Dreifache Kernschmelze
IAEA-Experten verlassen Block 4 des Tepco-Kernkraftwerks Fukushima Daiichi am 17. April 2013. Bild: Greg Webb/IAEA, CC BY-SA 2.0
Vor zehn Jahren havarierten in Japan gleich drei Reaktoren. Die Regierung versucht seitdem zu verharmlosen. Aber die Folgen sind noch lange nicht ausgestanden
Eine kleine Präfektur an der Küste von Honshu, Japans größter Hauptinsel, nordwestlich der Landeshauptstadt Tokio: Fukushima. Im Ausland hatte bis zum 11. März 2011 kaum jemand diesen Namen gehört. Doch an diesem Tag sollte sich das ändern.
Um 14:46 Uhr Ortszeit, in Mitteleuropa war es früher Morgen, bebte etwa 67 Kilometer vor der Küste der Meeresboden. Mit neun bis 9,1 auf der Erdbebenskala – die Angaben variieren etwas – waren es die stärksten je in Japan registrierten Erschütterungen.
Und das soll etwas heißen. Das Land besteht aus einem Archipel, das seine Existenz der Plattentektonik verdankt. Unter ihm taucht eine große Platte des pazifischen Meeresbodens unter den asiatischen Kontinent ab.
Ein Teil des Gesteins erhitzt sich dabei und steigt als Magma an die Erdoberfläche. Dort verursacht es zahlreiche explosive Vulkanausbrüche, die einen Inselbogen schufen: das Land der aufgehenden Sonne.
Natürlich geht es nicht reibungslos ab, wenn sich die viele Kilometer dicken Gesteinsplatten gegeneinander verschieben. Es hakt, klemmt und ruckelt. Geht es eine Zeitlang an einer Stelle nicht weiter, so bauen sich schnell Spannungen auf, die sich schließlich in Erdbeben entladen.
Das können viele kleine und gelegentlich auch schwere Beben wie Mitte Februar sein. Ganz selten, alle paar Jahrhunderte oder noch seltener, gibt es auch besonders extreme Ereignisse wie das Tohoku-Beben, das am 11. März 2011 eine gewaltige Katastrophe auslöste.
Der Tsunami
Japan war bis zu diesem Tag ein Land voller Atomkraftwerke und auch in der Präfektur Fukushima stehen gleich mehrere. Schon die Erschütterungen des Erdbebens haben in den sechs Reaktorblöcken des AKW Fukushima Daiichi schwere Schäden angerichtet, wie spätere Untersuchungen ergaben. Schäden, die es eigentlich nicht hätte geben dürfen, denn die geophysikalischen Verhältnisse Japans sind kein Geheimnis. Die Anlagen hätten also für ein derartiges Ereignis ausgelegt sein müssen.
Nach dem Beben brach die Hölle los. Die sprunghafte Verschiebung des Meeresbodens löste eine Flutwelle, eine "Haffenwelle" aus. Tsunami nennt man das in Japan. Ein Begriff der inzwischen auch ins Deutsche Eingang gefunden hat.
Auf einer Länge von 180 Kilometern hatte sich der Meeresboden um sechs bis acht Meter verschoben. Der dadurch ausgelöste Tsunami traf bei einer Geschwindigkeit von bis zu 700 Kilometern pro Stunde nur wenige Minuten nach dem Beben auf die Küste.
Dort türmte er sich bis zu 40,5 Meter hoch auf, überspülte die zum Teil vorhandenen Tsunami-Schutzwände und drang bis zu zehn Kilometer weit ins Landesinnere vor.
Auf seinem Weg dorthin wurden ganze Städte dem Erdbeben gleich gemacht. Ein Tsunami ist nämlich keine gewöhnliche Flutwelle, wie sie bei Sturmfluten vorkommt, sondern hat ein Vielfaches der Energie. Das wird auch daran deutlich, dass der Tohoku-Tsunami den gesamten Pazifik von Nordwest nach Südost überquerte und auch in Chile noch zwei Meter hoch war.
Doch während auf der anderen Seite des Pazifiks sich die Schäden in Grenzen hielten, sah es an der japanischen Küste um Fukushima ganz anders aus.
Mehr als 450.000 Menschen wurden obdachlos, mehr als 15.000 starben. Ein Bericht der japanischen Polizei spricht von 15.899 Toten und 2.526 Vermissten. 28 Personen wurden selbst noch in Tokio und der diesem benachbarten Präfektur Chiba durch das Beben getötet.
Fukushima Daiichi
Die um die Welt gehenden Bilder waren dramatisch, doch was sich in der Folge im AKW Daiichi abspielte, ließ viele den Atem anhalten. Drei der sechs Reaktoren liefen zur Zeit des Bebens und schalteten sich wie vorgesehen automatisch ab, als das Erdbeben registriert wurde.
Abschalten bedeutet bei einem AKW zunächst, dass die Kettenreaktion unterbrochen und die Stromproduktion eingestellt wird. Von zentraler Bedeutung ist aber, dass die Kühlung des Reaktordruckbehälters weiter funktioniert, denn die radioaktiven Zerfallsprozesse hören nicht sofort auf. Die Spaltprodukte des Urans erzeugen hohe Mengen sogenannter Nachwärme, die abgeführt werden muss. Dafür gibt es verschiedene Kühlsysteme, die einander notfalls ersetzen können, wenn eines ausfällt.
Angetrieben werden die Pumpen der Kühlung entweder mit dem Eigenstrom des Kraftwerks, solange dies im Betrieb ist, oder durch Strom aus dem Netz.Doch beides fiel in Fukushima aus. Strom wurde wegen der automatischen Abschaltung nicht mehr selbst erzeugt und die Verbindungen zum Netz waren durch Erdbeben und Tsunami zerstört.
Für diesen Fall hatte das AKW Fukushima Daiichi wie die meisten anderen auch mit Diesel betriebene Notstromaggregate, doch diese wurden durch das eindringende Wasser außer Gefecht gesetzt.
Das vor dem Bau eigens abgetragene Kraftwerksgelände befindet sich rund zehn Meter über dem Meeresspiegel aber der Tsunami hatte an dieser Stelle noch eine Höhe von 13 bis 14 Metern. Genug also, um die Reaktorgebäude zu fluten.
Eine Zeitlang liefen noch einige Pumpen, die mit einem Rest von im Kraftwerk erzeugten Dampf betrieben werden konnten. Außerdem wurde versucht, Notstromaggregate zum Kraftwerk zu bringen.
Doch die Dampfpumpen schliefen langsam ein und auf den Straßen war kaum durchzukommen. Als schließlich rund sechs Stunden nach dem Tsunami die ersten Generatoren eintrafen, gelang es wegen des Wassers nicht, die Pumpen an die Stromversorgung anzuschließen. Hätte man die kritische Infrastruktur in der Halle höher angebracht, statt auf den nun überfluteten Boden zu stellen, wäre was nun geschah vermutlich noch zu verhindern gewesen.
Kernschmelze
Wenn die Kühlung eines Reaktordruckbehälters ausfällt, erhitzt sich das in ihm befindlich Wasser immer weiter, verdampft und wird schließlich aufgrund des gewaltigen Drucks in seine Bestandteile Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt.
Das ist das Knallgas, das jeder aus dem schulischen Chemieunterricht kennt. Doch was im Experiment des Lehrers harmlos verpufft, kann bei den in einem Reaktor entstehenden Mengen gewaltige Kräfte entfalten.
Es kommt also nach Ausfall der Kühlung früher oder später zur sogenannten Wasserstoffexplosion, die den Druckbehälter sprengt und große Mengen des radioaktiven Materials hinausschleudert. Der zurückbleibende Reaktorkern schmilzt derweil aufgrund der großen Hitze zusammen.
Genau das ist in Fukushima schließlich geschehen. Drei Reaktordruckbehälter wurden durch Explosionen zwischen dem 12. und 15. März zerstört. Ihre Reaktorkerne schmolzen in der Folge so stark, dass vermutlich die Uran-Kettenreaktion wieder in Gang gesetzt wurde. Aufgrund der großen Hitze haben sich die geschmolzenen Kerne durch den Boden der Reaktordruckbehälter gefressen und in einem Fall eventuell auch in den darunter liegenden Beton.
Genaueres ist aber schwer zu ermitteln, da die Unglücksstellen aufgrund der starken Strahlung nicht zugänglich sind. Selbst ferngesteuerte Roboter haben mehrfach versagt. Erst 2017 konnte erstmalig ein solcher zu einem der Havaristen vordringen. Seitdem gibt es Bilder, die den geschmolzenen Kern des zweiten Reaktors unter dem Druckbehälter liegend zeigen.
Die Folgen von Fukushima
Die Umgebung des Kraftwerks wurde durch die Explosionen weiträumig verseucht. Rund 150.000 Menschen mussten evakuiert werden. Die Regierungen wies zwei Sicherheitszonen aus, eine mit 20, die andere mit 30 Kilometer Radius um das Kraftwerk.
Europäische Regierungen hatten im April 2011 ihren Bürgern allerdings empfohlen, sich den havarierten Reaktoren nicht weiter als auf 80 Kilometer zu nähern. Auch die Internationale Atomenergie Organisation hatte Empfehlungen ausgesprochen, die Zonen zu erweitern.
Zudem zeigten Messungen, dass sich die radioaktiven Partikel nicht an eine gleichmäßige Geometrie gehalten hatten. Die an den Tagen der Explosion vorherrschenden Winde sorgten für einen radioaktiven Korridor, der sich deutlich über die Sicherheitszonen hinaus nach Nordwesten erstreckt.
Die Menschen in diesen Gebieten wurden erst relativ spät gewarnt, wie sich die konservative Regierung überhaupt von Anfang an viel Mühe gab, die Folgen herunterzuspielen. Schon bald setzte zudem eine nationalistische Propaganda ein, mit der Menschen, die sich Sorgen wegen ihrer Kinder machten oder keine Nahrungsmittel aus der Region Fukushima kaufen wollten, unter Druck gesetzt wurden.
Verharmlosung
Auch die Untersuchung der Bevölkerung auf mögliche Strahlenschäden wurde sträflich vernachlässigt. Nach einem Bericht der deutschen Sektion der Internationalen Ärztinnen und Ärzte zur Verhinderung eines Atomkriegs, IPPNW, wurden die Evakuierten lediglich auf Schilddrüsenkrebs bei Kindern systematisch untersucht.
Das sei die am einfachsten festzustellende Folgeerkrankung, da diese Krebsart bei Kindern extrem selten ist und schon ein leichter Anstieg der Häufigkeit auffällt. Verursacht wird er, wie auch aus Untersuchungen nach dem Reaktorunfall 1986 im sowjetischen Tschernobyl (heute Ukraine) bekannt ist, durch radioaktives Jod.
Der IPPNW widerspricht Darstellungen der japanischen Regierung, wonach die registrierte Häufung ein Artefakt aufgrund der systematischen Untersuchungen sei. Nach Ansicht des IPPNW-Vorsitzenden Alex Rosen wurden zwanzig Mal mehr Erkrankungen bei Kindern festgestellt, als zu erwarten gewesen wären.
Der Verband widerspricht auch Darstellungen des Bundesamtes für Strahlenschutz. Dieses sowie ein UN-Komitee, dem nur Staaten mit eigenen Atomkraftwerken angehören, hatten behauptet, infolge des Reaktorunglücks seien bis heute keine Strahlenkrankheiten aufgetreten.
"Wie soll man die gesundheitlichen Folgen seriös abschätzen, wenn lediglich ein kleiner Teil der Bevölkerung der kontaminierten Gebiete auf nur eine einzige strahlenbedingte Krankheit systematisch untersucht wird?", fragt Rosen.
Die japanischen Behörden stellten von den Schilddrüsenstudien abgesehen keine weiteren Untersuchungen auf Erkrankungen an, die mit Strahlenbelastung im Zusammenhang stehen könnten. Stattdessen werde, immer wieder auf "irrationale Strahlenangst" und psychosomatischen Stress verwiesen, die die erhöhten Erkrankungsraten erklären sollen. Nicht einmal ein spezielles Krebsregister sei für die betroffene Bevölkerung angelegt worden.
Stattdessen werden die Menschen gedrängt, in ihre verlassenen Häuser zurückzukehren. Damit werde selbst Schwangeren und Kleinkindern eine Strahlendosis zugemutet, die sonst nur für AKW-Arbeiter als akzeptabel gilt.
Widerstand gegen Renaissance der Atomkraft in Japan
Auch in Japan bleibt diese Politik nicht unwidersprochen. Im Juli 2012 fand zum Beispiel in Tokio eine große Demonstration gegen die Atomkraftnutzung statt, bei der die in Japan beliebte deutsche Musikgruppe "Kraftwerk" einen bejubelten Auftritt hatte.
Vor der dreifachen Kernschmelze in Fukushima lieferten Japans Reaktoren rund 30 Prozent des Strombedarfs. Unmittelbar nach dem Beben wurden zunächst alle abgeschaltet und einer Überprüfung unterzogen. Ein Teil der Anlagen wurde in der Folge aus dem Verkehr gezogen, aber 33 Reaktorblöcke würden die Betreiber gerne wieder hochfahren.
Seit acht oder neun Jahren versucht die Regierung daher immer wieder, einzelne Anlagen in Betrieb zu nehmen. Doch stets stößt sie damit auf massiven Protest der örtlichen Bevölkerung und mitunter auch der lokalen Behörden.
Selbst ein prominenter Parteifreund der aktuellen Regierung, der ehemalige Premierminister Junichiro Koizumi, machte kürzlich Front gegen die nukleare Renaissance, wie sie der japanischen Atomindustrie vorschwebt. Das Land habe genug Möglichkeiten auf erneuerbare Energieträger zu setzen, so Koizumi, der die Tokioter Regierung von 2001 bis 2006 leitete.
Wegen dieses Widerstandes konnten bisher nur wenige AKW wieder ans Netz gehen. 2019 betrug ihr Anteil an der Stromversorgung nach Angaben der Internationalen Atomenergieagentur lediglich 7,5 Prozent.
Eine Aufgabe für Generationen
Derweil ist auf dem Gelände der Havaristen noch lange kein Ende der Aufräumarbeiten in Sicht. Arbeiten, die aus dem Staatssäckel bezahlt werden, denn Betreiber Tepco wäre ohne die wiederholten Zuwendungen aus Tokio längst pleite.
Riesige Tanks stehen zu Dutzenden auf dem Gelände herum. Ihr Inhalt: Radioaktiv verseuchtes Wasser, mit dem die geschmolzenen Kerne gekühlt werden. Die Mengen sind so groß, dass Tepco immer wieder mal laut darüber nachdenkt, ob man nicht einen Teil einfach ins Meer ablassen könne.
Die japanische Nachrichtenagentur Kyodo berichtete letzte Woche, dass Tepco irgendwann zwischen 2041 bis 2051 mit dem Aufräumen fertig sein wolle. Kritiker hielten das allerdings für unrealistisch.
Die extrem hohe Strahlungsbelastungen und Probleme mit den ferngesteuerten Robotern sprächen dagegen. Noch immer ist das Wissen über den Zustand der geschmolzenen Reaktorkerne höchst lückenhaft, und immerhin geht es darum, rund 900 Tonnen geschmolzenes Uran abzuräumen, in dessen Nähe sich kein Mensch wagen darf.
Die japanische Regierung würde unterdessen die Welt das alles gerne vergessen lassen. In diesem Jahr soll nun endlich – Corona hin oder her – die Olympischen Spiele nachgeholt werden. Der Fackellauf mit dem olympischen Feuer soll auch durch die verseuchte Region führen, vorbei an dem einen oder anderen radioaktiven Hotspot, die immer noch hin und wieder entdeckt werden.