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Dominatrix von Wien

Über zeremoniöse Prügel und persönliche Annehmlichkeiten

In Österreich stehen traurige Gedenktage an. Vor 75 Jahren wurde der Parlamentarismus beerdigt. Vor 70 Jahren fand der „Anschluss“ an Nazi-Deutschland statt. Damit auf seltsame Weise verknüpft ist der „Wiener Sadistenprozess“, der 1924 für eine Sensation sorgte und heute vergessen ist. Eine Rekonstruktion.

Sex sells: Herr Hitler gegen Frau Cadvé

Nehmen wir an, wir lebten im März des Jahres 1924, und wir würden eine der großen deutschen Tageszeitungen aufschlagen. Was würden wir da finden? Sehr beliebt waren Berichte über Kriminalfälle. Im November 1923 hatte ein an Talentlosigkeit leidender Kunstmaler versucht, in Bayern die Macht zu übernehmen. Inspiriert von Mussolinis „Marsch auf Rom“, war er mit seinen Anhängern zur Münchner Feldherrnhalle marschiert. Dieser äußerst dilettantisch organisierte und bei Schneeregen zur Aufführung gebrachte Versuch eines Staatsstreiches war kläglich gescheitert; Musikfreunde erinnerten sich später mit Schaudern an den missmutigen Vortrag der eigens engagierten Blaskapelle, die an der bestellten Marschmusik ihren Ärger darüber ausließ, dass kein kostenloses Frühstück verteilt worden war. Ende Februar 1924 machte man dem erfolglosen Putschisten den Prozess. Bei dieser Farce von einem Gerichtsverfahren wurde Adolf Hitler ausführlich Gelegenheit gegeben, seine Ideologie unters Volk zu bringen. Vor vollbesetzten Rängen erhielt er lauten Beifall für seine aggressive Rhetorik, mit der er die Ankläger in die Defensive zwang.

Ida Edith Kadivec. Bild: © Archiv Farin

Man kann deshalb auch immer lesen, dass dieser Prozess wegen Hochverrats eine viel größere propagandistische Wirkung entfaltete als der Marsch zur Feldherrnhalle. Aus heutiger Sicht ist klar, dass es sich dabei um eines der wichtigsten Ereignisse des Jahres 1924 handelte. Damals allerdings musste Hitler in den Massenblättern mit einem anderen Sensationsprozess konkurrieren, der sich in der Stadt abspielte, in der er früher einmal, als verkrachte Existenz, sein Dasein im Männerwohnheim gefristet hatte. Durch dieses Verfahren wurden die Berichte über den Hochverratsprozess in das untere Drittel der Zeitungsseiten abgedrängt. Wirklich erotisiert war der Boulevard nicht durch Adolf Hitler, sondern durch den „Wiener Sadistenprozess“. In Österreich war der Fall ohnehin Tagesgespräch, und in Deutschland nicht viel weniger. Die Hauptangeklagte, Ida Edith Kadivec, sprach dabei alle Schichten an. Von den rechten Massenblättern wurde sie verdammt und zur Hexe erklärt; in der fortschrittlich-intellektuellen Welt sah man die Dinge differenzierter, es fanden sich sogar einige Fürsprecher, und jedenfalls sorgte Frau Kadivec auch dort für erregte Diskussionen.

Symbolischer hätte dieses Medienereignis rund um sexuelle Perversionen, Scheinheiligkeit, eine altväterische Gesetzgebung und die Schattenseiten der „guten“ Gesellschaft kaum beginnen können. Am 24. Dezember 1923 – dem Tag also, an dem die Christen die Geburt eines unter Umgehung des Geschlechtsakts gezeugten Kindes feiern – zeigte die 12-jährige Gretl Pilz eine Sprachlehrerin namens Edith Cadvé (manchmal auch Cadwe) beim Wiener Jugendgericht wegen Misshandlung an. Gretl, die Tochter einer Zugehfrau, stand unter der Vormundschaft der Lehrerin, wurde von dieser (wie die Dame später beteuerte) als Haushaltshilfe ausgebildet und war wieder einmal weggelaufen. Am 3. Januar wurde das Mädchen amtsärztlich untersucht. Dabei stellte der Arzt einen Bluterguss am Gesäß fest, der immer noch gut sichtbar war (mindestens 13 Tage, nachdem er dem Kind zugefügt worden war). Im Protokoll ist auch vermerkt, dass die Verletzung keine Gesundheitsstörung zur Folge gehabt habe, dass Gretl gut genährt und gut gepflegt sei. Das war wichtig für die rechtliche Einordnung.

Sadismus mit und ohne Lust: Das Züchtigungsrecht

Österreich war seit fünf Jahren eine Republik, aber die meisten Gesetze des Kaiserreichs hatten weiterhin Bestand. Mit der Vormundschaft war auch das „Züchtigungsrecht“ auf Frau Cadvé übergegangen. Erziehungsberechtigte konnten zwar nicht gerade prügeln, wann und wie sie wollten, aber doch beinahe. Kindesmisshandlungen wurden strafrechtlich nur verfolgt, wenn es sich um schwere Körperverletzung handelte oder das Kind gestorben war – und offenbar auch dann nicht unbedingt. 1917 hatte sich das Justizministerium durch das Bekanntwerden mehrerer Fälle von schwerer, zum Teil tödlich verlaufener Kindesmisshandlung genötigt gesehen, die Staatsanwaltschaften anzuweisen, diesem Problemkreis „ihr besonderes Augenmerk zuzuwenden“. In einem Erlass vom 25.5.1917 wird u.a. darauf hingewiesen, dass die Kinder mit Ruten oder der flachen Hand, nicht aber mit schweren Gegenständen geschlagen werden dürfen und dies nur wegen eines „unsittlichen, ungehorsamen oder die häusliche Ordnung und Ruhe störenden Verhaltens“; die Züchtigung, heißt es weiter, dürfe nur animo corrigendi, also in erzieherischer Absicht und nicht etwa bloß aus Haß oder Feindschaft gegen das Kind“ geschehen, und übrigens nur dann, wenn das Kind dem Säuglingsalter entwachsen sei.

Wenn man das liest, kann einem schlecht werden. Leopold Altmann bemerkt in seiner 1923 erschienenen Einführung in das österreichische Strafrecht, dass es zuviel des Guten sei, wenn nach einer Prügelstrafe offene Wunden oder große Blutergüsse auftreten, und er zeigt sich besorgt darüber, dass das Gesetz sich dazu ausschweige, was zu geschehen habe, „wenn die Züchtigung den Tod des Kindes zur Folge hat“. Andererseits ist der Herr Landesgerichtspräsident überzeugt von der „heilsamen Wirkung einer körperlichen Züchtigung zu rechter Zeit … denn unter Umständen kann hier ein ‚Zuwenig’ mehr schaden als ein ‚Zuviel’“.

Der bei Gretl nach zwei Wochen festgestellte Bluterguss war etwa 2 Zentimeter lang. Wahrscheinlich wäre also weiter nichts passiert, wenn das Mädchen nicht auch noch das Bestrafungsritual der Frau Cadvé geschildert hätte: die Lehrerin setzte sich dafür auf einen Sessel, schob ihre Röcke nach oben, legte Gretl mit entblößtem Po oder auch ganz nackt über ihre Knie und schlug mit einer Lederpeitsche zu. Gezüchtigt wurde dann, wenn Herren anwesend waren, die Geld bezahlten, um zuschauen zu dürfen. Man solle sich hüten, schreibt Altmann in seiner Einführung, „in der Erregung zu prügeln“. An diese Art der Erregung hatte der Gerichtspräsident dabei aber wohl nicht gedacht. Später stellte sich heraus, dass die Herren beim Zuschauen masturbierten. Nach erfolgter Züchtigung nahm Frau Cadvé in einem Fauteuil Platz. Einer der Herren durfte sich zum Cunnilingus zwischen ihre Beine knien.

Kinder zu verprügeln war in Ordnung, wenn es aus erzieherischen Gründen geschah und sie keine bleibenden körperlichen Schäden davontrugen (die seelischen waren nicht so wichtig). Eltern und sonstigen Erziehern gestand die Gesellschaft das Züchtigungsrecht ausdrücklich zu, und im Zweifel entschied man zugunsten der Schläger. Wenn die Täter aber dabei Lust empfanden, war das verboten. Das wurde der Frau Cadvé zum Verhängnis. Dem Jugendgericht war sie bereits bekannt. Ein paar Jahre zuvor war sie wegen der Misshandlung eines Knaben angeklagt worden. Damals war sie in zweiter Instanz freigesprochen worden, und das Gesetz hatte ihr dabei geholfen. Es ist nur nicht ganz klar, wodurch sie die erzieherische Absicht nachweisen konnte. Entweder hatte der pubertierende Knabe beim Mathematikunterricht falsch addiert, oder die Lehrerin hatte ihn beim Masturbieren erwischt (ein zeitgenössischer Kommentator erwähnt ein „Selbstbefleckerhöserl“, das als Beweis präsentiert worden sei).

Die kriminelle Karriere der Frau Kadivec

Frau Cadvé hatte auch schon Ärger wegen Urkundenfälschung und Manipulationen am Meldezettel gehabt. Sie gab sich gern als Tochter eines Engländers und einer Französin aus sowie als verwitwete Baronin (den Baron hatte es gegeben, aber sie konnte keine Heiratsurkunde vorweisen). Tatsächlich war ihr Vater Bahnbeamter gewesen, und sie war 1879 im slowenischen Teil von Istrien zur Welt gekommen. In Wirklichkeit hieß sie Kadivec (sprich: Kadiwets). In ihren autobiographischen Schriften behauptet sie, dass es richtig „Cadivec“ heißen müsse und dass der Name auf bretonische Vorfahren zurückgehe, weshalb er Kadivek ausgesprochen werde. Das hat sie wohl erfunden.

Von 1894 bis 1898 besuchte Edith Kadivec in Graz die Lehrerbildungsanstalt der Ursulinen. Danach war sie ein Jahr lang als Privatlehrerin in einer Wiener Familie tätig, um anschließend im Lycée de filles von Nôtre Dame zu arbeiten. Neben ihren Aufgaben an dieser katholischen Mädchenschule – es gab da Peitschen und ein „Bestrafungszimmer“ - fand sie (nach eigenen Angaben) noch Zeit, Philosophie-Vorlesungen an der Universität von Paris zu hören. In Wien ließ sie sich wegen eines Nervenleidens behandeln. Dabei lernte sie den masochistisch veranlagten Grafen Franz Schlick kennen, mit dem sie einen Sommer im Forsthaus seines Landguts verbrachte. Danach war sie schwanger. Das uneheliche Kind, Edith, wurde 1910 in Brüssel geboren. Nach einem Aufenthalt in Paris kehrte Edith Kadivec mit ihrer Tochter Ende 1915 nach Wien zurück. Dort ging sie als irgendwie französische „Baronin“ durch, weil sie gebildet war und ein als „vornehm“ (= herrisch) empfundenes Wesen hatte.

In der Inneren Stadt von Wien (Biberstraße 9) mietete Frau Cadvé mit Hilfe reicher Gönner eine große Atelierwohnung. Dort eröffnete sie am 1. Februar 1916 eine „Privatschule für moderne Sprachen“. Auch in Wien spürte man inzwischen die wirtschaftlichen Folgen des Ersten Weltkriegs. Schlechter hätten die Zeiten für eine solche Schulgründung kaum sein können. Trotzdem erfreute sich das Etablissement bald eines regen Zulaufs. Die Baronin unterrichtete nicht nur Kinder. Bei ihr gingen auch viele zahlungskräftige Herren (und mindestens eine Dame) der Wiener Gesellschaft ein und aus. In den Tageszeitungen erschienen regelmäßig Inserate der Frau Cadvé, die als „strenge Sprachlehrerin“ Kurse anbot. Das war ein Code, den die Masochisten von Wien bestens verstanden. Einige Sadisten waren wohl auch dabei.

Masturbierende Masochisten: Wiener Therapieangebote

Es ist nicht immer leicht, den Masochismus vom Sadismus zu trennen (identifiziert sich jemand, der gern beim Prügeln zusieht, mit dem Täter oder mit dem Opfer?). Das stellte auch Sigmund Freud fest, der zur selben Zeit versuchte, das Problem analytisch in den Griff zu kriegen. „Die Phantasievorstellung: ‚ein Kind wird geschlagen’, notiert Freud am Anfang seiner wichtigsten Schrift zum Masochismus „Ein Kind wird geschlagen“, erstmals im Sommer 1919 erschienen, „wird mit überraschender Häufigkeit von Personen eingestanden, die wegen einer Hysterie oder einer Zwangsneurose die analytische Behandlung aufgesucht haben. … Auf der Höhe der vorgestellten Situation setzt sich fast regelmäßig eine onanistische Befriedigung (an den Genitalien also) durch …“. Freud geht davon aus, dass das, was er in seiner Praxis erlebt, nur die Spitze des Eisbergs ist, dass sich nur wenige wegen ihrer Phantasievorstellung in ärztliche Behandlung begeben: „Es ist recht wahrscheinlich, daß sie noch öfter bei anderen vorkommt, die nicht durch manifeste Erkrankung zu diesem Entschluß genötigt worden sind.“ Eine andere Form der „Therapie“ bot Madame de Cadvé an. Ihre Herangehensweise, bei der die Phantasievorstellungen in die Tat umgesetzt wurden, zog offenbar deutlich mehr Klienten an als jene des Dr. Freud.

Es sei daran erinnert, dass der erotische Flagellantismus einmal – als Mittel gegen Impotenz und zur Steigerung des sexuellen Begehrens - in hohem Ansehen gestanden hat. Man kann das nachlesen in den Schriften von Ärzten wie Johann Heinrich Meibom (Die Nützlichkeit der Geißelhiebe in den Vergnügungen der Ehe, 1639) oder François Amédée Doppet (Das Geißeln und seine Einwirkung auf den Geschlechtstrieb, oder das äußerliche Aphrodisiacum, 1788). Durch die von der Kirche ausgesprochene Verdammung des Körpers verkam diese einst lustbetonte Beigabe des Liebesaktes zur Strafaktion. Je mehr man aber glaubte, das Triebleben durch ein ausgeklügeltes System von Schlägen niederkämpfen zu können, desto weniger wollte man die Schläge missen. So brach sich der Trieb, nun pervertiert, wieder Bahn. Die Flagellation ersetzte die nicht erlaubte Sexualität (siehe dazu die von Michael Farin herausgegebene Textsammlung Lust am Schmerz, München 1991, in der auch die Schriften von Meibom und Doppet enthalten sind).

Gegen die Vergnügungen im Salon der Edith Kadivec wäre nichts zu sagen, wenn es sich dabei um eine tabuisierte Variante der Sexualität gehandelt hätte, die von Erwachsenen in gegenseitigem Einverständnis praktiziert wird. Aber die Baronin hatte sich auf das „Züchtigen“ von Kindern spezialisiert. Es war sogar noch schlimmer: Der Großteil der Schülerinnen und Schüler stammte aus armen Familien. Die Kadivec und ihre Gönner konnten sich so als Wohltäter gerieren und wählten doch nur Opfer aus, von denen sie (zurecht) glaubten, dass sie sich an ihnen am leichtesten vergehen konnten. Und ihr Mündel Gretl Pilz hatte sie mit Hilfe eines Augenarztes namens Bachstez (alias Stieglitz) für geistig zurückgeblieben erklären lassen. Dadurch konnte sie das Mädchen zuhause „unterrichten“, statt sie auf eine öffentliche Schule zu schicken.

Razzia im Sprachinstitut

Am 3. Januar 1924 durchsuchte die Polizei die „Sprachschule“ in der Biberstraße. Dabei wurde eine Sammlung mit Schlagutensilien und anderen sexuellen Hilfsmitteln gefunden (darunter eine Lederpeitsche mit Silbergriff, in den das Wort „Dominatrix“ eingraviert war). Vor einigen Jahren übrigens hat sich Graz, damals „europäische Kulturhauptstadt“, dazu durchgerungen, Leopold von Sacher-Masoch (er hat in Graz studiert, gelehrt und lange Zeit gewohnt) mit einer großen Ausstellung zu ehren: „Phantom der Lust“. Dadurch wurde anerkannt, dass der nach dem Autor der Venus im Pelz benannte Masochismus ein Teil unserer Kultur ist. In einer Vitrine waren allerlei sexuelle (und inzwischen reichlich verschrumpelte) Hilfsmittel zu sehen, die sich einmal im Besitz der Edith Kadivec befunden haben. Diese Dame wurde immerhin in Graz zur Lehrerin ausgebildet (der Fall ist, wie gesagt, voller Symbolik). Aber das nur nebenbei.

Die Polizei entdeckte außerdem ein Tagebuch; Briefe mit sadistischen und/oder masochistischen Inhalten; und ein Kassenbuch, in dem die Kadivec ihre Einnahmen verzeichnet hatte. Man konnte nun eine Kundenliste erstellen. Die Klienten waren honorige Persönlichkeiten der Wiener Gesellschaft: der Sohn eines ehemaligen Finanzministers, ein ehemaliger Staatssekretär, ein Großgrundbesitzer, ein populärer Burgschauspieler, einige Industrielle oder deren Söhne, ein Universitätsprofessor usw.

Jeder von uns hat wahrscheinlich irgendwann gesagt bekommen, dass es sich bei der Sexualität um etwas Schmutziges handelt. Nicht alle erholen sich von den Folgen solcher Fehlinformationen. Vielleicht führt das zu jener Badezimmererotik (die Reinigung ist da schon mit dabei), die, so scheint es, in den 1920ern besonders beliebt gewesen ist. Als Hitler wegen Hochverrats vor Gericht stand, waren viele Zuschauerinnen von seinem mannhaften Auftreten so beeindruckt, dass sie sich ihm gern unterwerfen wollten. Einige baten, ihm dadurch huldigen zu dürfen, dass sie in seiner Badewanne ein Bad nahmen (das berühmte Photo mit Lee Miller, die sich nach dem Einmarsch der US-Truppen in München zum Einseifen in die Hitlersche Badewanne setzte, wirkt da wie ein Exorzismus).

Lee Miller in Hitlers Badewanne, 30. April 1945

Auch Edith Kadivec war eine Anhängerin der Badewannenerotik. Allerdings brauchte sie für ihre Reinigungsspiele ein Kind. Sie badete mit ihrer inzwischen 13-jährigen Tochter, die nach intensiver (und bestimmt wenig feinfühliger) Befragung zugab, dass es dabei zu Küssen im Intimbereich gekommen sei. Im Polizeibericht heißt es außerdem: „In den Wohnräumen der Lehrerin Kadivec sind die Wände mit Bildern geschmückt, welche die Mutter mit einem nackten Mädchen – angeblich ihre Tochter – in den verschiedensten Stellungen, wo bei dem Kinde immer der Geschlechtsteil zu sehen ist, darstellen!“ In diesem Ambiente also trafen sich die Honoratioren von Wien. Von der Justiz wurden sie später als im Grunde harmlose Masochisten eingestuft, weshalb sie alle sehr glimpflich davonkamen.

„Sexuell nicht normal“

„Ich bin (masochistisch) sadistisch veranlagt …“, steht in einem von „Edith Cadve“ unterzeichneten Vernehmungsprotokoll; „ich fühle sexuell nicht normal.“ Nur: Welcher Vergehen sollte man sie anklagen? Bereits die Voruntersuchung löste einen regelrechten Pressekrieg aus. Von der totalen Vorverurteilung bis zur Verteidigung einer „neuen sexuellen Freiheit“ war alles zu finden. Populisten reagierten so, wie wir das aus unseren Tagen kennen: sie lokalisierten das Böse irgendwo im Ausland. Dafür plädierte auch die Polizei. In ihrem Bericht hieß es: „Die … Ausschreitungen sadistischer Art können mit Recht als eine aus dem Westen eingeschleppte Seuche bezeichnet werden, die in letzter Konsequenz zum Lustmord führen muß, sowie als Degenerationserscheinungen einer durch die Nachkriegszeit zusammengebrochenen Moral.“

Der „Westen“ – das war der Kriegsgegner Frankreich, gegen den man dummerweise verloren hatte. Nun war Madame Cadvé keine Französin, vielmehr machte man ihr zum Vorwurf, dass sie sich als solche ausgegeben hatte, aber wenigstens hatte sie mal in Paris gelebt und Französischunterricht gegeben. Sie war auch keine – sagen wir – Türkin, aber doch immerhin in einem Ort in Istrien zur Welt gekommen, der nicht mehr zu Österreich gehörte. Die Behörden hätten sie liebend gern dorthin abgeschoben, mussten aber zugeben, dass sie eindeutig die österreichische Staatsbürgerschaft besaß. Die Angeklagte gehörte zur selben Denkschule. Gretl Pilz, die wichtigste Belastungszeugin, stammte aus Böhmen. Madame Cadvé trat dafür ein, sie dorthin zurückzubringen und die ganze Sache dadurch aus der Welt zu schaffen.

Der „Sadistenprozess“ im Wiener Landesgericht begann damit, dass die Öffentlichkeit noch vor der Verlesung der Anklageschrift ausgeschlossen wurde. Umso erregter wurde in den Zeitungen darüber spekuliert, was im „Prügeltheater in der Biberstraße“ genau geschehen sei. Die dadurch angestoßene Phantasietätigkeit der Publizisten sagt mehr über den Zeitgeist als so manche wissenschaftliche Studie. Der Darstellung der Frau Cadvé nach (so nannte sie sich weiterhin) war nichts passiert, was über das gesetzlich garantierte Züchtigungsrecht hinausging: sie habe die Kinder nur bestraft, wenn sie ihre Vokabeln nicht richtig gelernt hatten; die dabei zuschauenden (und jetzt gegen sie aussagenden) Herren seien bezahlte Agenten einer vom Vater ihres Kindes gegen sie angezettelten Verschwörung. Der Richter brachte sie jedoch zu der Aussage, dass sie „nur dann erotisch empfinden könne, wenn Kinder in ihrer Gegenwart bestraft würden“. Als nicht strafmildernd bewertete das Gericht ihre Versicherung, dass sie immer erst im Anschluss an die Züchtigung zum Orgasmus gelangt sei und nie im Beisein der Zöglinge.

Das Rechtssystem

Am 1. März 1924 wurde das Urteil verkündet. Edith Kadivec erhielt sechs Jahre schweren Kerker. Zwei der Mitangeklagten kamen mit geringen Bewährungsstrafen davon, alle anderen wurden freigesprochen. Über einen Freispruch durfte sich auch die Hilfslehrerin der Kadivec freuen. Sie hatte die Kinder ebenfalls gepeitscht, aber man konnte ihr nicht nachweisen, dass sie dabei Lust empfunden hatte. In der Berufungsverhandlung wurde die Strafe für ihre ehemalige Arbeitgeberin auf fünf Jahre reduziert. Am 18. Dezember 1927 kam Edith Cadivec in den Genuss einer Weihnachtsamnestie des österreichischen Bundespräsidenten und wurde auf freien Fuß gesetzt.

Ein patriarchalisch geprägtes Rechtssystem hatte mit dem Fall Kadivec seine liebe Not. Außer wegen Schändung und Verführung zur Unzucht in mehreren Fällen wurde sie auch wegen „Unzucht wider die Natur“ angeklagt. Dieser dritte Anklagepunkt betraf die Beziehung zu ihrer Tochter. Mit „wider die Natur“ war nicht die Kinderschändung gemeint, sondern die Homosexualität. Männern ist es offenbar immer sehr schwer gefallen, Frauen in ihre Vorstellungswelt mit einzubeziehen, die andere Frauen lieben und an ihnen, den Männern, kein sexuelles Interesse haben. Deshalb stand zwar theoretisch die Homosexualität beider Geschlechter unter Strafe; angeklagt und verurteilt jedoch wurden in der Regel nur schwule Männer. Lesbische Frauen waren weitgehend vor Strafverfolgung geschützt, weil es den (männlichen) Juristen sehr schwer fiel, ihre Beziehung als eine sexuelle zu denken.

Bild: © Archiv Farin

Wenn Edith Kadivec ein Mann gewesen wäre, der mit seiner 13-jährigen Tochter „gebadet“ hat, hätte die Staatsanwaltschaft genau gewusst, was zu tun ist. Hier jedoch musste man nicht nur mit beunruhigenden Gedanken zum Lesbentum rechnen, sondern sogar mit einer Erörterung der nicht nur spirituellen Aspekte der Mutterliebe; Mutter Kadivec hatte dazu ihre ganz eigenen Ideen, die sie wortreich vertreten konnte. Am Ende wurde sie bezüglich des Anklagepunktes „Unzucht wider die Natur“ freigesprochen. Aus den Akten geht hervor, dass die Geschworenen über diesen Punkt gar nicht berieten. Daraus lässt sich schließen, dass es der Staatsanwalt für besser hielt, diesen Teil der Anklage in der Hauptverhandlung zurückzuziehen.

In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass die Amtsärzte nur bei einem der „gezüchtigten“ Kinder ein seelisches Leiden feststellten. Das war ein Junge mit Depressionen. Bei den Mädchen, ist anzunehmen, sahen die Herren von der Behörde lieber nicht so genau hin, denn das hätte wieder in Bereiche geführt, die man umschiffen wollte. Gretl Pilz klagte über starke Bauchschmerzen; psychische Ursachen scheinen nicht in Betracht gezogen worden zu sein. Über die Tochter der Kadivec kann man lesen, dass sie dauernd „kränkelte“. In den Augen des Gesetzes war sie Opfer und zugleich Täterin. Auch sie war in Gefahr, wegen „Unzucht wider die Natur“ (das gemeinsame „Baden“) angeklagt zu werden. Bisher hatte das 13-jährige Mädchen ein Gymnasium besucht. Nach der Verhaftung ihrer Mutter wurde sie in eine Erziehungsanstalt eingewiesen; dort erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Eine höhere Schulbildung erhielt sie nicht mehr.

Sadisten unter sich

„Frau Kadivec“, schrieb Alfred Polgar nach der Urteilsverkündung, „hat wenig Anspruch auf Sympathie. Als Lehrerin gab sie den Kindern, zur Legitimierung der nachfolgenden Prügel, unlösbare Aufgaben: eine moralische Folter, die noch viel grausamer scheint als die körperlichen Mißhandlungen. … Es ist also in Ordnung, daß man die Frau, trotz der pathologischen Grundlagen ihrer Handlungen, einsperrt. Schließlich, sie hatte, zur Befriedigung ihrer Lust, geschlagen: zur Befriedigung unserer Lust (Übeltätern Übles zu tun) schlagen wir jetzt sie.“ Polgar war nicht der einzige Kommentator, der fand, dass neben der Kadivec ein sadistisches Straf- und Erziehungssystem auf der Anklagebank hätte sitzen müssen. Hier Robert Müller in Das Tagebuch (Berlin):

Es gibt keine Erziehung der Welt, die von vornherein, wenigstens unter sogenannten zivilisierten Nationen, stärker auf die Polarität des Sadi-Masochismus [sic] gestellt wäre als die deutsche. Hier klagt das Gesetz nicht an, es unterstützt. Es unterstützte auch die Kadivec. … In ihrem letzten großen Falle gelang es ihr nur darum nicht, einen Monstre-Pädagogenpreis zu erzielen und zur Generalissima aller deutscharischen Jugendbrutanstalten zu avancieren, weil sie auf neugierige Aushorcherei den Untersuchungsrichtern verriet, daß sie bei der Verabreichung ihrer zeremoniösen Prügel persönliche Annehmlichkeiten empfunden habe.

Zurück bleibt das ungute Gefühl, dass Edith Kadivec zurecht verurteilt wurde, aber aus den falschen Gründen; dass das Wesen der Täterin im Mittelpunkt des Verfahrens stand und nicht das Leid der Opfer. Der Fall ist auch ein Beispiel für die damals praktizierte Geschlechter- und Klassenjustiz. Adelstitel waren nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs abgeschafft worden. Es ist daher kurios, wie sehr es der Kadivec von den Behörden verübelt wurde, dass sie als Baronin auftrat, ohne die entsprechenden Belege beibringen zu können. Die anderen Beschuldigten waren Staatsschauspieler, Angehörige der medizinischen Fakultät und des Beamtenadels oder Industrielle. Sie boten Ärzte und gesellschaftlich hoch angesehene Leumundszeugen auf und wurden gar nicht erst verfolgt, freigesprochen oder mit milden Strafen belegt. In den offiziellen Akten werden die Entlastungszeugen mit all ihren Adelstiteln aufgeführt, die es offiziell nicht mehr gab (es war sogar strafbar, sie weiterhin zu führen).

Angeklagt war auch eine erwachsene „Sprachschülerin“. Diese Frau war verheiratet, stand also unter der sozialen Kontrolle eines Mannes. Sie wurde freigesprochen. Edith Kadivec war eine vorbestrafte Hochstaplerin, galt als Prostituierte, hatte ein uneheliches Kind und wahrscheinlich lesbische Beziehungen zu anderen Frauen. Das alles summierte sich auf die sechs Jahre schweren Kerkers.

Der „Perversionszölibat“

Edith Kadivec war strikt gegen die Abtreibung und den Koitus mit einem männlichen Partner, wenn er nicht der Fortpflanzung diente. Allerdings hatte das weniger mit der katholischen Sexualmoral als vielmehr damit zu tun, dass sie das männliche Glied ebenso eklig fand wie den heterosexuellen Beischlaf in Missionarsstellung. Sie bevorzugte den Cunnilingus, am liebsten mit Frauen (aber auch mit masochistischen Männern, ihren „Mägden“). Bevölkerungspolitisch gesehen waren solche Sexualpraktiken höchst bedenklich. Robert Müller findet in seinem Artikel über den „Sadistenprozess in Wien“ (1924) Gesetze am Werk, die dem Bürger einen „Perversionszölibat“ auferlegen und darauf abzielen, die „Vollzähligkeit des Rekrutenkontingents“ zu garantieren: „Jede Perversion gefährdete nach alter Auffassung die Bevölkerungsziffer. … Die billige Arbeitskraft hängt von der Kopfzahl ab. Viele Arbeiter sind billige Arbeiter (und Beamte). Wenige Arbeiter sind teure Arbeiter.“

Hitler, der das „Rekrutenkontingent“ auf andere Weise dezimierte, nützte die ihm auferlegte Festungshaft zur Arbeit an Mein Kampf. Edith Kadivec wurde nach St. Pölten verfrachtet (das ist da, wo es vor einigen Jahren einen Skandal wegen homosexueller – und potentiell auch pädophiler – Umtriebe im Priesterseminar gab). Der Kerker war weniger komfortabel als die Festung in Landsberg. Wenigstens kam sie irgendwie an Tinte und Papier. 1926 erschien ihr Buch Edith Kadivec: Mein Schicksal – Bekenntnisse von Edith Cadwé. Sie schildert ihre frühkindlichen Erfahrungen (man merkt dem an, dass sie Freud gelesen hat), die Lehrerausbildung in katholischen Einrichtungen, Vergewaltigung in der Ehe, ihre Karriere als „Erzieherin“ und „Sprachlehrerin“ (in den Buch wird überall lustvoll geprügelt, und man fragt sich, wie sehr sie übertreiben musste, um die eigene Berufsausübung „normal“ erscheinen zu lassen). Darin enthalten sind lange Zitate aus dem Urteil der ersten Instanz. Das ist deshalb bedeutsam, weil die im Wiener Stadt- und Landesarchiv verwahrten Akten nicht mehr vollständig sind: es fehlen die Anklageschrift, das Protokoll der Hauptverhandlung, die Urteile der ersten und zweiten Instanz sowie ein psychiatrisches Gutachten über Edith Kadivec (man hätte doch gern gewusst, warum sie als voll schuldfähig im Kerker landete, einige ihrer Kunden aber freikamen, weil ihnen Wiener Nervenärzte eine Krankheit attestierten).

Bei der Abfassung der 196 Seiten starken Schrift wurde Edith Kadivec vom Wiener Journalisten Josef Kalmer unterstützt. Sein Nachlass befindet sich in der Nationalbibliothek in Wien. Ein paar Kisten sind mit einem Sperrvermerk versehen; sie dürfen erst irgendwann im nächsten Jahrzehnt geöffnet werden. Vielleicht wird man dann mehr über den Kriminalfall erfahren und eventuell auch darüber, was vertuscht wurde. Gegen einige der Herren, denen die Baronin Cadvé „Sprachunterricht“ erteilte, wurde gar nicht erst ermittelt.

Mein Schicksal wurde später mit dem Titel Unter der Peitsche der Leidenschaft neu aufgelegt. Daraus wurden dann die Bekenntnisse und Erlebnisse der Edith Cadivec (Madame Cadvé hatte sich inzwischen ihrer bretonischen Vorfahren erinnert). Die Bekenntnisse enthalten weniger Zitate aus juristischen Schriftsätzen, dafür aber eine offenere Darstellung der sexuellen Aktivitäten der Verfasserin. Sie wurden zu einem Kultbuch der Sado-Maso-Szene. Damit soll nicht gesagt werden, dass alle Sadisten und Masochisten pädophil sind. Geschildert wird auch der Sex zwischen Erwachsenen (allerdings nicht in der bürgerlich-patriarchalisch präferierten Variante), und zwar in einer Offenheit, wie sie bis dahin bei einer Autorin kaum zu finden war.

Eros – die Ausrottung der Welt

Die erotische Literatur war lange Zeit eine Domäne der Männer – auch und ganz besonders, wenn es um die Beschreibung (und Bändigung) der weiblichen Lust ging (nebenbei: auch über Schwangerschaft und Geburt schrieben jahrhundertelang nur die Männer). Den Zeugungsakt à la Kadivec (von jetzt an Cadivec) hat man so vermutlich noch nie gelesen. „Ich wollte nicht den ‚Mann’, ich wollte die Mutterschaft“, bekennt sie. Der Sexualforscher Erich Wulffen wirkt betroffen, wenn er in Irrwege des Eros (1929) berichtet: „Der Zeugungsakt, den Frau Cadivec eingehend beschreibt und der dann zur Geburt der Tochter führte, kann beinahe eine künstliche Befruchtung genannt werden, der Erzeuger war dabei gefesselt und angeschnallt.“ Julius Epstein, ebenfalls Sexologe, nahm wie Wulffen Kontakt zu Edith Kadivec auf und war schockiert. Den Lesern der Zeitschrift Jahrbuch für Triebforschung (in Berlin Anfang 1933 erstmals erschienen) teilte er im dramatischen Präsens mit: „Sie will von ihm ein Kind. Nur zu diesem Zweck ist sie bereit, einen Coitus auszuführen, den sie sonst verabscheut. … Sie konzipiert. … Sie verlässt ihn.“ Aus dem Aufsatz wird nicht ganz klar, was schlimmer ist: Der Inzest mit der Tochter oder diese Reduzierung des Kindsvaters, überhaupt aller Kindsväter, auf das unbedingt Erforderliche. Epstein: „So fordert diese Frau in ihrem Gefühlsleben eigentlich die Ausrottung der Welt zugunsten der Befriedigung ihres Triebes …“ So oder so ähnlich sahen das vermutlich auch die Behörden (das Jahrbuch für Triebforschung wurde trotzdem gleich verboten).

Knapp hundert Seiten der Bekenntnisse sind einem Briefwechsel zwischen Edith Cadivec und einem masochistischen Akademiker aus Berlin gewidmet. Man erhält interessante, mitunter auch befremdliche Einblicke in das Wesen einer sadomasochistischen Beziehung. Gelegentlich wird dieses Doku-Drama der etwas anderen Art unfreiwillig komisch – etwa dort, wo „Uge“ beschreibt, wie er sich, nach Erhalt eines neuen Briefes der „Dominatrix“ in höchste Erregung geraten, in eine Telefonzelle flüchtet, um dort seiner Herrin zu „opfern“ (Freud hat bei seinen masochistischen Patienten eine Zwang zur Selbstbefriedigung festgestellt). Am Ende kommt auch der Sadomasochismus nicht gegen die Banalitäten des Alltags an. Uge soll eine wissenschaftliche Tagung schwänzen, traut sich aber nicht, aus Angst um die Karriere. Er sei eben doch nur ein Beamter, schreibt die Dominatrix. Dann ist der Zauber dahin.

Ein Buch für die Wissenschaft

Die Bekenntnisse erschienen im Juli 1931 bei einem deutschen Verlag, der lieber seinen Namen nicht nennen wollte. „Dieses Buch“, heißt es in einem Vermerk, „wurde als Privatdruck in einer nur für Bibliotheken und Wissenschaftler bestimmten Subskriptions-Ausgabe hergestellt.“ Wer es haben wollte, musste 28 Mark dafür bezahlen. Die Vorzugsausgabe (100 nummerierte, von der Verfasserin signierte Exemplare) war in Ganzleder gebunden und kostete 50 Mark. Von der Zensur wurde es als „unbrauchbar zu machen“ eingestuft, aber das war so geheim, dass sogar die Zensurentscheidung geheim bleiben musste.

Darf man das Buch also lesen, wenn man kein Wissenschaftler oder Bibliothekar ist? Warum eigentlich nicht? Die Ausführungen der Edith Cadivec zum Weltmuttertum, zur auch geschlechtlichen und dennoch „reinen“ Liebe zwischen Mutter und Kind sowie zur allseits segensreichen Wirkung der „Züchtigung“ können nichts daran ändern, dass in ihrer „Schule für moderne Sprachen“ Kinder vor sich daran aufgeilenden Erwachsenen geschlagen wurden und dass sie ihre Tochter zum Inzest zwang. Mitunter sind ihre Bekenntnisse schwer erträglich. Aber authentisch sind sie auch, als Krankheitsgeschichte. Wer also nicht nur allgemein gegen das Quälen und Missbrauchen von Kindern ist, sondern glaubt, dass man Informationen über das einholen sollte, was man bekämpfen will, wird hier viel Wissenswertes über Denkweisen, Rechtfertigungsstrategien und fehlendes Unrechtsbewusstsein finden – und darüber, warum die Kadivec acht Jahre lang relativ unbehindert in einem vornehmen Viertel von Wien ihr Etablissement betreiben konnte.

Wird man nun selbst zum Kinderschänder, oder gewöhnt man sich zumindest an den Gedanken und fängt so an, den Kindesmissbrauch zu tolerieren, wenn man das Buch liest? Das ist die gängige Argumentation der Zensoren, die Cadivec’ Bekenntnisse immer wieder verboten bzw. indiziert haben. Mit meiner Leseerfahrung hat das nichts zu tun. Das Buch ist überraschend aktuell, auch abseits von Schmuddelsex, Kinderpornographie im Internet und grausigen Entdeckungen in einem Kinderheim auf der Insel Jersey. Edith Cadivec redet viel von Ordnung, Disziplin und einer Kindererziehung, zu der die Strenge mit dazugehört. Bedrückend groß ist die Schnittmenge mit den Büchern pensionierter Pädagogen, in denen vorgestrige Erziehungsideale propagiert werden und die sich heute so gut verkaufen, dass sie auf der Bestsellerliste landen. Und wie groß ist eigentlich die Distanz zur Supernanny, mit der ein Fernsehsender viel Geld verdient, weil das Publikum gern (womöglich voller Lust?) dabei zuschaut, wie Kinder vor laufender Kamera „erzogen“ werden? All das geschieht natürlich nur, mit den Worten des Herrn Landesgerichtspräsidenten von Wien, animo corrigendi.

Von der Domina zur Querulantin: der Diktator geht, der Beamte bleibt

Freud stellt in den „Schlagephantasien“ seiner Patienten Elemente fest, die er auch im „paranoischen Querulantentum“ findet. Die weitere Karriere der Edith Cadivec scheint ihm recht zu geben (was wäre eigentlich aus Hitler geworden, wenn er es nicht zum Reichskanzler und, dank der Verkaufserfolge von Mein Kampf, zum Millionär gebracht hätte?). 1927 änderte sie mit amtlicher Billigung ihren Nachnamen. Als Edith Christally (bzw. Kristally) ging sie der Justiz mit unzähligen Eingaben auf die Nerven. Sie stellte insgesamt zehn Anträge auf Wiederaufnahme des Verfahrens von 1924, legte Einspruch gegen die jeweiligen Ablehnungen des Antrags ein, erhob Beschwerde gegen die neuerlichen Ablehnungen. Es gab Petitionen und Entschädigungsklagen, Klagen gegen den Vormund ihrer Tochter, Klagen, mit denen sie der Tochter eine Rente sichern wollte sowie Klagen, mit denen sie den Kontakt zur Tochter wiederherstellen wollte. Letztere wurden unter Verweis auf den Inzest abgewiesen, obwohl sie in diesem Anklagepunkt freigesprochen worden war. Soll man das nun erleichtert zur Kenntnis nehmen oder doch den offensichtlichen Rechtsbruch bedauern?

Einem Antrag vom April 1935 ist ein Dollfuß-Zitat vorangestellt (Engelbert Dollfuß war der Kanzler, der im März 1933 der parlamentarischen Regierungsform in Österreich ein Ende machte). Edith Christally begründet den Antrag damit, dass sie, die „österreichische arische Mutter“, dem „Aufruf der autoritären Regierung an die Staatsbürger“ folge, „am Neuaufbau unseres Staates mitzuwirken, um insbesondere einen integeren Beamtenkörper im Staate zu erhalten“. 1937 (sechster Wiederaufnahmeantrag) sah sie sich als ein Opfer der jüdischen Weltverschwörung: „Ich war in der Untersuchungshaft dieser giftgeschwollenen Ehrabschneidungs- und Verleumdungswut durch die rote Judenpresse hilflos ausgeliefert …“ In Wiederaufnahmeantrag Nummer 7 (1938) ist von „jüdischen Machinationen“ die Rede, von einem „Lügenfeldzug der Juden-Weltpresse“ und von einer „jüdisch durchsetzten Polizei“. So etwas konnte man auch in Mein Kampf lesen, dessen Autor Österreich ein halbes Jahr zuvor unter großem Jubel „heim ins Reich“ geholt hatte. Im September 1938 wertete die Justiz die neuerliche Antragstellung als „Ausfluss der geistigen Erkrankung“ von Edith Christally. Für das Mutterkreuz gab es sicher qualifiziertere Bewerberinnen als sie. Es entbehrt jedoch nicht einer gewissen Ironie, dass die Behörden des Staates, der dabei war, den schlimmsten Völkermord der Geschichte zu begehen (und sich stets auf die Effizienz seines Beamtenapparats verlassen konnte), Edith Cadivec für verrückt erklärten, weil sie sich als Opfer der „jüdischen Weltverschwörung“ sah – jenes Phantasiekonstrukts, mit dem die Nazis ihre Verbrechen rechtfertigten. Im Mai 1940 wurde Edith Christally per Gerichtsbeschluss für beschränkt entmündigt erklärt.

1949 war man auch in Österreich dazu übergegangen, die führenden Nazis zur irgendwie verrückten und jedenfalls perversen Verbrecherbande zu machen, weil sie dann mit einem selbst möglichst wenig zu tun hatten. Edith Christally/Kadivec stellte im April 1949 den zehnten Wiederaufnahmeantrag. Das Gericht wies ihn ab und kam erneut zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen für eine beschränkte Entmündigung gegeben seien. Die Jahre 1951 und 1952 verbrachte sie in der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof (Wien), die nach 1945 ganz auf personelle Kontinuität setzte. Der letzte ihrer dokumentierten Anträge datiert vom Frühjahr 1953. Darin forderte sie eine Haftentschädigung. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt.

Die Zensur und ihre Folgen

Was bleibt, sind ihre Bücher. Die Bekenntnisse haben einen aufklärerischen Aspekt, weil sie Auskunft geben über die Zeit und über die Gesellschaft, in der sie entstanden sind – und eben auch ein wenig über die unsere. Und ob es einem gefällt oder nicht: Sie haben ihren Platz in der Geschichte der erotischen Literatur. Aber eine Krankengeschichte sind sie auch. Es kann also nicht schaden, wenn man weiß, wessen Buch man da liest und wenn man von anderen als nur von Edith Cadivec selbst etwas über die Zusammenhänge erfährt. Eben das haben diejenigen, die ihre Aufgabe darin sehen, uns vor Schmutz und Schund zu schützen, verhindert.

Die Zensur hat die Bekenntnisse und den Folgeband, Eros – der Sinn meines Lebens, nicht aus der Welt geschafft (und den Kindesmissbrauch noch viel weniger), sondern in die Schmuddelecke abgedrängt, ihnen die Aura des Verbotenen verliehen und sie somit auf die falsche Art „interessant“ gemacht, also von vornherein für die am wenigsten wünschenswerte Art der Rezeption gesorgt. Viele der zahlreichen Neuauflagen sind zunächst gar nicht als solche zu erkennen. Sie sind „versteckt“ erschienen: ohne Angaben zu Verlag, Jahr und Ort, ohne Verfasser oder mit wechselnden Autorennamen („E.J.K. Adivec“, „Eleonore Caminsky“), auszugsweise in Erotik-Anthologien und mit neuen Titeln (Eros – der Sinn meines Lebens gibt es u.a. als Bizarre Lüste und als Liebe und Hiebe im Mädchenpensionat). Verhindert wurde also nicht, dass die Bücher gedruckt und gelesen, sondern nur, dass sie sorgfältig und dem Gegenstand angemessen ediert wurden.

Der erste Band der autobiographischen Schriften ist jetzt endlich in einer Ausgabe erschienen, die nicht auf Skandalisierung und Sensationalismus setzt und ein umfangreiches Dossier zum Kriminalfall und zur Autorin enthält (mit Texten von 1924 bis 2007): Edith Cadivec, Bekenntnisse und Erlebnisse. München: belleville Verlag, 2008. Bleibt zu hoffen, dass diese Ausgabe für den dringend erforderlichen Perspektivwechsel sorgen wird.


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