Drinnen und Draußen

Von Max Frisch bis Jean-Paul Sartre - Wie ausländische Autoren aus Nazideutschland berichteten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wie funktionierte der Nationalsozialismus? Wie war der Alltag im Dritten Reich? Was konnte wissen, wer dabei war und Augen und Ohren offen hielt? Der Berliner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich versucht in seinem Mitte Dezember erschienenen Buch "Reisen ins Reich" auf diese gängigen Fragen unkonventionelle Antworten zu geben, indem er die Perspektive wechselt und Texte ausländischer Autoren aus jener Zeit dokumentiert. Wo Ansichten von Nazi-Gegnern, noch Unentschiedenen und NS-Sympathisanten aufeinander treffen, bleibt am Ende wirklich kaum eine Frage zum Dritten Reich unbeantwortet. Außer die, warum bisher noch niemand auf die Idee gekommen ist, eine solche Beitragssammlung zu veröffentlichen.

Die Vorstellung, eine Reise in das Dritte Reich zu unternehmen, mag heute einigermaßen abwegig erscheinen. Und vielleicht wurde aus diesem Grund die Reiseliteratur über Nazideutschland als Thema übersehen.

So beginnt Lubrichs Einführung ins Thema, die nicht nur kenntnisreich die diversen Autoren des Buches vorstellt und einordnet, sondern auch politische, kulturelle und zeitgeschichtliche Kontexte aufzuzeigen weiß. Wie gingen die Schriftsteller und Journalisten mit der Zensur um? Wie war ihre Haltung zum Nationalsozialismus vor dem Aufenthalt in Deutschland? Wie war sie danach? Zu welchen Erkenntnissen konnten sie vor Ort kommen?

Einige begriffen schon sehr früh, zu was der NS fähig sein würde. So schrieb der schwedische Dichter Gunnar Ekelöf bereits kurz nach Hitlers Wahl zum Reichskanzler über den Zivilisationsbruch:

Deutschland hat auf eine beklemmende Weise die Rolle als ‚Europas kranker Mann' übernommen. Es ist ein verfaultes, absinkendes Bürgertum, das auch vor den gröbsten Infamien nicht zurückschreckt, sobald es den Kampf um die eigenen Hosen betrifft. Stock und Rute werden wieder in ihre Rechte eingesetzt.

Die zuerst mit den Nazis sympathisierende US-Amerikanerin Martha Dodd schloss bereits 1938, dass die Verfolgung der Juden in einer planmäßigen Vernichtung enden werde.

Der amerikanische Radiokorrespondent Harry Flannery hingegen erwähnt 1941 ganz beiläufig, dass "Juden in Konzentrationslager deportiert" werden. Er, der des Deutschen kaum mächtig ist, verbreitet damit nur das Wissen, das jeder haben konnte, der nicht blind und taub war. Umso erstaunlicher, dass viele Deutsche nach 1945 von nichts gewusst haben wollen. Interessant an Flannery ist aber auch seine Beobachtung, dass im Berlin der Jahre 1940 und 1941 keine rechte Kriegsbegeisterung aufkommen will. Und das, obwohl der Wehrmacht bis dahin noch keine größeren Verluste beigebracht wurden und die Angst vor der Niederlage noch als unbegründet gelten konnte.

Die meisten Beiträge im Buch sind in der Form privater Erinnerungen oder (kultur)journalistischer Aufzeichnungen verfasst. Hinzu kommen einige Artikel namhafter Schriftsteller, die mal kürzer (Jean-Paul Sartre, Albert Camus) und mal länger (Max Frisch, Thomas Wolfe), mal affirmativer (Sven Hedin) und mal kritischer (Samuel Beckett) ausfallen.

Häufig passiert es, dass die anfängliche Sympathie für die Nazis rasch in Verachtung und Hass umschlägt. So wendet sich Jean Genet, der von Frankreichs Gefängnissen aus länger mit dem Nationalsozialismus kokettierte, nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin entsetzt von Deutschland ab. Ihm, dem Freund des Diebstahls, ist dieses "Volk von Dieben unheimlich":

Wenn ich hier stehle, tue ich nichts Besonderes, wodurch ich mich auszeichnen könnte: ich gehorche nur der allgemeinen Ordnung.

Egal ob die Autoren wie die Diplomatentochter Martha Dodd eher subjektiv-launisch oder wie die dänische Schriftstellerin Karen Blixen analytisch-ethnologisch berichten, fast immer wird deutlich, wie sehr sich das Deutschland jener Zeit von seinen Nachbarstaaten unterscheidet und wie eigenartig sich die Deutschen verhalten: "Keine individuellen Sorgen, keine Theosophie-, Esoterik- oder Erotikbücher sind mehr nötig. Man braucht nur nach den Klängen der Musik zu marschieren und 'Hoch! Hoch! Hoch!' (im Original deutsch) zu rufen, um den großen Schauder zu empfinden", schreibt der Belgier Georges Simenon bereits im Frühjahr 1933.

Auch damit wird deutlich, was Oliver Lubrich meint, wenn er am Ende seines Vorwortes schreibt: "Die Reiseberichte bieten uns zeitgenössische Wahrnehmungen des nationalsozialistischen Deutschland, von innen, und doch mit fremdem Blick; aus einer gewissen Distanz, und dennoch zeitgenössisch."

Oliver Lubrich (Hg): Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland. Eichborn, Frankfurt/M. 2004. 430 Seiten, 30 Euro.