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Drachen-Propaganda: Wacht Deutschland 2023 auf?

David Goeßmann

US-amerikanisches Propagandaplakat, das 1917 während des Ersten Weltkriegs entstand. Bild: Harry Ryle Hopps / Gemeinfrei

Themen des Tages: Wie die USA Russlands rote Linien missachteten, warum der russische Staatskonzern Rosatom nicht sanktioniert werden soll und was passiert, wenn Medien Putin zum "Drachen" machen, der "fressen muss".

Liebe Leserinnen und Leser,

1. Die USA wussten, dass man Russlands rote Linien bei Nato-Expansion überschritt.

2. Die EU-Kommission gibt Pläne für Sanktionen gegen russischen Nuklearsektor auf.

3. Und auf Seite 2 lesen Sie: Warum das aktuelle Spiegel-Cover, in dem Putin zum alles-fressenden Drachen transformiert wird, an die toxische Kriegspropaganda des Ersten Weltkriegs erinnert.

Doch der Reihe nach.

Was diplomatische Depeschen zutage fördern

Denjenigen, die auf die Nato-Osterweiterung verweisen, um die Entstehung des Ukraine-Kriegs in einen größeren Zusammenhang zu stellen, wird entgegengehalten, dass damit Putins Informationskrieg bedient werde. Dem gegenüber wird von Kommentatoren in den USA von Russlands "messianischer Mission" gesprochen, "das russische Imperium wiederherzustellen".

Der US-Journalist Branco Marcetic hat nun eine akribische Recherche vorgelegt [1], in der er die diplomatische Kommunikation der Vereinigten Staaten und zahlreiche Äußerungen von Analysten und US-Beratern der letzten zwanzig Jahre auswertet. Sein Fazit auf Telepolis wirft ein Licht auf die westliche Mitverantwortung an der Eskalation des Konflikts:

Eine Überprüfung der Aufzeichnungen und Dutzende von diplomatischen Depeschen, die über WikiLeaks öffentlich zugänglich gemacht wurden, zeigen jedoch, dass US-Beamte sich dessen bewusst waren oder ihnen über Jahre hinweg direkt gesagt wurde, dass die Erweiterung der Nato von russischen Beamten weit über Putin hinaus als große Bedrohung und Provokation angesehen wurde und dass die Ausweitung der Nato auf die Ukraine für Moskau die äußerste rote Linie darstellt. Dieser Schritt würde die Hardliner und nationalistischen Teile des russischen politischen Spektrums aufputschen und stärken. Das könnte schließlich zu einem Krieg führen.

Energieversorgung First

Seit der russischen Invasion in die Ukraine findet ein Überbietungswettbewerb bei Sanktionen statt, angetrieben von den USA und der EU. Doch beim zivilen Nuklearsektor scheint der Ehrgeiz zu erlahmen, wie Telepolis-Autor Bernd Müller berichtet [2]. Jedenfalls, was die EU angeht. Denn im neuen Sanktionspaket wird der russische Staatskonzern Rosatom vermutlich nicht enthalten sein. Die Verflechtungen zwischen Rosatom und der Energiewirtschaft der EU-Länder waren wohl entscheidend, insbesondere, was Frankreich angeht.

Zur Wahrheit gehört: Ohne Rosatom können viele Atomkraftwerke in der EU nicht weiterbetrieben werden. Ein Fünftel des benötigten Urans importieren die EU-Länder im Jahr 2020 aus Russland, 19 Prozent kamen aus Kasachstan. Rosatom kontrolliert neben den Uranminen in Russland auch fast ein Viertel der kasachischen Uranproduktion.

Wenn dauerhaft nicht mehr dauerhaft ist

15 Prozent der Landfläche auf der Nordhalbkugel ist permanent gefroren. Eine gigantische Tiefkühltruhe. Und sie hat eine wichtige Funktion. Dort sind riesige Mengen des aggressiven Treibhausgases Methan gespeichert. Tauen die Böden auf, wird das am Ende zu einer sich selbst verstärkenden Erderhitzung führen, wie Telepolis-Autor Nick Reimer feststellt [3].

Allein im oberen Bereich der Permafrostböden stecken bis zu 1.600 Milliarden Tonnen Kohlenstoff – fast doppelt so viel, wie sich derzeit in der Erdatmosphäre befindet. Wird er freigesetzt, heizt er das Klima weiter an. Ein sich selbst verstärkender Effekt: Mehr getauter Permafrost bedeutet mehr Treibhausgase in der Atmosphäre, was zu höheren Temperaturen führt, die wiederum mehr Permafrost auftauen.

Von Hunnen und anderen Kriegsbestien

Die in dieser Woche erschienene Ausgabe des Spiegel-Magazins markiert eine ganz eigene Zeitenwende. Auf dem Cover [4] ist das traurig blickende Gesicht vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj abgebildet, aus der Schwärze des Kriegs düster hervortretend. Darunter das Zitat. "Putin ist ein Drache, der fressen muss".

Es erinnert an die Hunnen-Kampagne vor mehr als hundert Jahren. Als US-Präsident Woodrow Wilson in den Ersten Weltkrieg eintreten wollte, wusste er, wie wichtig es ist, die öffentliche Meinung zu gewinnen [5]. Die große Mehrheit der US-Amerikaner war gegen den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten. Wilson selbst hatte im Wahlkampf noch versprochen, dass mit ihm als Präsidenten keine US-Soldaten nach Europa verschifft werden.

Diese Haltung änderte sich nach dem Amtsantritt. Nun musste man nur noch die Bevölkerung vom Sinn des Kriegseintritts überzeugen. Die US-Regierung gründete dafür die sogenannte Creel Commission [6]: der Beginn des modernen Informations- und Propagandastaats.

Die Kommission entwickelte fortan fremdenfeindliche Anti-Deutschen-Kampagnen, die von den Medien übernommen wurden. Angelehnt an die britische Propaganda wurden Märchen über Deutsche verbreitet, die man als blutrünstige "Hunnen" diffamierte, die angeblich in Belgien Kindern die Arme und Beine ausreißen würden [7].

Damit, so der Historiker John Maxwell Hamilton [8], wurde "Propaganda durch alle Kapillare des amerikanischen Blutkreislaufs geschossen". Die Ansichten der US-Bevölkerung konnte durch die Meinungsmache gedreht werden. US-Soldaten zogen schließlich in den europäischen Krieg.

Man trug auch Sorge dafür, dass die Kriegsstimmung nicht nachließ. Nur ein Beispiel. So bekamen die US-Bürger:innen damals ein Plakat zu sehen [9], worauf ein Monster-Gorilla mit aufgerissenem Maul abgebildet ist, Pickelhaube auf dem Schädel, mit einer blutverschmierten Keule in der Rechten, auf der "KULTUR" in großen Lettern prangte, während das Ungetüm in der linken Pranke ein blondgelocktes Mädchen mit freiem Busen als Beute umklammert, das sich die Hände vor die Augen hält.

Während das Monster eine Kriegslandschaft hinter sich lässt, steht es an einem Küstenstreifen mit der Aufschrift: AMERICA. Oben prangt die Überschrift "DESTROY THIS MAD BRUTE", "Zerstör diese wildgewordene Bestie". Darunter "ENLIST", also ein Aufruf, sich für den Kriegsdienst einzuschreiben.

Heute ist es ein Drache, der fressen muss. Die Propaganda ist feiner, nicht so grobschlächtig wie früher, aber gerade deswegen umso effektiver.

Ach ja, auch damals wurden diejenigen, die sich gegen die Kriegsbeteiligung aussprachen, attackiert. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Eugene Debs in den USA und Bertrand Russell in England wurden ins Gefängnis geworfen [10]. Währenddessen unterzeichnete die deutsche Geisteselite einen nationalistischen Kriegsaufruf.

Sie proklamierte Richtung Westen:

Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle.

Das militaristische "Manifest der 93" [11] wurde von namhaften Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern unterzeichnet, darunter Max Liebermann, Max Planck, Max Reinhardt, Wilhelm Röntgen, Peter Behrens, Wilhelm von Bode oder Gerhart Hauptmann. Keine einzige Frau findet sich darunter.

Heute bezeichnen deutsche Medien Unterzeichner:innen des von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierten "Manifest des Friedens" als Komplizen des Aggressors, Verschwörungstheoretiker:innen, amoralisch und als "Pech-und Schwefel"-Querfrontler:innen. Sie hätten schlicht, wie die Taz sich ausdrückt [12], "nicht mehr alles beisammen".

Sicherlich, der Erste Weltkrieg ist etwas anderes als der Ukraine-Krieg. Jeder historische Vergleich hinkt. Aber wie Jürgen Habermas zu Recht sagt [13], taumeln wir schlafwandlerisch in den Dritten hinein. Die aktuelle Drachen-Propaganda des größten europäischen Nachrichtenmagazins im "Powerhouse der EU" sollte alle Alarmglocken läuten lassen.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7518946

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.telepolis.de/features/USA-wussten-dass-man-Russlands-rote-Linien-bei-Nato-Expansion-ueberschritt-7518151.html
[2] https://www.telepolis.de/features/EU-Kommission-gibt-Plaene-fuer-Sanktionen-gegen-russischen-Nuklearsektor-auf-7518363.html
[3] https://www.telepolis.de/features/Auftauender-Permafrost-Wenn-Haeuser-bersten-und-Milzbrand-ausbricht-7518521.html
[4] https://www.spiegel.de/spiegel/print/index-2023-7.html
[5] https://responsiblestatecraft.org/2023/02/10/feeling-manipulated-how-uncle-sam-perfected-the-information-state/
[6] https://www.history.com/news/world-war-1-propaganda-woodrow-wilson-fake-news
[7] https://chomsky.info/mediacontrol01/
[8] https://books.google.de/books?id=Q-PcDwAAQBAJ&pg=PA6&lpg=PA6&dq=,+%22shot+propaganda+through+every+capillary+in+the+American+bloodstream.%22&source=bl&ots=gl1CaKsXd8&sig=ACfU3U1HCEHnv8KtMHBjM-eU3RRNzeEZbw&hl=en&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q=%2C%20%22shot%20propaganda%20through%20every%20capillary%20in%20the%20American%20bloodstream.%22&f=false
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Destroy_This_Mad_Brute_%E2%80%93_Enlist
[10] http://mguntur.id/files/ebook/ebook_1605608628_87366785ac316222f0ce.pdf
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_93
[12] https://taz.de/Aufruf-von-Wagenknecht-und-Schwarzer/!5912492/
[13] https://www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-habermas-plaediert-fuer-schnelle-verhandlungen-mit-putin-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-230214-99-597948