bestehe eine Pflicht zur Annahme digitaler Euros.
Das stellt eine klare Wettbewerbsverzerrung zuungunsten des Bargelds dar. Allerdings ist das auch nicht sonderlich verwunderlich.
Denn neben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich engagiert sich auch der Internationale Währungsfonds (IWF) für den Übergang zu einer – zumindest weitgehend – bargeldfreien Gesellschaft und lässt sich dabei zu Verlautbarungen hinreißen, die Bargeld als Einfallstor für Kriminalität und Korruption darstellen – obwohl es dafür zahlreiche legale Alternativen gibt, die offenbar nicht im Fokus der Transformation stehen. Entsprechende Argumente wurden zuletzt auch beim Wiederaufbau der Ukraine bemüht.
Die vorgebliche Korruptionsbekämpfung ist auch der Grund, weshalb eine vollständige Anonymität des digitalen Euros voraussichtlich nicht gewährleistet werden kann, wie das Portal Netzpolitik berichtet. Wer Geldwäsche und Terrorismus entgegensteuern will, darf das Risiko anonymer Zahlungsflüsse nicht in Kauf nehmen, lautet die Argumentation.
Das dritte Standbein eines Bargeld-analogen digitalen Euros droht mit den Ambitionen einzuknicken, die unter anderen hohe Vertreter des IWF gegenüber einer Programmierung hegen, etwa über die kryptografie-basierten "Smart Contracts. Im eingangs genannten Zitat des Finanzministers war im Übrigen schon die Rede vom "programmierbaren Geld". Aber das war auch noch 2022. Und wer weiß, vielleicht wurde Lindner auch nur falsch gebrieft?
Obwohl das Bundesfinanzministerium in einer Stellungnahme vom April 2023 programmierbares Geld als Möglichkeit kategorisch ausschließt, gibt es anderslautende Medienberichte, etwa von t3n, die das Thema als "strittig" bezeichnen.
Die Reaktionen: Bargeld-Bekenntnisse und eindringliche Warnungen
Während also die Kopfgeburt des digitalen Euro noch nicht ganz zur Welt gekommen ist, wird ein Bruch mit den hehren Zielen und Versprechungen bereits vielerorts antizipiert.
Dazu gehört ganz sicher auch die Entscheidung der slowakischen Regierung, Bargeld als gesetzliches Zahlungsmittel in die Verfassung aufzunehmen.
Allerdings nutzt auch das nicht viel, wenn die Alternativen schlichtweg attraktiver werden. Die Verantwortlichen selbst konstatieren ja, dass der Übergang zur bargeldlosen Gesellschaft bisher nur an der weiterhin bestehenden Nachfrage scheitert.
Weit davon entfernt, ein Thema konservativer oder reaktionärer Kräfte zu sein, haben auch zahlreiche digitale Bürgerrechtler ihren Bedenken gegenüber dem digitalen Euro Luft gemacht.
So berichtet Netzpolitik darüber, dass Experten des Europäischen Datenschutzbeauftragten bereits im Vorfeld der Gesetzentwurfs vor einer kontenbasierten Identifizierung von Nutzern warnten, weil diese dazu führen könne, "dass alle Transaktionen des Endnutzers identifiziert und möglicherweise nachverfolgt werden".
Am 21. Juni veröffentlichte das österreichische Datenschutzbündnis epicenter.works zusammen mit 24 anderen zivilgesellschaftlichen NGOs einen offenen Brief, in dem mehr Dialog und Transparenz bei der e-IDAS-Verordnung zur digitalen Identität eingefordert werden.
Bemängelt wird darin unter anderem, dass die Infrastruktur gegen böswillige Akteure nicht ausreichend gewappnet ist und Datenschutz-freundlichen Lösungen nicht genügend Priorität eingeräumt wird.
Eine Abschlussbemerkung: Gesetzbücher sind geduldig
Was in der Diskussion um die Ausgestaltung des digitalen Euros zu kurz kommt, ist der sogenannte function-creep-Effekt, der sich sinngemäß in etwa mit "Funktionsentartung" übersetzen lässt.
Dabei werden Strukturen, die einmal nur unter einem bestimmten Zweck geschaffen wurden, nach und nach für andere Zwecke genutzt. Ein Beispiel ist die epidemiologisch fragwürdige Kontaktverfolgung während der Corona-Krise, die vereinzelt zur Strafverfolgung eingesetzt wurde.
Ein weiteres Beispiel ist die Datenschutz-Grundverordnung. Deren Grundprinzip der Datenminimierung sei angesichts der potenziellen Indienstnahme von Daten für das Gemeinwohl "nicht mehr zu halten" verkündete im März der Hamburger Datenschutzbeauftragte Thomas Fuchs.
Diesen kategorischen Imperativ des Daten-Teilens, der als kollektivistischer Sachzwang inszeniert wird, verkündeten zuletzt auch Verkehrsminister Volker Wissing (FDP, Daten teilen aus "Verantwortung") und Ethikratsvorsitzende Alena Buyx ("Datensolidarität", Telepolis berichtete) mit Blick auf die ebenfalls scharf kritisierte elektronische Patientenakte.
Was ist morgen "nicht mehr zu halten"?