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"Do-It-Yourself-Urbanismus"

Hanno Rauterberg über neue Tendenzen des Stadtlebens

Neuen Phänomenen und ihren Widersprüchen städtischen Zusammenlebens widmet sich Hanno Rauterberg [1] in seinem Buch Wir sind die Stadt! [2] Zwar wird die Okkupation des öffentlichen urbanen Raums momentan noch vorrangig in Gestalt von Gentrifizierung und Privatisierungspolitik betrieben, aber der Journalist und Architekturkritiker sieht in vielen sozialen Techniken und Interessensplattformen der Stadtbürger die Saat des Subversiven aufgehen.

Herr Rauterberg, wie haben sich die Städte in den letzten 20 Jahren verändert? Mein Eindruck aus München: Sie sind vor allen Dingen teurer, aber nicht schöner geworden, und die Anzahl reicher Idioten hat sich auch nicht gerade verringert …
Hanno Rauterberg: Was Sie beschreiben, entspricht ziemlich genau der Diagnose vieler Stadtforscher und zwar schon seit Jahrzehnten: Alles wird immer hässlicher, schlechter, schlimmer, im Grunde ist die Stadt längst tot. Als das Internet groß wurde, vor gut zwanzig Jahren, waren nicht wenige davon überzeugt, dass man die Stadt und ihre Räume nicht mehr brauchen würde. Wozu auch, wo doch alles frei Haus geliefert wird und man mit allen ständig in Kontakt stehen kann, ohne vor die Haustür zu gehen?
Doch bei meinen Recherchen für das Buch bin ich zum gegenteiligen Ergebnis gelangt: Nichts bestätigt die kulturpessimistische Annahme, dass der öffentliche Raum überflüssig geworden ist. Vielmehr wächst gerade in der digitalen Moderne das Verlangen nach körperlichen Erfahrungen, nach gelebter Kollektivität, nach städtischen Räumen, die alle Sinne ansprechen. Obwohl äußerlich alles so zu sein scheint wie ehedem, verändert sich doch das Bewusstsein: Die Stadt mit ihren Räumen wird zum Ort der Projektionen, aber auch der Aktionen, im sportlichen, spielerischen, auch im politischen Sinne.

"Was überreguliert war, wird entregelt"

Inwieweit wurden die Veränderungen durch den Computer beeinflusst?
Hanno Rauterberg: Vor allem seit der Einführung des Smartphones - Internet für die Hosentasche - verändert sich für viele Menschen das räumliche Empfinden. Man sieht das zum Beispiel daran, dass gerade bei den Jüngeren die Zulassungszahlen für Autos rapide einbrechen. Der eigene Pkw ist nicht mehr das Statussymbol, das es mal war, nicht länger das Zeichen für Unabhängigkeit, Beweglichkeit, Freiheit. Das ist heute das Smartphone. Zudem wird im Internet vieles zur Selbstverständlichkeit, das dann auch den urbanen Alltag, unser Verhältnis zur Stadt bestimmt - das Mitreden, Mitwirken, der Austausch der Ideen, die sich dann unversehens weltweit verbreiten.
Aber auch auf einer tieferen Ebene scheint es erstaunliche Parallelen zu geben. So ist der Shared Space neuerdings zum Leitbild vieler Stadtplaner geworden: eine Stadt ohne Beschilderungen, ohne Warn- und Vorsichtszeichen, ohne Bordsteinkanten. Die Radwege und Bürgersteige, sämtliche Schraffierungen, Markierungen, Schwellen, Planken und Drängelgitter, selbst die Ampeln sollen verschwinden. Was überreguliert war, wird entregelt: Im Shared Space, in diesem ungeteilten Raum, soll nichts mehr vorherbestimmt sein. Niemand hat mehr Vorfahrt oder genauer: Alle haben Vorfahrt.
Auch das Internet lässt sich ja als eine Art Shared Space begreifen, dort sind sogenannte Open Spaces populär, in denen beliebige Themen von beliebig vielen Menschen diskutiert werden können, selbst organisiert und selbst verantwortlich.
Die dafür nötige Technik [3] wurde um 1985 in den USA von Harrison Owen entwickelt, genau zur selben Zeit, in der ein gewisser Hans Monderman in dem Dorf Oudekaste im niederländischen Friesland seine ersten Experimente mit schilderlosen Straßen unternahm, die ihn später zum Urvater der Shared-Space-Bewegung machen sollten. Owen wie Monderman wurden früh mit ähnlichen Vorbehalten konfrontiert: Das liberalisierende Moment des Open und des Shared Space, die anarchische Kraft, die hier zutage tritt, scheint bis heute viele Menschen zu schrecken. Hier verkörpert sich ein gewandeltes Weltverständnis und verlangt ein neues Bewusstsein: Das lineare weicht dem komplexen Denken, alles Getaktete verflüssigt sich, die strengen Grenzen eines genormten Daseins lösen sich auf.

Urbanismus von unten

Möglichkeiten, der Gentrifizierung entgegenzutreten

Wie schätzen Sie die Möglichkeiten ein, der Gentrifizierung entgegenzutreten?
Hanno Rauterberg: Es haben sich ja viele gewitzte, manchmal auch dadaeske Formen entwickelt, um dem Aufwertungswahn in Städten wie München, Berlin oder Hamburg etwas entgegenzusetzen. Es gib sogenannte Wohnungsbesichtigungsrallyes, bei denen die Demonstranten gut gelaunt, luftschlangenwerfend und nackt immer dann auftauchen, wenn Makler ihre (nicht selten überteuerten) Objekte an den Kunden bringen wollen. Andere versuchen das eigene Quartier möglichst marode erscheinen zu lassen, indem sie überfüllte Wäscheständer auf den Balkon stellen, zerschlagene Fensterscheiben simulieren oder Zettel an Laternenpfähle kleben, auf denen vor wachsender Gewalt gewarnt oder über angeblich auf dem Kinderspielplatz gefundenes Spritzbesteck informiert wird.
Anleitungen für solche Angstkampagnen werden als "Abwertungskit" im Internet verbreitet. Daraus spricht aber, so wie aus den anderen Aktionen auch, vor allem Verunsicherung; auf politischem Wege und schon gar nicht auf dem Wege des pragmatischen Handelns im öffentlichen Raum scheint für diese Stadtbewohner eine Lösung des Mietproblems unmöglich. Und in manchen Fällen mag es auch so sein, dass sich mit Interventionen etwas in der öffentlichen Wahrnehmung wandelt und mehr Menschen verstehen, dass eine Wohnung eben keine Ware wie jede andere ist. Am Ende bleibt Gentrifizierung aber aus meiner Sicht ein Problem, das nicht auf der Straße, sondern in den Parlamenten gelöst werden muss, mit einer anderen Wohnungsbaupolitik.
Wie kann sich die Stadtbevölkerung gegen Privatisierung wehren? Hat es hier einen Sinn, seine Hoffnungen auf die politischen Parteien zu setzen, die bislang allesamt diesen Tendenzen hilflos bis wohlwollend gegenüberstanden?
Hanno Rauterberg: Es gibt eine um sich greifenden Privatisierung des öffentlichen Raums, das stimmt. Und in manchen Fällen, wie etwa bei den Business Improvement Districts, werden genuin öffentliche Aufgaben an Unternehmer delegiert. Doch gibt es auch eine Gegenbewegung, eine wachsende Lust vieler Bürger am Offenen und Öffentlichen. Die freien, unbestimmten Räume der Stadt gewinnen eine andere, gewichtige Bedeutung. Mein Buch erzählt von diesem Urbanismus von unten, der die Stadt wiedererweckt. Es schildert, wie sich viele Bürger den öffentlichen Raum auf mannigfache Weise aneignen und wie sie ihn verändern. In Zeiten des Hyperindividualismus wird er zu einem Raum geteilter Erfahrungen, zu einem Forum, in dem sich die kollektiven Interessen bündeln und ein neues Gewicht erlangen.
Bei vielen Menschen wächst die Bereitschaft, sich auf ungewohnte Spielformen des Öffentlichen einzulassen. Manche begeistern sich für Flash- und Smartmobs, andere verlegen sich auf das Guerilla-Knitting, wieder andere statten den öffentlichen Raum mit selbst gebauten Bänken und Stühlen aus, eine Unternehmung, die in den USA unter dem Namen Chair-Bombing bekannt ist. Eine stille Anarchie scheint viele Menschen zu erfassen, vor allem die jüngeren:
Sie begreifen noch die hässlichsten Parkhäuser als Übungsplätze für athletische Kunststücke (Parkouring), verwandeln betonierte Straßenränder in kleine Blumenbeete (Guerilla-Gardening), machen aus Stromkästen Kunstwerke (Street-Art) oder erklären verwaiste Stadtplätze zur neuen Partyzone (Outdoor-Clubbing). Und wiederum ist das Internet, sind Facebook und Twitter oft Katalysatoren. Ähnlich wie die Gesellschaft sich pluralisiert hat, bilden auch die Straßen und Plätze höchst diverse Formen und Funktionen von Gemeinschaft aus. Und wohl gerade deshalb zieht es viele Menschen in die Stadt: Sie erweist sich als Möglichkeitsraum, offen für widerstreitende Interessen.
Welche Rolle kommt der städtischen Bevölkerung in Zukunft beim Prozess der politischen Willensbildung zu?
Hanno Rauterberg: Vermutlich ist es noch ein wenig früh, um das wirklich sagen zu können. Ob die Stadt der Digitalmoderne tatsächlich einen Strukturwandel durchläuft, der auch die diskursive, argumentierende und also politisch handelnde Öffentlichkeit wiederbelebt, das muss man abwarten. Heute träumt ja kaum noch jemand von dem alten Idealbild einer Gesellschaft, in der alle mit allen permanent im Gespräch sind, um sich über ihre Werte und Regeln in offener Aushandlung zu verständigen.
Längst hat man sich daran gewöhnt, dass es die eine Öffentlichkeit so wenig gibt wie den einen Raum. Es gibt eine Marktplatz- und eine Sportplatzöffentlichkeit, eine Fernseh- und eine Facebook-Öffentlichkeit, und ebenso formen die neuen urbanen Bewegungen eine eigene, temporäre Ausprägung kollektiven Seins. Darin mögen manche einmal mehr die segmentierte, konfettibunt zerstobene Gesellschaft erblicken, die keinen Begriff mehr von sich selber hat. Gleichwohl fällt auf, dass zumindest einige dieser Bewegungen gerade deshalb in die Stadt drängen, weil sie dort Räume für ihre geteilten, kollektiven Interessen finden. Und sie bilden Gemeinschaften, die frei sind von den üblichen Gewinnabsichten. Nicht um Konsum, nicht um materielle Vorteile geht es ihnen, sondern um ideelle Werte.
Mal teilen sie eine politische Überzeugung, mal die Freude am gemeinsamen Gärtnern und Spielen, mal fühlen sie sich durch ein öffentliches Essen, den Augenblick geteilten Genusses, verbunden oder durch die kollektive Erfahrung der künstlerisch-kreativen Gestaltung einer Straßenkreuzung. Es sind auch dieses keine starken Formen von Öffentlichkeit, hier geht es anders als in Parlamentsausschüssen nicht um komplexe Entscheidungsfindung, nicht um Argument und Gegenargument. Doch immerhin ist das gesellschaftliche Wir, das in den meisten urbanen Bewegungen zusammenfindet, nicht auf Ab- und Ausgrenzung bedacht. Es schließt nicht aus, es schließt auf. Und das ist gerade im "Age of Access" (Jeremy Rifkin), in dem Zugang und Zugriff wichtiger werden als Besitz, nicht gering zu schätzen.
Es unterscheidet dieses urbane Wir von den kommerziellen Sonderzonen des Öffentlichen, von den Lounges und Spaß und Erlebnisparks, die den Zutritt nicht selten an Wohlstand, Besitz oder Status koppeln. Ob Flashmob, Geocaching oder Urban Gaming - immer sind es einladende, gestaltungsoffene Öffentlichkeiten, jeder ist willkommen, der sich auf die kollektiven Regeln einlassen oder sie in der Auseinandersetzung mit anderen verändern mag.
In welche Metropolen sehen Sie bereits die urbanen Lebensideale in wahrnehmbaren Ansätzen vorhanden?
Hanno Rauterberg: Nicht nur in den Metropolen, auch in kleinen Städten gibt es diese Ansätze, den eigenen Lebensraum neu wahrzunehmen und für sich selbst und andere zu reklamieren. Selbst in einer Kleinstadt wie Andernach, wo nun auf den städtischen Beeten keine Eisbegonien mehr wachsen, sondern Tomaten und Johannisbeeren - und jeder darf ernten.
Vor allem in den USA ist der Do-It-Yourself-Urbanismus oder "DIY Urbanism" schon weit verbreitet. Und man hofft, dass durch kleine Interventionen langfristige Verbesserungen möglich werden. So wie der Guerilla-Zebrastreifen in Baltimore, Maryland, der von den städtischen Behörden rasch wieder entfernt wurde - und doch dazu führte, dass öffentlich so lange über das Für und Wider diskutiert wurde, bis schließlich ein offizieller Fußgängerüberweg entstand.

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3364717

Links in diesem Artikel:
[1] http://deu.archinform.net/arch/6516.htm
[2] http://www.suhrkamp.de/autoren/hanno_rauterberg_12597.html
[3] http://www.michaelmpannwitz.de/index.php?id=6