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Diktatur oder Demokratie in Krisenzeiten?

Eine Diskussion mit dem Schriftsteller Thomas Brussig

"Mehr Diktatur wagen" hatte der Schriftsteller Thomas Brussig ("Sonnenallee") Anfang des Jahres als Parole zur Corona-Bekämpfung ausgegeben. Bei den "Römerberg Gesprächen" in Frankfurt hat er seine Überlegungen kürzlich vertieft.

Darüber hat Timo Rieg mit ihm im Podcast "?Macht:Los! [1]" diskutiert. Die nachfolgende Fassung ist die gekürzte und von beiden im weiteren Austausch leicht bearbeitete Version dieses Streitgesprächs. Der dafür grundlegende Essay von Brussig ("Mehr Diktatur wagen") ist am Ende zum Nachlesen dokumentiert.

Timo Rieg: Herr Brussig, wie sind Sie bisher durch die Pandemie gekommen?

Thomas Brussig: Gemessen an den Befürchtungen gut. Denn ich bin dem Virus aus dem Weg gegangen bzw. das Virus mir. Ich bin jetzt das zweite Mal geimpft, alles, was ich am Anfang befürchtet habe, ist nicht eingetreten. Natürlich hat es sehr genervt und geschlaucht, dass es so lange gedauert hat.

Timo Rieg: Mental sind Sie aber gut durchgekommen? Einige Künstler sagen ja, es hätte sich bei ihnen gar nicht so viel geändert, sie arbeiten eh alleine im Atelier, andere Menschen brauchen sie nicht im direkten Kontakt...

"Extreme Verzweiflung über den Corona-Journalismus"

Thomas Brussig: Beim eigentlichen Schreiben ist der Unterschied nicht so groß. Aber die Kontaktbeschränkungen, die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die betreffen ja alle gleichermaßen. Und nun hatte ich im Frühjahr letzten Jahres ein neues Buch am Start, und alle Termine in dem Zusammenhang sind mir weggebrochen.

Aber das ging vielen so, das war eben der Preis der Pandemie. Ich bin sehr froh, dass sich das jetzt dem Ende nähert. Heute war der erste Tag, an dem mein Sohn wieder von 8 bis 16 Uhr zur Schule gegangen ist. Sonst hatte er immer nur verkürzten Unterricht, zweieinhalb Stunden.

Timo Rieg: Meine Arbeit hatte sich auch nur in Teilen verändert, aber ich hatte noch nie im Leben so lange anhaltend schlechte Laune wie nun seit März 2020. Und das liegt nicht an der Politik, die ist halt, wie sie immer ist, sondern es liegt an meiner extremen Verzweiflung über den Corona-Journalismus.

Und die Kritik an den journalistischen Unzulänglichkeiten und brachialen Fehlern interessieren die Branche einfach überhaupt nicht, was den Frust nicht gerade mindert. (Siehe TP-Serie "Medienkritik zum Corona-Journalismus [2]")

Thomas Brussig: Darüber kann man natürlich auch lange diskutieren. Mir ist es auch irgendwann schwergefallen, noch Politiker zu hören, weil ich dachte: Die sagen jetzt halt das, was sie immer sagen oder sagen müssen, aber es hilft auch nicht. Eine Justizministerin will ich nicht zu Corona hören. Das hat schlechte Laune gemacht, stimmt schon.

"Es ging um eine Erfahrung und die war neu"

Timo Rieg: Das könnte man aber auch zu den Fachministern sagen. Ohne immer wieder darauf zu kommen, was jemand von seiner Ausbildung her ist: Ist es nicht verrückt, wozu Spahn alles gefragt wurde, als ob er irgendeine Ahnung von Mikrobiologie, Epidemiologie oder ähnlichem hätte? Oder wie die halbe Nation am 18. März 2020 an den Lippen der Bundeskanzlerin hing. Was kann denn Merkel Kompetentes zu Corona sagen?

Natürlich, was jetzt politisch läuft, aber dazu braucht es die Fernsehansprache nicht, das erfahren wir schon ständig aus den Nachrichten. Wie die Pandemie gerade auf der Welt aussieht und was es an medizinischen Erkenntnissen gibt, weiß Frau Merkel genauso laienhaft wie jeder andere Mensch bzw. jeder, der ähnliche Quellen nutzt. Welche Weisheit soll von ihr kommen?

Zoom-Screenshot Thomas Brussig (links) und Timo Rieg

Thomas Brussig: So grob würde ich das nicht sehen. Es ging um eine Erfahrung, die wir alle gleichermaßen gemacht haben, und die völlig neu war. Dass sich da mal die Regierungschefin meldet, etwas zur aktuellen Situation in Worte fasst - es ist ernst, es wird uns eine ganze Weile begleiten, und schon mal Danke an diejenigen, die das Gesundheitswesen und die öffentliche Versorgung aufrecht erhalten - das war schon richtig.

Timo Rieg: Aber dahinter steckt doch immer auch die Erwartung, die Politik wird das Problem gelöst bekommen. Und wie in jeder Bande soll bei brenzligen Situationen der Anführer entscheiden.

Thomas Brussig: So als große Problemlöserin habe ich die Kanzlerin damals nicht erlebt, mehr mit der Aussage: wir stehen jetzt vor großen Herausforderungen. Natürlich sagt sie den Satz "wir schaffen das" kein zweites Mal, aber ich habe ihn in dieser Ansprache trotzdem herausgehört.

"Sie haben für solche Ausnahmesituationen eine Art "Corona-Diktatur" gefordert"

Timo Rieg: Mit dem politischen Pandemie-Management, das dann kam, sind Sie ja nicht zufrieden, deshalb diskutieren wir heute miteinander, Sie haben für solche Ausnahmesituationen eine Art "Corona-Diktatur" gefordert, damit mal zügig getan werden kann, was getan werden muss. Bevor wir darauf genauer eingehen: Mit der Demokratie bei uns sind Sie aber abgesehen von diesem Spezialfall Corona zufrieden, so habe ich Sie jedenfalls bei den Römerberg Gesprächen verstanden?

Thomas Brussig: Natürlich finde ich Demokratie etwas ganz Wichtiges, und natürlich läuft nicht alles optimal. Was ich im Weiteren dazu sagen werde, wird sicherlich meiner ostdeutschen Herkunft angelastet, als Produkt meiner mangelnden Demokratiesozialisation und so weiter ausgelegt werden.

Timo Rieg: Von mir bestimmt nicht.

Thomas Brussig: Gut. Meine Sozialisation zum Demokraten fand 1989/90 statt. Ich kam aus unfreien und undemokratischen Verhältnissen und habe mich sehr nach Demokratie gesehnt. In den Monaten, in denen offen war, wie es weitergeht, habe ich darüber nachgedacht, wie eine zeitgenössische, moderne Demokratie aussehen müsste.

Und da war mir schon klar, dass es ein System westdeutschen Zuschnitts nicht ist: Alle vier, fünf Jahre mal ein Kreuzchen machen und das soll's gewesen sein? Und was sagen diese Wahlen schon aus, wenn Helmut Kohl mit einer Brille Wahlen gewinnt.

Timo Rieg: Die Anekdote haben Sie in Ihrem "Bekennerschreiben [3]" erzählt...

Thomas Brussig: Helmut Kohl trug jahrelang eine Brille, weil er kurzsichtig war. In einem gewissen Alter setzte bei ihm aber die nicht seltene Altersweitsichtigkeit ein, die Brille wurde überflüssig. Aber nachdem er ein paar Mal ohne Brille aufgetreten war, haben ihm seine Berater gesagt, mit Brille wirke er intellektueller, sympathischer, und das ließ sich in Zustimmungsprozenten messen.

Also trug er weiter eine Brille, dann halt mit Fensterglas. Wenn aber von so etwas Wahlentscheidungen abhängig sind, kann man doch nicht mehr für Wahlen sein. So war ich dann immer auf der Suche, und vor vier Jahren hatte ich dann das Erweckungserlebnis.

Ein glühender Demokrat, der Wahlen verachtet

Timo Rieg: David Van Reyboucks Buch "Gegen Wahlen [4]". Das hat erstaunlich viele Menschen begeistert, obwohl die grundlegende Idee darin uralt ist und selbst in Deutschland seit fünfzig Jahren praktiziert wird. Aber soweit hat kaum ein euphorisierter Rezensent recherchiert.

Thomas Brussig: Ein glühender Demokrat, der Wahlen verachtet, das fand ich schon sehr interessant. Und so ist mein Verhältnis zu unserer Demokratie eben: Ich finde sie gut, aber ich spüre, dass es was Besseres geben könnte. Und das Bessere ist der Feind des Guten.

Timo Rieg: Was soll denn besser werden? Soll irgendetwas grundlegend anders werden oder wollen Sie nur ein bisschen am Verfahren schrauben?

Thomas Brussig: Wir erleben eine sinkende Wahlbeteiligung, wir erleben auch eine demagogische Verwundbarkeit des Systems. Das Schlimmste an Trump ist ja schlicht, dass er gewählt wurde. Wie kannst du nur für Demokratie sein, wenn du die Verwundbarkeit in so krasser Form erlebst? Nun ist es ja nochmal gutgegangen mit Trump, aber auch seine Abwahl war keine Sternstunde der Demokratie, anderthalb Tage lang habe ich ihn nochmal eine zweite Amtszeit im Weißen Haus gesehen.

Timo Rieg: Wenn Trump aber doch gewählt worden wäre, sagen wir mit klarer Mehrheit, dann hätte sich die Demokratie diskreditiert, meinen Sie?

Thomas Brussig: Wir erleben immer wieder, dass die Demokratie zu suboptimalen Ergebnissen führt. Der Brexit ist auch so eine Geschichte. Dass es zu dieser Entscheidung kam, war schon merkwürdig, aber wie das dann durchgezogen wurde, da habe ich nur noch mit dem Kopf geschüttelt.

Timo Rieg: Die Diskussion um den Brexit und vor allem die journalistische Berichterstattung dazu in Deutschland ist für mich ein Paradebeispiel elitärer Demokratieverachtung. Es ging nie darum, was die Menschen im Vereinigten Königreich entschieden haben, sondern es ging ausschließlich darum, dass uns - bzw. genauer den Ton-Angebenden bei uns - diese Entscheidung nicht gepasst hat, dass wir aus unserer Warte den Brexit doof finden, es also letztlich besser gewesen wäre, wenn die Schlauen aus Deutschland entschieden hätten statt der depperten oder wenigstens undankbaren Briten.

Thomas Brussig: Ich fand die Entscheidung der Briten nicht richtig, und die Hälfte der Briten fand sie auch nicht richtig. Aber nach der Abstimmung hat es in der ganzen Politik niemanden mehr gegeben der gesagt hätte, diese Entscheidung ist falsch. Stattdessen hat Londons gesamte politische Klasse gesagt, wir machen jetzt den Brexit, weil es Volkes Wille ist. Dabei war es nur der Wille des halben Volkes.

Timo Rieg: Ihre Kritik basiert darauf, dass Sie erkennen können, was richtig und was falsch ist. Sie können erkennen, wer der richtige Präsident für die USA ist, welche Entscheidung zur EU in UK richtig wäre und auch, welches Management in der Coronakrise angezeigt war.

Thomas Brussig: Dass Trump ein peinlicher Präsident war, sehe ich nicht als Einziger so. Aber er ist ja auch ein Zerstörer, der den Staat zum Zwecke seines autoritären Stils umbaut.

"Wer legt fest, was die richtige Entscheidung ist?"

Timo Rieg: Etwas nicht gut zu finden ist aber etwas anderes als zu wissen, was nun tatsächlich getan werden muss. Beim Brexit wissen Sie es: Es hätte ihn nicht geben dürfen.

Thomas Brussig: Beim Brexit sind auf demokratischem Wege nicht die richtigen Entscheidungen zustande gekommen. Und da überlege ich, wie vernünftige Entscheidungen zustande kommen können. Es geht nicht um Entscheidungen, die ich gut finde, sondern dass sie vernünftig sind. Sie müssen nicht mehrheitsfähig sein.

Timo Rieg: Was soll eine vernünftige Entscheidung sein, die nicht mehrheitsfähig sein muss? Ein Dekret des Philosophenkönigs?

Thomas Brussig: Bei der Pandemie ist es klar. Es wären Entscheidungen gewesen, um schneller mit dem Virus fertig zu werden, weniger Einschränkungen zu haben und weniger Opfer. In anderen Ländern ist es gelungen, diese richtigen Entscheidungen zu treffen.

Timo Rieg: Wer legt fest, was die richtige Entscheidung ist? Ob Sie nun wollen, dass möglichst schnell kein Virus mehr nachweisbar ist oder möglichst schnell keine Neuinfektionen mehr auftreten, schon ein solches Ziel muss ja irgendwer in seiner Weisheit festlegen. Der demokratische Prozess sollte genau andersherum laufen: der Souverän diskutiert - überwiegend via Medien und im persönlichen Kreis - und entscheidet, was er haben möchte, die Politik setzt es um.

Thomas Brussig: Wer ist der Souverän und wie sagt der, was er will?

Die Vorgaben

Timo Rieg: In unserem System bilden nur und schlicht die Wahlberechtigten den Souverän, das kann man diskutieren, aber irgendeine Festlegung wird es immer geben, ist aber hierfür unspannend. Und für die Konsultation schlagen wir doch wohl beide gemeinsam ausgeloste Bürgergruppen vor, derzeit laufen sie vor allem unter dem Namen "Bürgerrat [5]".

In der aleatorischen Demokratie [6] würden solche Bürgerräte das Parlament mit Berufspolitikern ersetzen, aber auch ohne diese Utopie: eine solide Beratung mit allem Wenn und Aber, mit allen verschiedenen wissenschaftlichen Blickrichtungen, mit allen Lobbygruppen, mit allen guten und absurden Ideen, wäre absolut notwendig gewesen.

Das hätte man binnen kürzester Zeit auf die Beine stellen können. Es wollte nur niemand. Stattdessen haben vor allem die Medien nach der starken Exekutive gerufen. Kosten und Nutzen, Wirkungen und Nebenwirkungen haben überhaupt nicht interessiert, es war geradezu ein Blindflug oder ein Schießen ins Dunkel, Aktionismus statt Plan.

Es wurden fortlaufend irgendwelche Details als richtig vorgegeben, von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten, das hieß am Anfang "flatten the curve" und bedeutete in seiner Vielfalt letztlich, dass beim RKI möglichst keine Zahlen auflaufen sollen.

Ob ein solches Ziel mit all seinen Maßnahmen zur Erreichung und all seinen Kollateralschäden aber überhaupt demokratisch gewollt war, stand nie zur Diskussion. Wie soll denn ein Virologe sinnvollerweise entscheiden, wie eine Gesellschaft sich zu verhalten und zu entwickeln hat? Der weiß doch nicht, was Sie wollen und was ich will. Der kann doch nicht festlegen, ob Sie in größtmöglicher Sicherheit alt werden möchten oder ob Sie jung, aber mit viel Party im Leben sterben möchten.

Der Virologe kann Ihnen hoffentlich sagen, wie sich das Coronavirus verbreitet, wie tödlich es ist und so weiter. Aber er kann doch nicht sagen, wie richtige Politik zu funktionieren hat, weil er die Ziele nicht zu definieren hat.

Thomas Brussig: Die Politik hat die Wissenschaftler zwar angehört, aber sie ist diesen Ratschlägen eben nicht gefolgt. Sondern die Politik hatte ihr eigenes Koordinatensystem an Motiven, und die vertragen sich nicht unbedingt mit der Pandemiebekämpfung: Wie populär sehe ich dabei aus, was kann man den Menschen noch zumuten, etc.?

Dadurch hat sich die Politik in eine Rolle gebracht, in der sie nicht mehr in der Lage oder nicht mehr willens war, die Pandemie zu bekämpfen. Aus der Wissenschaft kam zum Beispiel die Idee einer Corona-Warn-App, und dazu gab es Modellrechnungen, dass allein die breite Verwendung einer Warn-App, den R-Wert selbst dann unter 1 drückt, wenn alle übrigen Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen, Maskentragen usw. unterlassen werden.

Dennoch hat die Politik aber die App-Verwendung nicht verbindlich gemacht, vermutlich, weil sie Angst hatte, sich mit den Datenschützern anzulegen. Selbst Karl Lauterbach, der sich ja sonst für nichts zu schade war, hat sich da nicht getraut. Das sind für mich Hinweise, dass die Politik nicht in der Lage war, das Zweckmäßige, das Effektive anzugehen und durchzusetzen.

Timo Rieg: Aus Ihrer Sicht als Demokrat wäre es also das Richtige gewesen, die Regierung hätte alle Bürger verpflichtet, eine Corona-Warn-App auf ihren Smartphones zu installieren und zu nutzen?

Thomas Brussig: Man kann bestimmen, dass nur der in den Supermarkt, den Bus, ins Kino, Stadion, ins Fitnesscenter, ins Restaurant kommt, der sich mit Warn-App und grünem Status ausweist. Dann gäbe es formal keinen App-Zwang, aber eine Sicherheit für alle, in öffentlichen Räumen nur unter Nicht-Infizierten zu sein. Gut, das wäre eine App-Pflicht durch die Hintertür, aber was ist denn so eine Pflicht im Vergleich zu den ganzen Kontaktbeschränkungen und den Schließungen, die wir stattdessen hatten?

"Es gibt so viele Dinge, bei denen niemand gefragt wird"

Timo Rieg: Sind wir da nicht an einem Punkt, an dem es nicht die eine Wahrheit aus einer Modellrechnung gibt, aus irgendeinem Teil der Wissenschaft? Bei dem vielleicht doch der Souverän mal entscheiden dürfen sollte, was er möchte? Wir haben keinen bundesweiten Volksentscheid, aber wenn es ihn gäbe, wäre das für Sie keine Frage für einen solchen gewesen?

Liebe Bürgerinnen und Bürger, seid ihr dafür, dass wir eine Corona-Warn-App verpflichtend für alle Handynutzer machen? Vielleicht sogar mit der Notwendigkeit einer Zweidrittel Mehrheit wie bei einer Verfassungsänderung, weil mit einer solchen Regelung ja alles Bisherige auf den Kopf gestellt würde?

Thomas Brussig: Nein. Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nicht durch Mehrheitsentscheidungen abwählen. Darüber kann man keine Geschmacksurteile fällen und entscheiden, ob man das gerecht findet oder nicht. Es ist einfach so. Es gibt diese Rechnung, und niemand hat dem Modellierer einen Rechenfehler nachgewiesen.

Timo Rieg: Ich will gar nicht in die Details solcher Berechnungen und Modelle gehen, mich interessiert einfach, wieso genau an dieser Stelle eine Corona-Diktatur herrschen sollte, also die Entscheidungsgewalt eines bestimmten, sehr kleinen Teils der Wissenschaft. Ich kann auch sagen, aus Klimaschutzgründen bewegt sich niemand mehr über 15 km von zu Hause weg, wissenschaftliche Evidenz gäbe es dafür genug, weniger Verkehr bedeutet weniger Treibhausgasemission. Aus demselben Grund könnte die Wissenschaft das Fleischessen verbieten und vieles andere mehr.

Thomas Brussig: Zwischen der Corona-Diktatur und der Klima-Diktatur würde ich eine Grenze ziehen, weil eine Klima-Diktatur auf unabsehbare Zeit installiert werden müsste, das ist nicht okay. Die Corona-Diktatur hätte ja nur das Ziel gehabt, diesen Zustand, der uns allen auf die Nerven ging, möglichst schnell hinter uns zu lassen. Das wäre ein überschaubarer Zeitraum von zwei oder drei Monaten gewesen. Stattdessen haben wir jetzt seit November, seit über einem halben Jahr, einen Ausnahmezustand. Bei einem klugen und demokratischen Management wäre das längst passé.

Timo Rieg: In einer Demokratie soll das Volk da nichts zu entscheiden haben?

Thomas Brussig: Es gibt so viele Dinge, bei denen niemand gefragt wird. Wurde je über den Sicherheitscheck am Flughafen abgestimmt? Es gab den 11. September, und dann hast du plötzlich auch deine Schuhe ausziehen müssen, wenn wem danach war - und das ist auf unabsehbare Zeit. Es ist doch nichts Neues, was ich hier fordere. Ich habe etwas vermisst, was in anderen Bereichen aus guten Gründen schon gang und gäbe ist.

Timo Rieg: Nach dem 11. September sind tatsächlich sehr viele Dinge über Artikelgesetze geändert worden, ohne dass darüber in der demokratisch notwendigen Breite diskutiert worden wäre. Das finde ich aber gerade keinen Beweis dafür, dass wir noch weniger über gewollte Politik diskutieren sollten. Man könnte das, was damals geschehen ist und in weiten Teilen bis heute gilt, auch als undemokratisch entlarven.

Die Freiwilligkeit als Sargnagel

Thomas Brussig: Wenn ich mit der These "Mehr Diktatur wagen" aufgetreten bin, dann schreckt es mich nicht, wenn Sie das als undemokratisch brandmarken. Wir sind länger als nötig in diesem nervenden und auch gefährlichen Zustand belassen worden, und da setzt meine Überlegung an. Ich bin ja nur ein einfacher Schriftsteller vom Lande, ich kann auch nicht sagen, was im Einzelnen genau richtig gewesen wäre.

Die Corona-Warn-App ist die durch die übliche Bedenkenträgerei so zerredet worden, dass man in der tatsächlichen Nutzung weit weg war von dem, was für eine Wirksamkeit nötig gewesen wäre. Wenn die Freiwilligkeit aber der Sargnagel für den Erfolg war, dann sollten wir dieses Problem angehen, indem man die App in bestimmten Zusammenhängen verbindlich macht.

Timo Rieg: Auf meine Frage, woher wir nun wissen sollen, was die richtige Entscheidung sei, etwa zur Nutzung einer Corona-Warn-App, gehen Sie nicht ein, ich belasse es mal dabei. Also folge ich Ihnen mal und akzeptiere, man sollte der Wissenschaft folgen, aus der es dann eben auch heißt, die Corona-Warn-App wäre gut für uns alle. Wer entscheidet denn, was "die Wissenschaft" ist?

Wir haben doch auch dort alle möglichen Perspektiven, wie in der Gesellschaft insgesamt. Nehmen wir nur mal die Kosten für egal welche Maßnahmen, ob nun eine Corona-Warn-App oder einen Lockdown.

Egal, was die Politik verordnet, es kostet Geld. Zum einen steht dieses Geld nicht mehr für andere Dinge zur Verfügung, das müssten schon mal der Ehrlichkeit halber und für den demokratischen Prozess benannt werden. Um es zuzuspitzen, wofür es auch viele Modellrechnungen aus der Wissenschaft gibt: Wenn wir mit einem Lockdown X Lebensjahre gewinnen, weil Menschen nicht sterben, fehlt uns gleichzeitig das Geld für medizinische Innovationen, um Y Lebensjahre von Menschen zu retten.

Und da haben wir die vielen finanziellen Folgewirkungen von egal welchen Maßnahmen noch gar nicht mit in der Rechnung, also z.B. geringere Steuereinnahmen. Mit dem Lockdown wurde z.B. vieles unmöglich, was wir bisher für dringend notwendig erachtet hatten. Etwa dass die Freiwilligen Feuerwehren das Löschen und Retten üben - war verboten, wegen Kontaktbeschränkung. Arzneimittelstudien an menschlichen Probanden waren ausgesetzt, weil sie mit den Corona-Schutzmaßnahmen nicht vereinbar waren.

Es leiden und sterben also Menschen, weil die Politik in einer bestimmten Weise das Corona-Virus bekämpft. Wer sagt da, was richtig und was falsch ist? Vielleicht ist eine einzelne Ansteckung in Relation zu all dem anderen, was davon abhängt, doch Peanut, und vielleicht ist der Datenschutz an irgendeiner Stelle gerade kein Peanut, weil sich Dinge verändern, die gar nicht im Blick waren?

Wenn Ihre Corona-Diktatur entscheiden soll, was richtigerweise zu tun ist, dann brauchen Sie doch schon mal die gesamte Wissenschaft, mit allen Disziplinen, nicht nur die Virologen, sondern auch Ökonomen, Soziologen, Psychologen, Ethologen, und dann wäre die Gesellschaft in ihrer Vielfalt mit ihren ganz unterschiedlichen Interessen noch lange nicht vertreten. Wie wischen Sie das jetzt vom Tisch und sagen, nur die Virologie oder irgendeine Physik mit Modellrechnungen an neuronalen Netzwerken entscheidet, was zu tun ist?

Thomas Brussig: So absolut würde ich das nicht sehen. Der Virologe Hendrik Streeck hat vorgeschlagen, dass verschiedene Wissenschaftsdisziplinen an einem Tisch sitzen sollten. Aber da die Herausforderung durch ein Virus geschaffen wurde, ist die Meinung von Virologen und Medizinern ganz wichtig.

Die Wissenschaftler

Timo Rieg: Medizin und Virologie sind aber nur ein oder zwei Aspekte unter potenziell unendlich vielen. Die Virologen haben sich zum Beispiel ständig zum Lockdown geäußert, obwohl das überhaupt nicht ihr Gebiet ist. Sie forschen dazu nicht, und wie Sie selbst sagten: der Lockdown ist etwas völlig Neues. Wir hatten in der Bundesrepublik schlicht noch nie einen Lockdown, da kann auch die Wissenschaft nicht viel aus Empirie sprechen. Dass sich ein Virus nicht von A nach B verbreitet, wenn A und B weit genug auseinander sind, kann sich jedes Schulkind überlegen, das ist noch nicht Wissenschaft.

Thomas Brussig: Ich glaube nicht, dass sich Virologen zum Lockdown äußern. Sie werden sich zu Kontaktbeschränkungen äußern.

Timo Rieg: Aber sicher doch. Lesen Sie mal die "Coronavirus Update"-Folgen mit Drosten nach. Da steht "Lockdown" oft schon im Titel oder Teaser.

Thomas Brussig: Ich sage ja nicht, dass allein Virologen die Entscheidungen treffen sollen. Aber dass sich in diesem Frühjahr praktisch alle Wissenschaftler - Virologen, Epidemiologen, Mathematiker, Kinderärzte - enttäuscht geäußert haben, sie hätten der Politik doch gesagt, wie es gehen soll, aber die haben nicht darauf gehört, das ist auch kein Zustand.

Timo Rieg: Allerdings sagen "die Wissenschaftler" auch schon seit Jahrzehnten, dass alles, was wir so machen, vom Wohnungsbau über den Verkehr, Heizen, Mobilität, Güterverkehr, Kanalisation etc., verkehrt läuft, und allmählich wird eine Fehlentwicklung nach der anderen angegangen, von der Ernährungswende bis zur Sanitärwende. Was aber eben auch heißt, die Demokratie selbst stellt ständig fest, dass vorangegangen Entscheidungen dieser Demokratie kolossaler Quatsch waren.

Und wird dürfen davon ausgehen, dass auch die nächste Generation wieder über ganz vieles, was unsere Epoche gemacht hat, verzweifelt ausrufen wird: "Wie konnten die nur so dumm sein!?" Das ist offenbar das Ergebnis unserer Demokratie, mit permanenter intensiver Konsultation der Wissenschaften, die Sie ja als Instanz für richtige Entscheidungen sehen. Glauben Sie wirklich, nur in der Politik werden Eigeninteressen vertreten und die Wissenschaft ist frei davon?

Thomas Brussig: Ich beobachte die Wissenschaft als ein System mit anderen Währungen. Wenn du dich als Politiker irrst, ist da gar nichts, aber wenn du dich als Wissenschaftler irrst, ist das dramatisch, da bezahlst du einen anderen Preis für.

Timo Rieg: Da Sie auch Fan aleatorischer Verfahren sind: Sollten wir nicht die Mitglieder künftiger Wissenschaftler-Boards zur Beratung der Politik auslosen, damit garantiert keine Eigeninteressen vertreten werden? Jede Disziplin, die in einem Expertengremium vertreten sein soll, benennt zehn oder fünfzig kompetente Vertreter, von denen dann jeweils ein oder zwei per Los in das Gremium kommen, und das natürlich nicht auf ewig, sondern immer mal wieder neu ausgelost? Dann sind dort bei einer Pandemie Brinkmann oder Drosten oder Streeck eben nicht dauerhaft Mitglied, sondern nur mal für einige Wochen, wenn ihnen das Losglück hold ist.

Thomas Brussig: In der Wissenschaft gibt es Maßstäbe für die Qualifikation, unter anderem die Anzahl der Veröffentlichungen und wie oft jemand zitiert wird. Deshalb würde ich eher auf ein solches Ranking setzen, also die Qualität, nicht auf den Zufall. Bei aleatorischer Demokratie geht es um Repräsentativität, bei der Wissenschaft geht es um Kompetenz.

Timo Rieg: Ich hoffe doch, dass es in jeder Wissenschaft mehr als zwei Leute gibt, die man als kompetent bezeichnen kann, so dass da schon eine große Gruppe für die Auslosung zur Verfügung stünde, aus der eben Repräsentanten gelost werden können. Aber selbst wenn wir nun weiterhin auf angeblich irgendwie objektiv feststellbare Kompetenz setzen und nur "die Besten" ins Beraterkollegium holen: Brauchen wir dann nicht wenigstens zur Bewertung und Gewichtung deren Empfehlungen die Repräsentativität des Souveräns, also Bürgerinnen und Bürger?

Denn zumindest da haben wir doch bisher die riesige Verzerrung. Warum sitzt denn Herr Lauterbach Woche für Woche bei Lanz? Der hat doch überhaupt keine spezielle Expertise, seine einzige Rolle ist die des Bürgervertreters im Parlament, und doch ist er Chef-Kommentator der Corona-Politik geworden, als gäbe es nicht noch 708 andere Abgeordnete und 83 Millionen weiter Einwohner in diesem Land. Wenn wir nicht wenigstens da mal losen, wo denn sonst - so unter Freunden aleatorischer Verfahren?

Thomas Brussig: Lauterbach hat schon Ahnung, er ist Epidemiologe.

Timo Rieg: Aber es gibt Tausende, die mal Epidemiologie studiert haben. Wenn ich mir zum Beispiel den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie anschaue, der ja möglicherweise kompetent auf dem Gebiet ist, dann taucht da niemand auch nur annähernd so häufig in den Medien auf wie der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach, der noch nicht einmal Mitglied des Gesundheitsausschusses im Bundestag ist.

Thomas Brussig: Ich sehe einfach, auch wenn ich mich wiederhole, dass der ganze Prozess der Pandemiebekämpfung in Deutschland suboptimal gelaufen ist, dass nicht die richtigen Entscheidungen getroffen wurden, sondern falsche oder unwirksame Maßnahmen ergriffen wurden. Das wirft Fragen auf, weil anderswo zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Maßnahmen ergriffen worden sind.

Timo Rieg: Nehmen wir das aktuelle Thema Impfung von Kindern. Da brauche ich keine Wissenschaft zu befragen, um zu wissen, dass sie unterschiedliches raten wird. Der Epidemiologe wird im Kind den möglichen Virenverbreiter sehen und deshalb die schnellstmögliche Impfung fordern, um Übertragungswege zu unterbrechen. Kinderärzte hingegen werden aus ihrer Profession heraus selbstverständlich sagen, Kinder sollten nicht geimpft werden, soweit sie nicht individuelle Risiken haben, weil Kinder nun mal praktisch nie nennenswert an Corona erkranken, das sagt schlicht die Empirie.

Und dann könnten wir noch zig andere Wissenschaftsdisziplinen befragen, zu den sozialen Verwerfungen, die durch den Clash of Cultures von Geimpften und Nichtgeimpften entstehen, oder was eigentlich die Immunologie zu dem Ganzen sagt und so weiter. Wer entscheidet jetzt, was richtig ist? Weiterhin die Epidemiologie, weil es um ein Virus geht? Oder irgendeine Humanwissenschaft, weil es um den Menschen geht? Oder sonst wer?

Thomas Brussig: Die Ständige Impfkommission hat keine Empfehlung für die Kinderimpfung ausgesprochen, weil das Risiko für Kinder gering ist und der nötige Aufwand das nicht rechtfertigt. Und trotzdem gibt es kein Impfverbot für Kinder. Da hat sich die richtige Meinung, sprich Wissenschaft, bislang durchgesetzt.

Timo Rieg: Das klingt aber eher nach einem Kompromiss als nach der einzig wahren Wahrheit. Denn die Alten könnten immer noch von Kindern infiziert werden.

Thomas Brussig: Die Alten können sich ja schützen, indem sie sich impfen lassen.

Die Frage nach der individuellen Freiheit

Timo Rieg: Da sind wir bei der Frage nach der individuellen Freiheit, denn diese Möglichkeit gab es schon die ganze Zeit. Nicht die Impfung natürlich, aber die individuelle Quarantäne. Jeder, der noch mobil war, hatte sich jederzeit in einen persönlichen Lockdown versetzen können. In diese Richtung argumentiert beispielsweise der Philosoph Markus Gabriel [7], der sagt, wir hätten viel mehr Freiheitsangebote statt Vorschriften gebraucht. Also beispielsweise Homeoffice als Option, als Rechtsanspruch statt als Pflicht. Wo bleibt bei Ihnen diese individuelle Freiheit?

Man kommt sich ja schon lange vor wie ein Rädchen im Getriebe des Volkskörpers, das halt zu funktionieren hat, ob jetzt mit Maske, Warn-App, Impfung oder welchen Geschichten auch immer. Wo wurde ernsthaft über die Freiheit diskutiert? Freiheitsforderungen wurden lächerlich gemacht nach dem Motto: Du empfindest die Maßnahmen als Eingriff in deine Persönlichkeit und willst dafür das Leben anderer opfern. Das war natürlich immer Populismus. Ich bin da weiterhin Fan der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789, in deren zweiten Artikel es heißt:

Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.

Wobei die Rechte Eigentum, Sicherheit und Widerstand eigentlich in "Freiheit" schon enthalten sind. Und in Artikel vier heißt der erste Satz:

Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.

Das ist ein Dokument, auf das sich letztlich alle Demokratien dieser Welt bis heute berufen, denn genau so beansprucht Demokratie zu sein. In den Corona-Diskussionen habe ich davon aber nichts gespürt.

Thomas Brussig: Als diese Erklärung, die ohne Zweifel eine Sternstunde der Zivilisation war, in Worte gefasst wurde, waren wir nicht in einer Pandemie. Da gab es vielleicht gar nicht die Phantasie, dass wir in Zustände kommen können, wo wir uns das nicht leisten können. Freiheit ist eine großartige Sache. Aber wenn ein Virus das Zepter schwingt und dies lebensbedrohlich sein kann, dann müssen wir neu darüber nachdenken.

Und ich will ja nicht grundsätzlich neu über die Freiheit nachdenken, sondern nur unter den Bedingungen einer Pandemie. Ich will die Freiheit einschränken, um die Pandemie in den Griff zu bekommen, um das Virus zu eliminieren, damit wir zu dem alten, geliebten Leben zurückkehren können.

Timo Rieg: Das leuchtet mir aber gar nicht ein. Erstens gab es Pandemien immer wieder, das ist ja nun nichts Neues, zweitens passt der Grundsatz natürlich auch zur Pandemie. Sobald ich mit meiner Freiheitsausübung die Freiheit anderer tangiere, müssen wir verhandeln - aber eben erst dann.

Thomas Brussig: Entschuldigung, es hat zwar große Pandemien gegeben wie die Pest, aber die waren so selten, dass sie immer ein Ausnahmezustand waren.

Timo Rieg: Natürlich ist eine Pandemie ein Ausnahmezustand, wie eben - ich provoziere jetzt bewusst - jede Erkältung ein Ausnahmezustand von unserem normalen Leben ist. Aber sie ist nichts, was bei den grundsätzlichen Überlegungen zur Freiheit punktuell neu berücksichtigt werden müsste. Wir regeln das gesamte Leben im Hinblick auf Ausnahmezustände, für alle Eventualitäten. Wir schließen Versicherungen ab für die unwahrscheinlichsten aller Unglücksfälle, eben weil wir mit dem Ausnahmezustand rechnen, weil wir uns ihn zumindest vorstellen können. Virus-Epidemien sind da nun wirklich keine Besonderheit.

Thomas Brussig: Das fiese an dem Corona-Virus ist, dass es besonders ansteckend ist, wenn die Infizierten selbst noch nichts merken. Daher geben sie das Virus so leicht weiter. Wenn ich die Einschränkung von Freiheiten fordere, dann nicht, um jemanden zu unterdrücken, sondern um Schutzlose zu schützen.

Natürlich könnte man sagen: Allen, denen das egal ist, die können auf die Straße, und allen denen das nicht egal ist, die müssen halt zuhause bleiben. Aber das ist nicht fair, da muss eine andere Abwägung getroffen werden. Was die Freiheiten angeht: Ich halte es für richtig, dass die Geimpften und von Corona Genesenen ihre Freiheiten zurückbekommen. Das wurde immer als "Sonderrechte" verhandelt, aber das ist Quatsch, da bin ich völlig neidlos.

Wer keine Gefahr für andere ist, der soll auch keinen Einschränkungen unterworfen sein. Das war für mich immer Teil einer wissenschaftlichen Rationalität. Wenn es um die Pandemiebekämpfung geht, dann würde ich von einer Corona-Diktatur auch erwarten, dass sie Geimpfte und Genesene anders behandelt als diejenigen, die sich noch infizieren können.

Timo Rieg: Da gehe ich völlig mit. Denn natürlich ist es kein Sonderrecht, wenn jemand keinen unsinnigen Regelungen unterliegt. Es muss der Normalfall sein. Es bedarf der Begründung, Freiheiten einzuschränken, und wo es diese Begründung nicht gibt, darf es die Freiheitsbeschränkung nicht geben, das muss doch eine Selbstverständlichkeit sein - war es jedoch leider nicht.

Aber zurück zu Ihrem Gedankenspiel der Eigenverantwortung: Es gab durchaus von Anfang an auch die Meinung, der Staatsapparat habe mit seiner Macht auf diejenigen zu fokussieren, die sich nicht selbst schützen können, die also nicht frei entscheiden können, ob sie in den Lockdown gehen wollen oder nicht. Pflegebedürftige können sich natürlich nicht in Klausur begeben, aus dem Kontakt mit Pflegern zurückziehen.

Aber genau da sind die meisten Todesfälle zu verantworten, dort, wo Menschen ohne eigene Entscheidung anderen Menschen begegnet sind, vorwiegend eben Pflegern, Ärzten, anderen Patienten oder Heimbewohnern. Da wurde lange Zeit gar nichts getan. Stattdessen gab es Besuchsverbote.

Warum aber darf die Oma im Seniorenwohnheim nicht selbst entscheiden, ob sie noch mal ihre Enkel sehen möchte, bevor sie stirbt, und sei es um das Risiko einer Corona-Infektion? Klar, dann mit der üblichen Quarantäne hernach, um andere im Wohnheim nicht zu gefährden. Aber solche Entscheidungsfreiheiten gab es nie.

Die Selbstbestimmung der Menschen war völlig außer Kraft gesetzt, sie galt nichts mehr. Diejenigen, die Ihrer Ansicht nach für die richtigen Entscheidungen zuständig sind, haben entschieden, was ein gutes Leben ist, was ein gutes Sterben ist. Krankenhäuser haben in ihrer kapitalistischen Selbstherrlichkeit entschieden, wer wen wann wie besuchen darf.

Da gab es so unglaublich viele Regelungen, die jeder Wissenschaft Hohn sprechen, die schlicht absurd waren. Da durften Patienten dann von nur einem Menschen pro Woche für maximal eine Stunde besucht werden. Was für ein Schwachsinn! Ist das Infektionsrisiko höher, wenn diese eine Person, mit Mundschutz, negativem Corona-Test und so weiter, zwei Stunden oder vier Stunden da ist? Einige Zeit später galt dann im selben Krankenhaus die Regel: täglich ein Besucher pro Patient für eine Stunde. Wer gestern da war, durfte heute nicht nochmal kommen, wenn schon ein anderer da gewesen war. Es war absurd.

Freiheit hat überhaupt keine Rolle gespielt. Aber so ist es eben immer, wenn mal jemand Macht gerochen hat. Ganz aktuell: der berühmte Sieben-Tage-Inzidenzwert bewegt sich Richtung Grenze zur Nachweisbarkeit, aber der Bundestag hat trotzdem nochmal die "Epidemische Lage von nationaler Tragweite" nach dem neuen §5 des Infektionsschutzgesetzes ausgerufen.

Schon zu Beginn der Corona-Maßnahmen konnten wir in den Zeitungen Meldungen der Art lesen, dass zwei Jugendliche aus verschiedenen Haushalten von der Polizei ein Bußgeld aufgebrummt bekommen haben, weil sie gemeinsam im Auto zu McDonald's gefahren sind - das war doch von Anfang an verrückt, unter dem demokratischen Gesichtspunkt: Haben diese beiden Jugendlichen jetzt ernsthaft in die Freiheitsrechte anderer eingegriffen, dass eine drakonische Strafe folgen muss?

Wenn es keine Rolle mehr spielt, ob ich tatsächlich die Rechte anderer mit meiner Ausübung von Rechten verletzte, dann sind wir bei sturer Regelbefolgung und letztlich beim Kadavergehorsam: Ist halt so, machen wir jetzt so, keine Diskussionen.

Thomas Brussig: Was mich an Ihren Beispielen aufregt ist nicht die Einschränkung von Freiheit, sondern die Sinnlosigkeit von Maßnahmen. Ich habe Probleme mit sinnlosen Maßnahmen, nicht mit der Einschränkung von Freiheiten. Die Pandemie muss bekämpft werden, dafür braucht es auch Freiheitseinschränkungen, aber über sinnlose Maßnahmen kann ich mich genauso aufregen wie Sie.

Timo Rieg: Zum Wesen von Freiheit gehört, dass nicht Experten oder die Mehrheit entscheidet, ob sie relevant ist. Sonst können wir uns die freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Grundgesetz gleich komplett klemmen. Zu Ihrer Argumentation aber noch zwei Anmerkungen.

Zum einen ist es nie überzeugend, eine Tat, ein Vorhaben, eine Bestimmung damit zu rechtfertigen, es habe in der Vergangenheit schon mal etwas Ähnliches gegeben. Es gibt jede Menge einfachgesetzliche Einschränkungen unserer Grundrechte, daraus ergibt sich aber nicht, dass beliebig weitere hinzunehmen sind.

Ich sage mal Unverletzlichkeit der Wohnung, die ist ja das Papier nicht wert, auf dem sie steht, weil für jeden Pups Hausdurchsuchungen genehmigt werden oder die Polizei einfach mal Gefahr in Verzug sieht und tätig wird. Und derart gibt es jede Menge, worüber demokratisch zu diskutieren wäre.

Es stehen zwei Fragen im Raum. Zum einen, ob Ihrer Ansicht nach selbst eine demokratische Mehrheit Corona-Maßnahmen nicht ändern können sollte, weil es schlicht um Ihrer Ansicht nach Richtiges geht, und das soll durch eine mehrmonatige Corona-Diktatur durchgesetzt werden. Und zum anderen, was Grundrechte wert sind, wenn sie nach Belieben an- und ausgeschaltet werden können. Vor Corona war Heribert Prantl eine Leitfigur im Journalismus, mit seinem Pochen auf die Freiheitsrechte auch in Corona-Zeiten [8] haben sich viele Kollegen von ihm abgewendet.

Thomas Brussig: Wir haben es bei der Pandemie mit einem Virus zu tun, das wir nicht überstimmen können. Es verbreitet sich nach Naturgesetzen. Hunderttausende haben auf den Intensivstationen gelegen. Wenn man dort gelandet ist und künstlich beatmet wird, ist es auch nicht mehr weit her mit der Menschenwürde, zumal wenn man weiß, dass dieser Zustand vermeidbar gewesen wäre. Die Grundrechte werden von einigen Leuten mit einem fürchterlichen Pathos belegt, als ob Grundrechtseingriffe und Eingekerkertwerden das Gleiche wäre.

Timo Rieg: Eingekerkert wird doch. Wir sollten nicht nur von uns ausgehen, wir beide kommen da vermutlich ganz gut durch. Aber was ist mit denen, die in Alten- und Pflegeheimen leben, dort völlig fremdbestimmt sind, keinen Besuch empfangen durften, alleine auf ihrem Zimmer essen mussten, nicht mehr ins Freie gekommen sind? Sie konnten kein Formular unterschreiben, dass sie auf eigenes Risiko nochmal ihre Enkel sehen wollen. Der paternalistische Staat und die kapitalistischen Pflegekonzerne haben für sie entschieden.

Thomas Brussig: Da kenne ich mich mit den Details nicht aus, aber ja, wenn es keine Gefahr für andere darstellt, dann sollten natürlich auch Menschen im Pflegeheim selbst entscheiden dürfen, was ihnen wichtiger ist, Familienkontakt oder Risikominimierung. Aber der Skandal war doch, dass es für das Pflegepersonal keine Impfpflicht gab.

So wurden ausgerechnet die Schwächsten einer unnötigen Gefahr ausgesetzt. Es war vielleicht eine demokratische Entscheidung und sicher eine zugunsten der Freiheit, aber es war keine gute. Da würde ich von Ihnen gerne mal hören, dass Sie auch ein Problem mit solchen Freiheiten haben.

Timo Rieg: Sie werfen da aber einen Spezialfall in den Topf der allgemeinen Freiheitsrechte. Dass bestimmte Berufe bestimmte Anforderungen stellen ist völlig normal, da lasse ich mich aber idealerweise freiwillig drauf ein, weil ich nicht in einen Beruf gezwungen werde. Gegen die Impfpflicht von Pflegepersonal wurden seinerzeit verschiedene Argumente angeführt, nicht nur die individuelle Freiheit, sondern beispielsweise auch die simple Angst, damit Personal zu verlieren, wo man doch eh zu wenig habe.

Mit den ständigen Testungen ist das aber wohl ohnehin kein nennenswertes Thema mehr. Viel wichtiger wäre mir festzustellen, dass eben objektiv sehr vieles falsch gelaufen ist, das sehen wir wohl ähnlich, wenn auch aus ganz verschiedenen Blickwinkeln.

Menschen sind nicht nur trotz, sondern auch wegen der Behandlung im Krankenhaus gestorben, aber wir haben ja von Anfang an alle Mitarbeiter des Gesundheitssystems als Helden heilige gesprochen und damit pauschal von jedwedem Fehler freigesprochen.

Viele Maßnahmen waren unsinnig, viele kontraproduktiv, wie etwa die Verkürzung von Öffnungszeiten. Die exekutive Politik hatte schon jede Menge Macht und hat sich mit schnellen Gesetzesänderungen noch mehr Macht geholt, und Sie fordern die Corona-Diktatur, damit noch schneller durchgesetzt werden kann, was irgendwelche Experten für richtig halten, ohne sich um die Komplexität dieser Welt zu scheren, ohne Nebenwirkungen und Kollateralschäden überhaupt nur zu berücksichtigen?

Und wie passt Ihre Corona-Diktatur zu Ihrem behaupteten Fable für aleatorische Demokratie? Denn da sieht das Verfahren nun mal immer so aus, dass zwar alle Experten, Lobbyisten, Betroffene etc. gehört werden, ihre Empfehlungen, Bedenken und Weisheiten vortragen, die Entscheidung aber gerade bei ausgelosten Bürgern liegt, als repräsentative Vertreter des Souveräns.

Thomas Brussig: Wie die Pandemiebekämpfung in einer aleatorischen Demokratie ausgefallen wäre, wissen wir beide nicht. Möglich wäre ja, dass ein ausgelostes, repräsentatives Panel von Mitbürgern den Ratschlägen der Wissenschaft gefolgt wäre. Die Politik ist den Ratschlägen jedenfalls nicht gefolgt.

Timo Rieg: Meine Gretchenfrage hier ist, wie Sie es mit Losbürgerversammlungen halten, derzeit unter dem Namen "Bürgerrat" populär. Angenommen, es hätte zu Corona repräsentativ per Los zusammengesetzte Versammlungen gegeben, die akkurat nach dem Stand der Deliberationsforschung mit allem benötigten Input über Maßnahmen beraten hätten. Würden sie deren Ergebnis blind als demokratisch akzeptieren und der Corona-Diktatur vorziehen, oder hinge das davon ab, ob Ihnen die Ergebnisse gefallen?

Thomas Brussig: Demokratisch wäre ein solches Verfahren, aber wäre es auch effektiv? Die Legitimität eines Verfahrens ergibt sich doch aus seiner Problemlösungskompetenz. Wenn ein System in der Lage ist, die Daseinsfragen der Menschen zu lösen, hat es Legitimität, andernfalls nicht. Wir wären etwas armselig, wenn wir die Demokratie um ihrer selbst willen toll fänden. Natürlich gibt es Probleme, die die Politik nicht lösen kann. Aber diejenigen, die lösbar sind, soll sie bitte lösen. Tut sie das nicht, wenden wir uns von ihr ab. Wir können ja nicht etwas gut finden, das gegen unsere Interessen gerichtet ist.

Timo Rieg: Aber "unsere Interessen" sind eben verschieden, konkurrierend, widersprüchlich. Deshalb habe ich auf die Freiheit gepocht, die nur dort Grenzen findet, wo wir in die Freiheit anderer eingreifen. Sie hingegen sehen höhere Ziele, denen sich die Freiheit unterzuordnen hat.

Thomas Brussig: Von höheren Zielen habe ich nie gesprochen.

Timo Rieg: Aber von Entscheidungen, die für Sie ohne Zweifel, ohne Diskussion und ohne Abstimmung richtig sind und daher umgesetzt werden sollen, womit Sie diese über alles andere stellen. Für Sie gibt es eine richtige Politik, wenn sie wissenschaftlich evident ist.

Thomas Brussig: Ja, aber nur unter den Bedingungen der Pandemiebekämpfung, wo Leben und Gesundheit geschützt werden müssen.

Timo Rieg: Sie haben in ihrem Essay "Mehr Diktatur wagen" als Gedankenspiel ein Virus genommen mit der Infektiosität von Corona aber der Tödlichkeit von Tollwut. "Da wäre es glatter Selbstmord, für Ratschläge aus der Wissenschaft erst nach Mehrheiten, Kompromissen und Konsensen zu suchen", schreiben Sie. Auch da gäbe es zwar meiner Ansicht nach mehr zu berücksichtigen, aber nehmen wir das mal so.

Wie ist es dann bei geringerer Tödlichkeit? Wo ist die Grenze? Wer legt die fest? Muss jetzt nicht bei jeder Infektion die Wissenschaft entscheiden, wie wir zu leben haben? Bei jeder Grippe, jeder Kinderkrankheit? Und beim Klimawandel, bei ökonomischen Problem, halt bei allem, das Einfluss auf die Lebensqualität haben kann? Was definiert den Ausnahmezustand, der Ihre Kurzzeit-Diktatur der Wissenschaft rechtfertigt?

Thomas Brussig: Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Damit müssten sich die Ethiker beschäftigen. Es hat sicher viel damit zu tun, wie schutzlos der Einzelne ist. Wenn du dich selbst gut schützen kannst, sind diktatorische Freiheitseinschränkungen nicht geboten. Vielleicht kann man AIDS als Beispiel nehmen. Kondome schützen, aber ihre Benutzung wurde nicht zur Pflicht. Jeder kennt das Risiko, jeder kann sich schützen.

Timo Rieg: Ich versuche es ein letztes Mal. Übergehen wir mal die erste Schockwelle, von der es immer heißt, niemand hätte gewusst, was zu tun ist, weil ja alles so fürchterlich neu war. Das halte ich zwar auch für Blödsinn, denn mit was bitte soll der ganze Katastrophenschutz gerechnet haben wenn nicht mit einer Pandemie - mit der Landung von Marsmenschen vielleicht? Aber geschenkt.

Doch spätestens ab letztem Sommer war doch dann alles soweit klar, dass man viel stärker auf die Eigenverantwortung hätte setzen können und die Politik hätte sich konzentriert auf diejenigen, die sich tatsächlich nicht selbst schützen können. Und wenn es wirklich um die Belastungsgrenzen des Gesundheitswesens gegangen wäre, warum konnte man dann nicht unterschreiben, dass man sich auf eigenes Risiko noch im Land bewegt und im Erkrankungsfall keinen Anspruch auf ein Krankenhausbett erhebt, wenn die Kapazitäten knapp sind?

Thomas Brussig: Es hat ja die Vorschläge gegeben, die Coronaleugner nicht zu behandeln, aber das ist auch unethisch. Man hat auch ein Recht auf Irrtum.

Timo Rieg: Die Corona-Maßnahmen tangieren aber doch auch andere. Niemand weiß bisher, welche Folgeschäden das alles hat. Kindern fehlt praktisch ein Jahr Entwicklung, soziale Entwicklung genauso wie die ihres Immunsystems, um nur zwei Bereiche zu nennen. Alles wurde weggewischt mit der Argumentation, es ginge um Leben und Tod, dahinter habe alles andere zurückzustehen und mit Geld könne man es schon gar nicht verrechnen. Was natürlich völliger Quatsch ist, denn das tun wir ständig.

Wenn die Gesundheit das höchste Gut wäre, dann dürfte es keine Kulturförderung geben und tausend andere staatlich finanzierten Dinge. Dann würden die Armen endlich gesundes Essen bekommen, anstatt sich mit dem Hartz-Satz von rund 5 EUR pro Tag durchschlagen zu müssen.

Thomas Brussig: Es musste schnell gehen, wir wurden von der Entwicklung doch überrollt. Als wir die Bilder aus Bergamo gesehen haben war klar, dass wir sowas auf keinen Fall bei uns erleben wollen. Da wurde dann zurecht nicht über Freiheitsrechte gesprochen. Die Politik musste viel improvisieren, das hat mehr schlecht als recht geklappt. Nächstes Mal muss es besser laufen.

Das Gespräch zum Nachhören gibt es als Podcast auf der Website www.aleatorische-demokratie.de [9]

Nachfolgend ist der Essay von Thomas Brussig wiedergegeben, in dem die Idee einer "Corona-Diktatur" vorgestellt wird. Er wurde zuerst in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht.

Thomas Brussig

Thomas Brussig (*1964 in Berlin) hatte 1995 seinen Durchbruch als Autor mit "Helden wie wir". Sein bekannter Roman "Am kürzeren Ende der Sonnenallee" (1999) wurde von Leander Hausmann verfilmt. Es folgten u.a. die Bücher "Wie es leuchtet" (2004), "Das gibt’s in keinem Russenfilm" (2015) und "Die Verwandelten" (2020) sowie das Musical "Hinterm Horizont". Seine Werke wurden in über 30 Sprachen übersetzt.

Timo Rieg

Timo Rieg (*1970 in Bochum) hat Biologie und Journalistik studiert. Seine Bücher zur Demokratieentwicklung sind "Verbannung nach Helgoland" (2004) und "Demokratie für Deutschland" (2013).

Anhang: Mehr Diktatur wagen. Essay von Thomas Brussig

Mehr Diktatur wagen
Man sollte die Corona-Leugner endlich beim Wort nehmen: Die Pandemie erfordert den Ausnahmezustand.
Thomas Brussig

Die Corona-Krise ist auch bei sinkender Inzidenz eine Ohnmachtserfahrung geblieben. Trotz aller Beschränkungen des täglichen Lebens, trotz Impfbeginn ist ein Ende der Zumutungen nicht absehbar - obwohl es einige wenige Länder vermochten, das Virus auszuschalten. Die coronabedingte Ohnmachtserfahrung wurzelt darin, dass wir die Corona-Krise mit den Mitteln der Demokratie bewältigen müssen.

So wie Sigmund Freud die "drei Kränkungen der Menschheit" ausmachte (erstens das kopernikanische Weltbild, das den Menschen aus dem Zentrum des Universums verstieß, zweitens der Darwinismus, wonach der Mensch nicht von Gott, sondern vom Affen abstammt, und drittens die Psychoanalyse, der zufolge er nicht selbstbestimmt, sondern aus ihm verborgenen, unbewussten oder triebhaften Motiven heraus handelt), so gibt es inzwischen die drei Kränkungen des Demokraten.

Dabei war vor nicht mal dreißig Jahren das liberale Selbstbewusstsein auf dem Höhepunkt. Marktwirtschaft und Demokratie hätten der populären These vom "Ende der Geschichte" zufolge so überzeugend triumphiert, dass ihrer weltweiten Ausbreitung nichts mehr im Wege stünde.

Diese Überzeugung wurde zunächst durch das chinesische Wirtschaftswunder erschüttert, das die gängige These widerlegte, dass Demokratie zur Marktwirtschaft gehört wie der Senf zur Bockwurst. Die Marktwirtschaft im Ein-Parteien-Staat glänzt mit Wachstumsraten, Wohlstand und technologischen Spitzenleistungen, ob in Architektur, Raumfahrt, KI. Die zweite Kränkung des Demokraten besteht in Trump und Brexit, also in Erfahrungen der Jahre 2016 bis 2020, die eine demagogische Verwundbarkeit von Demokratien offenbarten.

An Trump verstörte nicht nur, dass eine solche Figur überhaupt Wahlen gewinnen konnte, sondern mit wie wenig Widerstand er sich als peinlicher Präsident durchs Amt randalierte, ohne aus dem Weißen Haus gekegelt oder durch die viel gerühmten "Checks and Balances" gehindert zu werden.

Selbst seine Abwahl war keine Sternstunde der Demokratie; sie war eine tagelange Zitterpartie. Der Brexit hingegen machte Demokratie zur Karikatur: Nach einer Volksabstimmung, die etwa fifty-fifty ausging, kuschten die Vertreter der klügeren Hälfte vor der dümmeren, geringfügig größeren Hälfte, indem sie das Kuschen zum "Respekt vor der demokratischen Entscheidung" schönredeten.

Drei folgende Wahlen (zweimal Unterhaus, einmal Europaparlament) machten den Brexit endgültig zum demokratisch eingebetteten Wahnsinn. Die dritte Kränkung für den Demokraten findet sich in der Corona-Krise, und sie liegt in der Ohnmacht einer Demokratie, den Werkzeugkoffer des erfolgreichen Pandemiebekämpfers auszupacken.

Würde das Virus immer zum Tod führen, würden die Ministerpräsidenten abwägen?

Zwar gibt es Demokratien, die der Pandemie Herr wurden (zum Beispiel Australien, Neuseeland, Taiwan und Südkorea), aber es handelt sich um Staaten mit einer (Quasi-)Insellage, was unter Ausbreitungsgesichtspunkten Wettbewerbsverzerrung ist. Und leider findet sich - wieder mit China, ausgerechnet - auch ein Beispiel, dass ein autoritär verfasstes Land das Virus schnell loswurde und die zweite Welle rasch zum Erliegen brachte.

Ist diese "Impotenz der Demokratie" ein eingeschriebener Makel, oder kann der Pandemiebekämpfer seinen Werkzeugkoffer auch in einer Demokratie auspacken? Nun, der effektive Pandemiebekämpfer muss auf der Höhe der Forschung sein. Der demokratische Pandemiebekämpfer hingegen muss eine Mehrheit gewinnen, einen Konsens bilden und einen Kompromiss finden. Derlei ist der Wissenschaft fremd. Als Albert Einstein in der Frühzeit der Relativitätstheorie mit einem Buch "Hundert Autoren gegen Einstein" konfrontiert wurde, soll er gesagt haben: "Hätte ich unrecht, wäre einer genug."

Wie mit dem Coronavirus umzugehen ist, ist Behau der Wissenschaft, und nur der Wissenschaft. Dazu ein Gedankenexperiment: Angenommen, es gäbe ein Virus, so hervorragend übertragbar wie das Coronavirus, aber so tödlich wie der Tollwut-Erreger; eine Infektion wäre also das sichere Todesurteil. Da wäre es glatter Selbstmord, für Ratschläge aus der Wissenschaft erst nach Mehrheiten, Kompromissen und Konsensen zu suchen.

Soweit das Gedankenexperiment. Nun zurück zur Realität, in der das Coronavirus nicht jeden Erkrankten tötet, sondern nur einen von etwa 30. Dieser Umstand gaukelt vor, es gäbe Spielräume. Nur: Ab welchem Schwellenwert hat die Wissenschaft das Sagen? Wenn jeder Zweite stirbt? Genügt bereits jeder Zehnte? Die Antwort: Ab dem Punkt, an dem die Lage ernst ist. Und wenn täglich Menschen sterben in der Größenordnung von Flugzeugabstürzen, ist sie schon lange ernst.

Die weiche Stelle unseres Systems zeigt sich in der Schwerfälligkeit und Unfähigkeit, notwendige Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Die Politik führt ihre Debatte von der Wissenschaft entkoppelt, viel zu oft fragen Politiker, "was" beziehungsweise "wie lange man (es) den Menschen noch zumuten kann". Als käme es darauf an. Hier tobt ein Virus, mit dem sich weder verhandeln noch das sich überzeugen oder einschüchtern lässt.

Wollen wir das Virus loswerden, sind wir gezwungen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Dank der Wissenschaft wissen wir, welche Maßnahmen nötig sind, wir wissen sogar, welchen Preis wir zahlen müssen, wenn sie ausbleiben. Natürlich kann dagegen polemisiert oder protestiert werden, Prognosen können nach Belieben dramatisiert oder verharmlost werden. Aber das Geschehen wird durch einen Akteur dominiert, dem das alles egal ist.

Ist das Virus gebannt, kehren wir gerne zurück zur geliebten Normalität

"Mehr Diktatur wagen!" wäre das Gebot der Stunde. Dass ausgerechnet die Corona-Leugner eine "Corona-Diktatur" heraufziehen sehen, sollte erst recht Grund sein, sie zu wollen. Die Leugner sind außerstande, die Gefahr durch das Virus einzuschätzen, aber sie ahnen, wie ihr beizukommen ist. Ist das Virus gebannt (wie schnell das gehen kann, machten Südkorea oder Singapur vor), kehren wir zurück zur geliebten Normalität. Dass uns die Pandemie in einen Ausnahmezustand versetzt, ist wörtlich zu nehmen. Der Regelzustand bleibt die Demokratie, mit ihren Freiheiten und Grundrechten.

Vermutlich haben die viel gerühmten "Väter des Grundgesetzes" in ihrem nachvollziehbaren Eifer, ein Bollwerk gegen eine Wiederholung der Nazidiktatur zu schaffen, vergessen, dass während einer Seuche die Ausübung von Grundrechten eine Gefahr für die Gesamtbevölkerung darstellen kann. Natürlich steht der Schutz des Lebens an oberster Stelle, was denn sonst.

Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ergibt sich aus der Frage nach ihrer Wirksamkeit; unwirksame Maßnahmen bedürfen weder des Beschlusses noch der Umsetzung. Das klingt banal und ist es auch - aber ein Blick in die Realität zeigt, dass Unwirksames (wie Böllerverbot oder die 15-Kilometer-Auflage für Landkreise ab 200er-Inzidenz) zur Umsetzung gelangt, hingegen das sehr wertvolle "Scharfstellen der App" in der politischen Debatte keine Rolle spielt.

So wird die App-Pflicht zwar von Wissenschaftlern und Zivilgesellschaft aufgeschlossen diskutiert und direkt gefordert, doch von den Mandatsträgern will sich niemand am Reizthema Datenschutz die Finger verbrennen. Selbst Karl Lauterbach, der sich für keine Zuchtmeister-Geste zu schade ist, redet lieber einem Böllerverbot das Wort, als einer um die Fesseln des Datenschutzes entledigten App.

Covid-19 ist zwar dramatisch genug, um seit Monaten die Nachrichten zu dominieren - aber nicht dramatisch genug, um Überzeugungen über Bord zu werfen, die daran hindern, das Nötige zu tun. Wären wir dazu in der Lage, läge Covid-19 längst hinter uns. Die Rezepte sind bekannt.

Die Demokratie sollte ihre Rituale und Umständlichkeiten nicht so wichtig nehmen, ihrer Legitimität zuliebe. Nichts wäre ihr so abträglich wie der Verdacht, dass sie nur um ihrer selbst willen existiert, jedoch nicht, weil sie die heutigen Probleme besser lösen kann als andere Staats- und Regierungsformen. Corona elektrisiert alle, das Virus hat einen Lernprozess ausgelöst und eine Bereitschaft, neu über vermeintliche Gewissheiten nachzudenken. Es wäre fatal, wenn die Lektion in der dritten Kränkung des Demokraten bestünde: dass Demokratien es nicht hinkriegen.


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