Istanbul am Abgrund: Das 6,2-Beben als Vorbote der Katastrophe?

Christoph Jehle
Seismograph und Erdbeben.Ein Seismograph zeichnet die seismische Aktivität eines Erdbebens auf

(Bild: menur / Shutterstock.com)

Ein Beben der Stärke 6,2 erschüttert Istanbul. Forscher warnen: Die Mega-City ist einem verheerenden Erdstoß schutzlos ausgeliefert.

Vor gut zwei Jahren, am 6. Februar 2023, hatte ein Beben der Stärke 7,8 in der Türkei und im benachbarten Syrien schwere Verwüstungen angerichtet. Mehr als 53.000 Menschen kamen damals in der Türkei ums Leben. In elf südlichen und südöstlichen Provinzen wurden Hunderttausende Gebäude zerstört.

Weitere 6.000 Menschen sollen damals in den nördlichen Teilen Syriens zu Tode gekommen sein. Die Schäden von 2023 sind bis heute nicht vollständig behoben. Zu den Toten kamen noch mehr als 125.000 Verletzte.

Die Türkei ist eine seismisch höchst aktive Region, denn in der Ostanatolischen Störungszone, in welcher die anatolische und die arabische Platte aneinander stoßen, entstehen Spannungen in der Erdkruste, welche 2023 die Beben in der Südosttürkei ausgelöst haben.

Lage Istanbuls auf der Marmara-Hauptverwerfung

Im Marmarameer südlich der 16-Millionen-Metropole Istanbul befindet sich zudem die Grenze zwischen der eurasischen und der anatolischen Erdplatte, die als Marmara-Hauptverwerfung oder Main Marmara Fault (MMF) bezeichnet wird. Dieser Plattenkontakt ist schon lange nicht mehr gebrochen, sodass hier ein Erdbeben mit einer Magnitude über 7 überfällig betrachtet wurde.

Wissenschaftler haben hochsensible Messgeräte zur Erfassung kleinster Bodenerschütterungen in mehreren 300 m tiefen Bohrungen rund um das östliche Marmarameer installiert. Die Wissenschaftler erhoffen sich durch diese Bohrungen neue Einblicke, die vor, während und nach einem starken Erdbeben wirken. Zudem sollen diese Messungen helfen, Erdbebenmodelle neu zu definieren und zu kalibrieren, um eine bessere Gefahrenabschätzung für Istanbul vornehmen zu können. Auf diese Weise wollen die Forscher einen Beitrag zu einem Erdbeben-Frühwarnsystem für Istanbul leisten.

In Istanbul sollen 100.000 Gebäude stark einsturzgefährdet sein, es muss damit gerechnet werden, dass Hunderttausende bei einem Erdbeben umkommen werden, das mehr als Stärke 7 erreicht. Bislang scheinen die Maßnahmen zur Erdbebenresistenz der Städte in der Türkei nicht ausreichend zu sein.

Nach Aussagen des türkischen Städtebauministers Murat Kurum würde Istanbul einem Erdbeben nicht standhalten. Insgesamt würden 1,5 Millionen Wohnungen und Gewerbeeinheiten als erdbebengefährdet gelten. Viele Gebäude, die bei einem schweren Erdbeben einstürzen könnten, sind bisher nicht aufgerüstet worden.

Heute nur Erdbeben der Stärke 6,2

Die bekannte Kontinentalverschiebung unterhalb des Marmara-Meeres zeigte in letzter Zeit keine seismischen Aktivitäten und ist daher offensichtlich komplett verhakt. In dieser Situation baut sich seit dem letzten Starkbeben der Region im Jahr 1766 Jahr für Jahr Spannung auf, die sich in dem heutigen Erdbeben entladen hat.

Anhand vorliegender historischer Erdbebenkataloge lässt sich erschließen, dass ein derartiges Ereignis im Schnitt etwa alle 250 Jahre vorkommt. Der Erdbebenkatalog der Marmara-Region wurde in den vergangenen Jahren signifikant erweitert, sodass er nun die Jahre 2006 bis 2020 vollständig umfasst. Darin sind jetzt 13.812 Ereignisse verzeichnet.

Aufgrund der geologischen Voraussetzungen und der Berichte über historische Beben erwartet die einschlägige Wissenschaft für den nordwestlichen Teil der Region um das Marmara-Meer und Istanbul keine Erdbeben größer als 7,4. Und heute um 11:49 Uhr unserer Zeit hat sich die aufgestaute Spannung in einem Beben der Stärke 6,2 entladen. Das Epizentrum lag in der Gegend von Silivri, etwa 80 Kilometer vor den westlichen Vororten von Istanbul.

Auch wenn der Unterschied nur klein erscheinen mag, ist dies in Bezug auf die freigesetzte Energie ein großer Unterschied, denn bei den Angaben handelt es sich um ein logarithmisches Maß. Im Fall der Marmara-Region handelt es sich um ein bis zu 140 Kilometer langes Verwerfung-Segment, für welches, gemessen mithilfe von GPS-Daten eine Geschwindigkeit von etwa zwei Zentimetern pro Jahr bekannt ist, hat sich über die vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte seit 1766 eine bisher nicht entlastete Spannung von bis zu fünf Metern aufgestaut.

Das entspräche dann als Obergrenze etwa einer Erdbebenmagnitude von 7,5, falls sich eine vollständig verhakte Verschiebung auf einen Schlag entspannt. Wenn sich Teile der Verwerfungszone kriechend bewegen, die Platten also langsam aneinander vorbeigleiten, wie es offensichtlich im Marmarameer der Fall war, kann der Betrag der aufgestauten Energie etwas kleiner ausfallen und so lässt sich das Erdbeben der Stärke 6,2 von heute erklären.

Innerhalb einer Kriechzone, die meist aus klein gemahlenem Gesteinsmehl besteht, gibt es manchmal spröde Bereiche, die sich während des Plattenkriechens ineinander verhaken und dann in Form von kleineren Erdbeben wiederholt brechen.

Bis am Nachmittag waren 151 Verletzte bekannt, die sich teilweise ihre Verletzungen beim Sprung aus Gebäuden zugezogen hatten. Von Toten wurde bislang nicht berichtet. Ob die aufgebauten Spannungen vor Ort mit dem heutigen Erdbeben entlastet wurden oder ob sich mit dem heutigen Erdbeben die Bruchzone eines Erdbebens der Magnitude 5,7 am 26. September 2019 nur in Richtung Istanbul erweitert hat, ist bislang noch nicht bekannt.

Seit 1939 hatte sich eine Art Erdbebenwanderung vollzogen. Die verheerenden Erdbeben vom August 1999 bei Kocaeli mit mehr als 17.000 Toten und dann im Winter 2002 in der Provinz Afyon gelten als Vorboten. Eine Studie der Stadtverwaltung von Istanbul rechnet bei einem Beben der Magnitude 7,5 mit etwa 14.500 Toten.

Marco Bohnhoff vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam sieht aktuell zwei Szenarien. Entweder das unmittelbare Gebiet ist nun vorerst entspannt oder die durch das Beben erzeugten Spannungsumlagerungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für ein größeres Erdbeben in der Region.